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Arme kleine Anni
Arme kleine Anni
Arme kleine Anni
eBook296 Seiten4 Stunden

Arme kleine Anni

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Über dieses E-Book

Norbert traut seinen Augen kaum, als er Anni Sundheim auf dem Anwesen seiner Tante wiedersieht. Jene junge Frau von der er seit einer ersten kurzen Begegnung verzaubert war. Doch eine Liebesbeziehung der beiden scheint chancenlos. Denn Norbert ist ein angesehener Majoratsherr und Anni nur eine einfache Gesellschafterin. Damit ihr Geliebter sein privilegiertes Leben weiter fortführen kann, beschließt die junge Frau schließlich schweren Herzens Schloss Saßneck den Rücken zu kehren ...-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum16. Sept. 2022
ISBN9788726950540
Arme kleine Anni

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    Buchvorschau

    Arme kleine Anni - Hedwig Courths-Mahler

    Hedwig Courths-Mahler

    Arme kleine Anni

    Saga

    Arme kleine Anni

    Coverbild/Illustration: Shutterstock

    Copyright © 1916, 2022 SAGA Egmont

    Alle Rechte vorbehalten

    ISBN: 9788726950540

    1. E-Book-Ausgabe

    Format: EPUB 3.0

    Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

    Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

    www.sagaegmont.com

    Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

    1

    In den Anlagen vor dem Wiesbadener Kochbrunnen promenierten die Kurgäste beim Morgenkonzert. Es war ein wundervoller, klarer Maienmorgen mit Frühlingsluft, Sonnenschein und Blumenduft. Er zauberte ein frohes, hoffnungsvolles Lächeln auf alle jungen und alten Gesichter ringsum. Die Gesunden wurden sich intensiver ihrer Gesundheit bewußt, und den Kranken zog es wie eine Verheißung auf Genesung ins Herz.

    Eine Gruppe elegant gekleideter Herren, die wohl nur mit einem leichten Leiden ein wenig kokettierten, stand am Eingang der Kochbrunnenhalle. Sie schlürften mit wichtigen Gesichtern den lauwarmen Quell aus ihren mit Nummer gezeichneten Gläsern. Dabei machten sie Witze über den faden Geschmack, glossierten die Vorübergehenden und lachten so vergnügt, daß man sie unmöglich als »Leidende« bedauern konnte.

    Ein schlanker junger Mann, dem man den Offizier in Zivil ansah und der sich beim letzten Manöver ein leichtes Rheuma zugezogen hatte, das er hier mit Bädern und einer Trinkkur kurieren wollte, machte die anderen Herren eifrig auf die vorüberwandelnden weiblichen Schönheiten aufmerksam. Mit sicherem Blick fand er die elegantesten Frühlingstoiletten heraus und gab ihnen gewissermaßen durch seine Bemerkungen eine Zensur. In der Wandelhalle drängten sich die Menschen. Da der Boden in den Anlagen noch etwas feucht war, ergingen sich die Empfindlichen lieber auf dem trockenen Steinfußboden der Halle.

    Manche auffallende Persönlichkeit tauchte unter der Menge auf. Der junge Offizier schien sie alle zu kennen und erstattete Bericht. Da sich der Menschenstrom in geordneten Reihen, rechts ausweichend, bewegte, war es leicht, jeden zu bemerken und von jedem bemerkt zu werden. Jetzt beschwingte der Fledermauswalzer die Bewegungen der Promenierenden. Die Herren am Kochbrunneneingang summten die Melodie mit, und der junge Offizier schüttete verstohlen den Rest aus seinem Glas hinter die Büsche: »Fledermauswalzer und Kochbrunnenkur — brr!« sagte er, sich schüttelnd. Die anderen lachten.

    »Sekt wäre mir auch lieber«, antwortete ein anderer. Aber sie holten sich doch alle ein frisches Glas Kochbrunnen.

    Dann nahmen sie ihren Platz wieder ein. Sie standen noch nicht lange dort, als zwei Damen sich näherten.

    »Die Sonne!« flüsterte der Leutnant.

    Alle Köpfe wandten sich der jungen Dame zu, auf deren Arm sich eine leidend aussehende Frau von mehr als fünfzig Jahren stützte. Diese beiden Damen waren jeden Morgen am Kochbrunnen. Aber sie sprachen nie mit jemand, schienen niemand zu kennen und von niemand gekannt zu sein. Die junge Dame, die der Leutnant mit »Die Sonne« bezeichnet hatte, rechtfertigte diese schmeichelhafte Bezeichnung durch ihre große Schönheit und den sonnigen Gesichtsausdruck. Gewiß ahnte sie nicht, daß die Herren sich so intensiv mit ihr beschäftigten, jedenfalls achtete sie gar nicht auf sie.

    Sie war eine schlanke, anmutige Erscheinung von vielleicht zwanzig Jahren. Liebevoll beugte sie sich zu der älteren, ganz in Schwarz gekleideten Dame hinab und reichte ihr zuweilen das Trinkglas. Dabei lächelte sie so süß und herzbewegend, daß die Herren unruhig von einem Fuß auf den anderen traten. Sie trug ein schlichtes, aber elegantes Straßenkostüm von dunkelblauer Farbe, dazu einen kleidsamen Strohhut. Beide Damen machten unbedingt einen distinguierten Eindruck.

    Nach einem kurzen Spaziergang war das Trinkglas geleert. Die junge Dame gab das leere Glas in Verwahrung an der Kasse und kam dabei an der Herrengruppe vorbei. Darauf verließen die Damen langsam die Anlagen.

    »Schade!« sagte der eine der Herren seufzend.

    »Die Sonne ist untergegangen«, bemerkte der zweite.

    Der Leutnant suchte durch eine mokante Bemerkung die Heiterkeit wiederherzustellen. »Wir geben jetzt sicher ein Gemälde ab, das ich ›Nach Sonnenuntergang‹ nennen würde.«

    Ein wohlbeleibter Herr klopfte ihn auf die Schulter. »Statt schlechte Witze zu machen, lieber Dewitz, hätten Sie versuchen sollen, herauszukriegen, wer die beiden Damen sind. Sie wissen doch sonst immer alles.«

    Dewitz zuckte die Schultern. »Tut mir leid, kein Mensch weiß, wer sie sind. Man sieht sie nirgends in Gesellschaft.«

    »Na also, trösten wir uns. Die Sonne geht jeden Morgen von neuem auf, und so wird uns ein Wiedersehen beschieden sein.«

    Das Konzert war jetzt zu Ende, und nun verließen auch die Herren die Anlagen. Inzwischen waren die beiden Damen die Taunusstraße entlanggegangen, waren in die Wilhelmstraße eingebogen und schritten unter den Kolonnaden am Theater vorbei zum Kurpark.

    »Wollen wir erst ein Weilchen ruhen, liebe Mutter?« fragte die junge Dame liebevoll besorgt.

    »Nein, laß uns noch ein Stück weitergehen, Anni, ich fühle mich noch ganz kräftig. Ach, welch ein herrlicher Morgen, mein Kind! Die Sonnenwärme tut mir so gut«, erwiderte die alte Dame, ihr feines, leidendes Gesicht emporhebend.

    Anni Sundheim streichelte zärtlich die welke Hand, die auf ihrem Arm lag. »Wie froh bin ich, daß du dich heute ein wenig besser fühlst. Gehen wir auch nicht zu schnell?«

    Die alte Dame lächelte wehmütig. »Ach, meine Anni, wie schwer mag es dir sein, deine flinken Füße meinem Tempo anzupassen.«

    »Gar nicht schwer! Nichts ist mir schwer, was ich dir zuliebe tun kann.«

    Sie waren an den Fenstern des Lesesaales vorübergegangen. In einem Korbstuhl an einem der geöffneten Fenster saß eine ältere Dame und las. Unwillkürlich hatte sie den Kopf gehoben, als Mutter und Tochter langsam draußen vorübergingen. Sie hatte gestutzt, als sie in das Gesicht der Mutter blickte. Nun erhob sie sich überrascht und sah ihnen nach.

    »Das war doch Bettina — ganz gewiß, das muß Bettina gewesen sein«, sagte sie leise vor sich hin. Kurz entschlossen legte sie die Zeitung auf den Tisch und verließ den Lesesaal.

    Schnell überquerte sie den Konzertplatz vor dem Parkteich und bog in den breiten, gutgepflegten Weg ein, der rechts um den Teich in den Kurpark führt. Diesen Weg mußten die beiden Damen eingeschlagen haben.

    Bald entdeckte sie die Gesuchten, die auf einer Bank im Sonnenschein Platz genommen hatten. Ohne Zögern schritt sie auf die beiden Damen zu. Dicht neben der Bank blieb sie stehen. Noch ein prüfender Blick traf aus ihren Augen das Gesicht der alten Dame, die sich zu gleicher Zeit überrascht aufrichtete. Auch in ihren Augen blitzte ein Strahl des Erkennens.

    »Bettina! Nicht wahr, du bist es!« rief die Angekommene freudig, und zugleich streckten sich die beiden Damen die Hände entgegen.

    »Elisabeth — welch ein glücklicher Zufall! Wie freue ich mich, dich einmal wiederzusehen!« erwiderte Frau Bettina Sundheim. Elisabeth von Saßneck neigte ihr frisches Gesicht hinab und küßte Frau Sundheim herzlich auf den Mund. Obwohl sie fast im gleichen Alter waren — sie waren Pensionsfreundinnen gewesen —, erschien Frau von Saßneck bedeutend jünger. Bettina Sundheim hatte ein schweres Leiden früher altern lassen.

    »Bleib sitzen, Bettina. Ich sah an deinem Gang, daß du leidend bist. Aber ich erkannte dich sofort, als ich dich am Lesesaal vorübergehen sah, obgleich du dich sehr verändert hast.«

    Bettina lächelte wehmütig. »Ja, Elisabeth, ich bin zur Kur hier. Aber du? Du siehst gottlob nicht aus, als bedürftest du einer Kur.«

    »Und doch bin auch ich auf ärztliche Verordnung hier, wenn auch mehr, um einem Leiden vorzubeugen. Wenn man über die Fünfzig ist, stellen sich allerhand Gebrechen ein. Ich wollte erst gegen den ärztlichen Befehl revoltieren, weil ich mich gottlob gar nicht krank fühle. Aber nun freue ich mich doch, daß ich gehorsam war. So sehe ich dich doch nach Jahren endlich einmal wieder. Wie lange ist es her, daß wir uns nicht begegnet sind? Fünf Jahre gewiß.«

    »Ja, so lange ist es her. Wir haben uns ja leider immer nur nach langen Pausen wiedergesehen. Seit wir als halbflügge Menschen die Pensionszeit hinter uns hatten, sind wir uns nur immer wieder durch glückliche Zufälle auf Reisen begegnet.«

    »Das Schicksal hat uns weit auseinandergeführt. Als ich dich vor fünf Jahren in Scheveningen traf, war ich kaum imstande, mich an dem Wiedersehen mit dir zu freuen.«

    »Ja, du Arme, da hattest du das größte Leiden deines Lebens zu tragen: du hattest kurz zuvor deinen Sohn verloren.«

    Frau von Saßnecks Augen trübten sich. »Seit sechs Jahren beweine ich meinen einzigen, Bettina. Aber inzwischen habe ich noch einen anderen schweren Verlust erlitten. Mein Mann starb vor drei Jahren — er konnte den Verlust unseres Sohnes nicht verwinden.«

    »So sind wir beide Witwen, Elisabeth.«

    »Wie — auch du?«

    »Ja, vor zwei Jahren habe ich meinen Mann verloren — und vieles andere noch. Seit der Zeit bin ich nie mehr gesund gewesen.«

    Frau von Saßneck faßte ihre Hände. »Dir hat das Schicksal aber wenigstens dein liebes Töchterchen erhalten. Wie reich bist du noch immer!« sagte sie tröstend. Und dann wandte sie sich an Anni Sundheim, die sich erhoben hatte, um Frau von Saßneck ihren Platz anzubieten. »Verzeihen Sie, wenn ich Sie erst jetzt begrüße, mein liebes Kind. Sie gestatten mir diese Anrede, denn ich kannte Sie schon, als Sie noch ein kleines Mädchen waren. Freilich werden Sie sich meiner kaum noch erinnern. Es war vor ungefähr zehn oder elf Jahren, als wir in Zoppot Bekanntschaft machten. Sie nannten mich damals sehr lieb und vertraulich Tante Elisabeth.«

    »Doch, gnädige Frau, ich erinnere mich noch sehr gut jener Zeit. Fragen Sie Mama. Die gütige Tante Elisabeth, die mir eine schöne Puppe schenkte, und ihr Sohn Hans, der mit mir herrliche Sandburgen baute, haben lange meine kindliche Phantasie beschäftigt.«

    Frau von Saßneck seufzte. »Ja, liebe Bettina, damals waren wir sehr glücklich und verlebten sonnige Wochen. Und zwei Jahre später trafen wir in Nizza zusammen. Auch da war uns das Leben noch hold. Als wir uns später in Scheveningen begegneten, hatte mich schon der erste harte Schlag getroffen, mein Hans war ertrunken, mit einem Kameraden zusammen, den er hatte retten wollen. Damals konnte ich selbst deine Gesellschaft schwer ertragen.«

    »Und nun treffen wir uns nach Jahren wieder hier. Oh, wir haben wohl einander viel zu erzählen. Hast du ein wenig Zeit für mich?«

    »Soviel du willst, Bettina. Ich bin ganz allein hier und habe nichts zu tun, als meine leichte Kur zu gebrauchen.«

    Frau Sundheim wandte sich an ihre Tochter. »Du kannst die Zeit benützen, dich ein wenig auszulaufen, Anni. Das fehlt dir doch sehr. Geh nur, ich bin ja in guter Gesellschaft und erwarte dich hier.«

    Anni sah die Mutter besorgt an. »Wirst du dich auch nicht zu sehr aufregen, liebe Mama?«

    »Sei unbesorgt, es wird mir im Gegenteil wohltun, mich einmal auszusprechen.«

    Anni zögerte noch und wandte sich an Frau von Saßneck: »Mama ist herzleidend und hat eben erst eine Kur in Nauheim hinter sich. Sie muß nun hier wegen ihres starken Rheumas noch Bäder nehmen und ist recht schwach.«

    Frau von Saßneck sah wohlgefällig in Annis schönes Gesicht, in dem deutlich genug die liebevolle Sorge um die Mutter stand. »Gehen Sie nur ruhig und unbesorgt, liebes Kind. Wir wollen nur unsere Erlebnisse austauschen und von alten, frohen Zeiten plaudern. Ich will Ihr Mütterchen gut in acht nehmen.«

    Anni gefiel die hübsche, stattliche Frau mit dem frischen, klugen Gesicht und den gütigen Augen sehr. Aus ihrer Kinderzeit stiegen ein paar sonnige Wochen am Ostseestrand wie ein leuchtendes Bild herauf. Schon damals hatte sie das vornehm-gütige Wesen dieser Frau als etwas Köstliches empfunden.

    »Dann will ich also bis zu den Tennisplätzen gehen.« Anni ging leichtfüßig davon.

    »Welch ein reizendes und bildschönes Geschöpf ist deine Tochter geworden, liebe Bettina. Sie versprach schon als Kind eine Schönheit zu werden. Aber nun bin ich doch überrascht, wie wundervoll sie sich entwickelt hat.«

    Bettina Sundheim seufzte. »Ja, sie ist schön. Und was mehr ist — sie ist gesund und klug —, ich darf das sagen, ohne in den Verdacht der Eitelkeit zu geraten. Aber nun erzähle mir von dir, Elisabeth. Wie trägst du das Leben, das dir Mann und Sohn genommen hat?«

    »Ja, Bettina — das Leben erschien mir zuerst gar nicht mehr lebenswert. Aber man lernt sich bescheiden.«

    »Und hast du nicht mit deinem Gatten deine Heimat verloren? Saßneck war doch Majorat?«

    »Nein, die Heimat verlor ich nicht, obwohl Saßneck Majorat ist. Es gibt in Saßneck einen sehr hübschen, idyllischen Witwensitz, mitten im herrlichen Wald an der Parkgrenze. Dort habe ich bis zu meinem Tod unbestrittenes Heimatrecht. Vorläufig wohne ich indes noch im Schloß und kann mich da ganz als Herrin fühlen. Der jetzige Majoratsherr, ein Neffe meines Mannes, hat nicht Vater und Mutter mehr und ist noch unverheiratet. Mein Mann hat ihn bald nach dem Tode unseres Sohnes nach Saßneck kommen lassen, weil er sich sehr leidend fühlte. Norbert hat schon damals begonnen, für meinen Mann die Geschäfte zu führen. Und im steten Zusammensein ist er uns wie ein Sohn ans Herz gewachsen. Als mein Mann starb, hat er mir treulich zur Seite gestanden. Manchmal ist mir zumute, als habe mir der liebe Gott in ihm einen Ersatz für meinen Hans gegeben. Er hat es nicht gelitten, daß ich mich auf meinen Witwensitz zurückziehe, ich soll die Herrin seines Hauses bleiben, bis er sich verheiratet. Es ist mein Wunsch, daß dies bald geschieht, denn man wird alt und sehnt sich nach Ruhe.«

    »Du siehst aber gottlob noch gar nicht ruhebedürftig aus, Elisabeth.«

    »Ja, mein Körper ist immer sehr robust gewesen — sonst hätte mich wohl mein Herzeleid niederwerfen müssen. Es gab Zeiten, da ich mehr für meinen Verstand als für meinen Körper fürchten mußte. Als man mir meinen Hans kalt und starr nach Hause brachte — ach, laß mich davon schweigen. Du kannst mir das zum Glück nicht nachfühlen, denn du besitzest dein Kind noch und kannst dich seiner Jugend freuen.«

    Bettinas blasses Gesicht rötete sich jäh, und in ihren Augen lag ein seltener Ausdruck. »Nein — das kann ich dir wohl nicht nachfühlen«, sagte sie leise, »noch viel weniger, als du denkst.«

    Frau von Saßneck blickte betroffen auf die Freundin, deren Augen verloren ins Weite blickten. Aber diese richtete sich nun schnell auf, als würfe sie eine Last von sich. Dann sagte sie bittend: »Sprich weiter, Elisabeth!«

    »Sonst habe ich kaum Wichtiges zu berichten. Ich habe mich mit dem Leben abgefunden, und obwohl es mir unglaublich schien, gibt es auch für mich noch manche gute, frohe Stunde. Man muß nur genügsam sein, dann findet man sich auch in Trübsal und Kummer zurecht. Aber erzähle mir von dir. Mein Schicksal kennst du nun in großen Umrissen. Seit ich hier neben dir sitze, ist es mir unverständlich, daß ich dich im Egoismus meines Schmerz fast vergaß in den letzten Jahren. Und doch habe ich, wie immer, wenn wir irgendwo auf unserem Lebensweg zusammentrafen, das Gefühl, daß wir einander verstehen. Du hast immer meinem Herzen nahegestanden.«

    »So wie du mir, Elisabeth. Gedacht habe ich deiner auch in den letzten Jahren sehr oft. Aber für eine regelmäßige Korrespondenz sind wir beide nicht geschaffen. Briefe sind ja auch nur ein kümmerlicher Notbehelf. Im Glück findet man die Worte zu schal; und im Unglück wird man schweigsam. Erst wenn man sich Auge in Auge gegenübersteht, dann kann man sich aussprechen.«

    »Ja, Bettina, so ist es. Wir beide waren uns trotzdem unserer Freundschaft bewußt. Und nun sprich von dir. Auch du mußt inzwischen Leid getragen haben. Als ich dich das letztemal sah, blickten deine Augen anders als jetzt.«

    »Ja, Elisabeth. Inzwischen haben viele bittere Tränen den Glanz meiner Augen verlöscht. Mein Leben ist seither so ganz anders geworden. Von der alten Bettina Sundheim ist nichts übriggeblieben als ein kümmerlicher Schatten. Und doch ist mein Geschick in wenigen Worten berichtet. Soviel Leid sich auch in diese letzten Jahre drängte — faßt man es in Worte, wundert man sich, wie schnell es dann abgetan ist. Als ich vor fünf Jahren in Scheveningen Abschied von dir nahm, ahnte ich nicht, daß ich dir heute als gebrochene Frau gegenübersitzen würde. Und hätten wir uns nicht hier in Wiesbaden getroffen — wer weiß, ob uns dann noch ein Wiedersehen beschieden wäre. Denn meine Tage sind gezählt.«

    Frau von Saßneck erschrak. »Bettina — so schlimm steht es um dich?«

    Frau Sundheim lächelte resigniert. »Ja, Elisabeth, ein schweres Herzleiden, das mit allerlei anderen Leiden Hand in Hand geht, macht meinen Körper hinfällig. Jeder Tag kann meinem Leben ein Ende machen. Ich bin darauf vorbereitet und würde es mit Ruhe erwarten — wenn Anni nicht wäre. Aber laß dir erzählen. Vor etwa vier Jahren ließ sich mein Mann, um einen geschäftlichen Verlust schnell wieder zu decken, in gefährliche Minenspekulationen ein. Er erhoffte einen enormen Gewinn und ließ sich verleiten, fast sein ganzes Vermögen in dieser Spekulation anzulegen. Ich wußte nichts von diesem Unternehmen, lebte sorglos in unserem schönen, alten Haus in Hamburg und verließ mich wie stets auf die Klugheit und Umsicht meines Mannes. Ich hatte auch mein ganzes Vermögen in seine Hände gegeben.

    Aber jeder Mensch macht einmal einen Fehler. Kurzum, die Spekulation ging fehl, mein Mann verlor sein ganzes Vermögen. Zu gleicher Zeit fallierte ein Bankhaus, wobei meinen Mann abermals ein enormer Verlust traf. Wir waren über Nacht arm geworden. Der reiche Senator Sundheim war ein Bettler, die Minen erwiesen sich als wertlos. Das ertrug mein Mann nicht. In der Verzweiflung jener Stunde schoß er sich eine Kugel durch den Kopf.«

    Sie schwieg erschöpft. Frau von Saßneck faßte erschrocken nach ihrer Hand. »O du Arme, auf so schreckliche Weise verlorst du deinen Gatten?«

    Bettina wischte sich mit zitternder Hand über die Augen.

    »Ja, so verlor ich ihn, den ich so unendlich geliebt habe. Er war in jener schrecklichen Stunde nicht Herr seiner selbst, sonst hätte er mir das nicht angetan, sondern hätte gemeinsam mit mir das Unabänderliche getragen. Nach seinem Tod war ich wie gelähmt. Es brach nun alles über mich herein. Unser Haus wurde verkauft, die Dienerschaft entlassen, Pferde und Wagen, Auto und unsere kleine Villa versteigert. Auch meinen Schmuck gab ich in die Masse, nur damit alle Verpflichtungen gedeckt und meines Mannes Name vor Schmach bewahrt blieben. Auch Anni gab alles hin, was sie besaß und was einigen Wert hatte. Gottlob konnten alle Gläubiger befriedigt werden. Aber uns blieb nichts als einige Koffer mit Wäsche und Kleidern und etwa zweitausend Mark in bar. Damit verließen wir Hamburg, wo wir in Glück und Glanz gelebt hatten. Freunde boten uns ihre Hilfe an, aber wir waren noch zu stolz, sie anzunehmen. Und wir wollten nicht als Bettler in Hamburg leben. So gingen wir nach Berlin und richteten uns in einer Vorstadt ein sehr bescheidenes Heim ein. Einige Wochen mußten wir vorher in einer Pension leben. Anni war in jener schrecklichen Zeit ein Segen für mich. Sie ließ sich nicht unterkriegen vom Schicksal. ›Ich habe so viel gelernt, das will ich nun verwerten. Du sollst sehen, ich finde in Berlin schon eine Arbeit, die uns zu Brot verhilft‹, sagte sie tapfer. Ganz so schlimm sollte es aber doch nicht werden. In der Zeit, da mein Mann fast eine Million in jenen unglückseligen Minenaktien anlegte, hatte er vielleicht in einer Stunde trüber Ahnungen, etwa hunderttausend Mark einer Rentenbank übergeben für mich, ohne mir etwas davon mitzuteilen. Hatte er wohl daran gedacht, daß seine Spekulationen mißglücken könnten, oder war es Eingebung einer bedenklichen Stunde gewesen, wer weiß. In unsere große Not hinein kam da nun plötzlich die erste fällige Rente an mich. Sie beträgt über sechstausend Mark jährlich, erlischt aber mit meinem Tode.

    Diese sechstausend Mark erschienen uns in unserer schlimmen Lage als eine sehr große Summe. Früher hatte ich mehr nur für meine Kleidung ausgegeben, jetzt bildete sie unser gesamtes Einkommen. Und du siehst, Elisabeth, wir bringen es sogar fertig, noch Badereisen davon für mich zu erübrigen. Anni ist ein so tüchtiges Hausmütterchen geworden. Sie arbeitet den größten Teil unserer Garderobe selbst, modernisierte die Sachen, die wir von früher noch besitzen, und versteht so gut zu wirtschaften, wie ich selbst das nie fertigbringen würde. Mit Hilfe einer Putzfrau führt sie unseren kleinen Haushalt musterhaft und pflegt mich mit einer Aufopferung und Hingabe, die mich oft zu Tränen rühren. Es geht alles gut, und ich wollte mich gar nicht beklagen, wenn mich eben nicht die Sorge um Annis Zukunft drückte. Wenn ich sterbe, fällt die Rente fort, und sie bleibt mittellos zurück. Wohl hat sie eine vorzügliche Erziehung genossen, und sie sagt mir hundertmal: ›Sorge dich nicht um mich, mein Mütterchen, ich bin gesund und stark und fürchte mich nicht vor dem Kampf ums Dasein.‹ Aber das sagt sie wohl nur, um mich zu beruhigen. Sie ist ja nicht für den Lebenskampf erzogen worden, ist viel zu fein empfindend und weich, um sich darin nicht tausend Wunden zu holen. So verläßt mich die Sorge um das Kind nicht einen Augenblick.«

    Frau von Saßneck streichelte ihre Hand. »Arme Bettina — und von alledem wußte ich nichts! Konntest du dich nicht an mich wenden, als du ganz hilflos warst?«

    »Nein, Elisabeth, ich mußte allein damit fertig werden. Nie war ich stolzer, als da ich glaubte, arm wie eine Bettlerin zu sein. Und ich spreche auch nur so offen mit dir über alles, weil ich weiß, daß du mich verstehst in meiner Sorge um das Kind.«

    »Das tue ich gewiß, Bettina. Aber sage mir, habt ihr denn keine Verwandten mehr, die sich deines Kindes annehmen können?«

    Frau Sundheim lächelte schmerzlich, dann seufzte sie. »Es leben noch einige Vettern von uns, aber sie sind nicht in sehr glänzenden Verhältnissen. Und dann — von dieser Seite wird Anni niemals Hilfe kommen. Bin ich doch mit diesen Verwandten gerade Annis wegen völlig zerfallen, schon seit Jahren.«

    »Deiner Tochter wegen? Darf man wissen, warum?«

    »Ja, Elisabeth, dir will ich es sagen. Ich will dir etwas anvertrauen, was ich bisher auch dir gegenüber wie ein Geheimnis hütete. Meine Vettern hatten wohl, da unsere Ehe kinderlos blieb, damit gerechnet, daß sie unsere Erben würden. Solange sie darauf hoffen konnten, waren sie alle sehr lieb und herzlich zu uns.«

    »Ach so, ich verstehe — als dann nach einigen Jahren dein Töchterchen geboren wurde, haben sie

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