Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Schönheit aus Asche: Wie ich als zurückgelassenes Kind den Zweiten Weltkrieg überlebte und endlich Heimat für mein Herz fand
Schönheit aus Asche: Wie ich als zurückgelassenes Kind den Zweiten Weltkrieg überlebte und endlich Heimat für mein Herz fand
Schönheit aus Asche: Wie ich als zurückgelassenes Kind den Zweiten Weltkrieg überlebte und endlich Heimat für mein Herz fand
eBook284 Seiten3 Stunden

Schönheit aus Asche: Wie ich als zurückgelassenes Kind den Zweiten Weltkrieg überlebte und endlich Heimat für mein Herz fand

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

"Er gab mir Schönheit statt Asche und Freudenöl statt Trauer." Jesaja 61,3

Eleanor Isaacson ist zwei Jahre alt, als ihre Mutter sie in Deutschland bei Verwandten zurücklässt. Das kleine Mädchen wächst in der Obhut ihrer Tante auf, von der sie zwar Nahrung bekommt, aber keine Liebe. Dann bricht der Zweite Weltkrieg aus. Gemeinsam überstehen die beiden Frauen Bombennächte, Hunger, Einsamkeit und den Verlust naher Angehöriger.
Kurz bevor sich der Eiserne Vorhang schließt, holt Eleanors Mutter die inzwischen 13-Jährige zu sich in die USA. Doch auch im "Land der Freiheit" erlebt Eleanor nur Kälte und Ablehnung. Erst als sie entdeckt, wer ihr unsichtbarer Freund ist, der sie von klein auf begleitet und beschützt hat, findet ihr Herz endlich Heimat …
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. März 2022
ISBN9783765576485
Schönheit aus Asche: Wie ich als zurückgelassenes Kind den Zweiten Weltkrieg überlebte und endlich Heimat für mein Herz fand

Ähnlich wie Schönheit aus Asche

Ähnliche E-Books

Fiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Schönheit aus Asche

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Schönheit aus Asche - Eleanor Isaacson

    KAPITEL 1

    Unfröhliche Weihnachten

    Du brauchst dich nicht zu fürchten

    vor dem Schrecken der Nacht …

    Denn er hat für dich seine Engel entsandt

    und ihnen befohlen,

    dich zu behüten auf all deinen Wegen.

    Psalm 91,5.11

    Hatte es je ein schlimmeres Weihnachten gegeben? Ganz sicher nicht in meiner zehnjährigen Erinnerung! Im Dezember 1944 zog sich Hitlers Angriffskrieg bereits über fünf Jahre hin. Selbst in einer Nazihochburg wie Plauen, einer stolzen Industriestadt in Mitteldeutschland nahe der Grenze zu Bayern und zur Tschechoslowakei, konnten sich die Einwohner nicht länger einreden, dass die mächtige Wehrmacht ihres Führers den Krieg gewann. Monatelang schon legten die Bomben der Alliierten Plauen mehr und mehr in Schutt und Asche.

    Für die Kinder dort war Weihnachten immer eine Zeit voller glitzernder Magie gewesen. Schnee hüllte sanft die Hügel ein, die Plauen umgaben. Tannenzweige und anderer Weihnachtsschmuck verzierten den Marktplatz. Glocken und Chorgesänge erfüllten die Luft mit Musik. Der Duft von Zimt, Melasse, Ingwer, Anis und Schokolade strömte aus den Häusern, wo Weihnachtskekse gebacken wurden. Auf der Zunge lag der Geschmack von Plätzchen und Stollen.

    Doch gegen Ende des Zweiten Weltkriegs hatte ich fast vergessen, wie solche Luxusgüter wie Butter, Zucker und Melasse schmeckten. Lisbeth, wie ich meine Tante nannte, die mir Vormund und Ersatzmutter war, hatte im Wohnküchenbereich unserer winzigen Wohnung bereits einen Baum aufgestellt. Diese Tradition war natürlich, wie alles andere an Weihnachten unter der Naziherrschaft, jeglicher Symbolik beraubt worden, die auf den jüdischen Messias hinwies. Der Baum stand nun für die Sonnenwende und jährliche Wiedergeburt der Sonne – ähnlich wie der bärtige Mann, der den Sack voller Geschenke trug, nicht mehr der Heilige Nikolaus war, sondern der germanische Gott Odin.

    Mein Puppenhaus, das lediglich aus einer Küche und einem Schlafzimmer bestand und unserer echten Wohnung damit nicht unähnlich war, wurde ebenfalls vom Speicher geholt. Wie jedem anderen deutschen Kriegsmädchen wurde mir erlaubt, von Heiligabend bis zum 6. Januar mit seinen winzigen Möbeln zu spielen. Dann wurde es wieder bis zum nächsten Jahr auf den Dachboden gebracht.

    Trotz Nahrungsmittelknappheit hatte meine Tante es sogar geschafft, die winzigen Lebensmitteldosen wie immer mit etwas echtem Zucker und Mehl für mich zu füllen, damit ich damit spielen konnte. Und wie jedes Jahr hatte Lisbeths Nähfreundin Elsa für meine Puppe Helga ein neues Kleid gemacht, das ich gemeinsam mit den anderen spärlichen Geschenken am Weihnachtsabend auspackte.

    Doch ich hatte kein Interesse an Puppenkleidern oder am Puppenhaus, auch nicht an den SS-Soldaten aus Schokolade, den Spielzeugpanzern und Kriegsflugzeugen, die man auf dem Weihnachtsmarkt kaufen konnte. Wie konnte es Weihnachten sein, wenn die ganze Luft so durchdrungen war von Angst und Unsicherheit, dass ich kaum atmen konnte? Wenn die Klänge der Weihnachtslieder – die ebenfalls neue Texte hatten und nun Deutschlands großen Retter statt ein Judenbaby priesen – schon lange in Fliegeralarm und Bombenexplosionen untergegangen waren?

    Als ich an jenem Weihnachtsabend 1944 endlich einschlief, dachte ich nicht an Geschenke. Mein zehnjähriges Bewusstsein war nur auf eine einzige Sache fokussiert: auf die Sirene zu lauschen und immer bereit zu sein, sofort loszulaufen, mich zu verstecken und zu überleben. Wie schon seit Monaten schlief ich auch in dieser Nacht komplett angezogen, meine Schuhe ordentlich neben dem Bett aufgestellt, sodass ich augenblicklich in sie hineinspringen konnte.

    Es war 2 Uhr nachts am Weihnachtsmorgen, als der Fliegeralarm ertönte. Widerwillig schob ich meine dicke Daunendecke von mir, um in die eiskalte Nacht hinauszulaufen. Vielleicht wäre der Angriff dieses Mal ja kurz genug, dass mein Bett noch warm war, wenn ich wiederkäme. Die durchdringende Sirene tat mir in den Ohren weh, während ich nach meinen Schuhen tastete. Als ich die Tür erreichte, hatte Lisbeth schon meine Hand ergriffen. Wir polterten durch das Treppenhaus drei Stockwerke nach unten, drängelten uns vorbei an anderen Bewohnern, die sich ebenfalls ihren Weg in die Sicherheit erkämpften.

    Unser Wohnhaus stand auf dem Hang eines natürlichen Talkessels, in dem Plauen angesiedelt war. Eine Kopfsteinpflasterstraße führte hinunter ins Tal. Dort inmitten der Stadt stand ein großer, von Bäumen bedeckter Hügel. Ob durch die Natur oder menschliche Kraft angelegt – in diesem Hügel befanden sich zwei riesige Höhlen. Während der vergangenen Jahrhunderte war das kalte, feuchte Innere dieser Höhlen von den ansässigen Brauereien genutzt worden, um dort ihr Bier etwas kühler zu lagern. Seit dem Beginn der Bombenangriffe waren sie zu Luftschutzkellern geworden. Manche Leute, die kein Zuhause mehr hatten, blieben auch zwischen den Angriffen dort.

    Lisbeth und ich hatten in den letzten Monaten häufig in der nächstgelegenen Höhle Schutz gesucht, da die Bomben mittlerweile nicht mehr nur ab und zu, sondern unaufhörlich fielen. Unter normalen Umständen lag der Hügel zwanzig Minuten Fußmarsch von unserer Wohnung entfernt. In dieser Nacht rutschten und schlitterten wir über das glatte, gefrorene Kopfsteinpflaster und erreichten den Fuß des Hügels in weniger als zehn Minuten. Über uns bildeten der Donner und die Blitze der explodierenden Bomben einen Stakkato-Rhythmus zu dem auf- und abschwellenden Jaulen des Fliegeralarms.

    Während wir rannten, wurde mein Blick nach oben gezogen. Das Feuerwerk der explodierenden Artillerie bot die Illusion eines sternenbedeckten Nachthimmels. Doch sicher halluzinierte ich, denn es sah für mich so aus, als würden herrliche Weihnachtsbäume aus reinem goldenen Licht herunterfallen und die Landschaft übersäen. Ich zog an Lisbeths Hand. „Schau, sie feiern Weihnachten!"

    Meine Tante drückte meine Hand noch fester und zerrte mich hinter sich her. „Wir können nicht stehen bleiben und gucken! Wir müssen weiterlaufen!"

    Jahrzehnte später erzählte ich in einem Vortrag in North Carolina, USA, davon. Anschließend kam ein Kriegsveteran auf mich zu und versicherte mir: „Sie haben nicht halluziniert. Im Gegensatz zu unseren amerikanischen Bombern mussten die Briten darauf achten, keine Munition zu verschwenden. Daher beleuchteten sie den Boden mit hellen Markierungsbomben, um den Abwurfbereich zu überprüfen, bevor sie die Bomben fallen ließen. Vom Boden sahen diese Markierungsbomben aus wie ein umgedrehtes V aus hellem Licht."

    Damals verlor ich schnell das Interesse an jeglicher Schönheit am Nachthimmel. Wir hatten nun die massiven Doppeltüren erreicht, die in die nächstgelegene Höhle führten, den Mauerkeller. Der Eingang zur anderen Höhle mit dem Namen Hummerkeller lag eine weitere Viertelstunde Fußweg auf der anderen Seite des Hügels. Um uns herum strömten die anderen Bewohner unseres Wohnhauses durch die Türen, genau wie wir während der vorherigen Fliegeralarme. Doch etwas in meinem Bauch, in der Angst, die mir die Luft abschnürte, schrie mich an, dass wir dort nicht hineingehen sollten. Etwas Schreckliches würde geschehen, wenn wir es taten. Obwohl ich keine Worte hörte, war es genauso klar, als würde eine Stimme mir Anweisungen geben.

    Unsanft riss ich an Lisbeths Hand, sodass wir beide stehen blieben. „Nein, wir können da nicht hinein! Nicht heute Nacht! Bitte, bitte, du musst auf mich hören! Wir müssen zur anderen Höhle laufen! Bitte, bitte!"

    Obwohl mir die Dringlichkeit ins Gesicht geschrieben stand, ist mir bis heute schleierhaft, warum meine Tante mich nicht einfach packte und durch die Türen des Mauerkellers schob. Vorsehung, mit Sicherheit. Aber Lisbeth war keine Frau, die an Vorsehung glaubte oder überhaupt an etwas, das nicht praktisch und rational war. Doch in dieser Nacht hörte sie auf mich. Ich umklammerte ihre Hand. Nun war ich es, die sie mit sich fortzerrte. Wir erreichten den Eingang des Hummerkellers in olympischer Geschwindigkeit. Gerade in diesem Augenblick wurden die riesigen Türen, die genauso aussahen wie die des Mauerkellers, schwerfällig geschlossen.

    „Haltet die Türen auf!, rief meine Tante scharf. „Wir kommen!

    Wir quetschten uns durch die enge Öffnung, während sich die Türen direkt hinter unseren Fersen schlossen. Wir waren kaum drinnen, als der Boden zu beben begann. Die Bomben fielen offenbar sehr nah. Die Höhle war so voller Menschen, hätte jemand einen Herzanfall gehabt, wäre er nicht zu Boden gefallen. Verstreut leuchteten Taschenlampen auf entsetzte Gesichter und die Schreie, die man zwischen den Explosionen und Sirenen hörte, stammten sowohl von Männern als auch Frauen und Kindern.

    Ich schlängelte mich zur Höhlenwand, wo ich einen Vorsprung fand, der gerade hoch und breit genug war, um mir als Sitzgelegenheit zu dienen. Der Fels in meinem Rücken war kalt und klamm, aber die Körperwärme der vielen Menschen ließ es in der Höhle schnell warm werden, sodass ich schläfrig wurde. Ich lehnte mich an meinen Sitz und fing an, mit mir selbst zu reden, da es viel zu laut war, um mit jemand anderem zu sprechen. Vielleicht war auch der unsichtbare Freund, diese Gegenwart, deren Identität ich nicht kannte, aber die für mich so real geworden war, die eigentliche Person, mit der ich sprach.

    Was ist der Tod? Werde ich sterben, bevor dieser Krieg vorbei ist? Wenn ich von einer Bombe getroffen werde, wo gehe ich dann hin? Was geschieht danach? Warum müssen wir so leben, mit so viel Kampf und Tod? Gibt es einen Ort auf dieser Welt, wo ich Sicherheit finden kann? Warum lebe ich überhaupt? Warum bin ich hier im Hummerkeller? Wessen Stimme hat mir gesagt, dass ich hierher rennen soll?

    Meine Fragen wandten sich zu der unsichtbaren, aber so realen Gegenwart. Wer bist du? Was bist du? Wo bist du? Und dann: Wie kann ich dich kennenlernen?

    Schließlich hörte der Boden auf zu beben und es waren nur noch die Sirenen zu hören. Erschöpft kletterte ich von meinem Sitz herunter und ging mit Lisbeth zusammen wieder aus der Höhle heraus. Der Rest der Menge zerstreute sich. Die Leute gingen zurück in die nächstgelegenen Häuser, da sie aus diesem Teil der Stadt kamen. Doch Lisbeth und ich mussten wieder um den Hügel herumlaufen, zurück zum Mauerkeller, wo die Straße aus Kopfsteinpflaster begann, die uns zurück nach Hause führte.

    Als wir die andere Seite des Hügels erreichten, war ich fassungslos ob des Anblicks, der sich mir bot: Die großen Doppeltüren, die in den Mauerkeller führten, standen nicht offen, sodass die Leute, die darin Schutz gesucht hatten, wieder hinauskonnten. Stattdessen war der ganze Hang des Hügels ein einziger Trümmerhaufen. Der Eingang hatte offenbar einen direkten Treffer abbekommen, der die Türen hineingedrückt und bewirkt hatte, dass die ganze Höhle in sich zusammengestürzt war. Später erfuhren wir, dass Hunderte von Menschen erdrückt worden oder erstickt waren.

    Ich konnte nicht glauben, was ich sah. Wenn ich nicht auf diese wortlose innere Stimme gehört hätte, wären Lisbeth und ich jetzt unter den Toten gewesen. Aber warum lebten wir und die anderen nicht? Wer hatte mir gesagt, dass wir von hier fliehen sollten?

    Lisbeth sah so erschüttert aus, wie ich mich fühlte. Dann nahm sie meine Hand und führte mich weg. Während wir die steile Straße zu unserem Zuhause hochgingen, schüttelte sie nüchtern ihren Kopf. „Nun, Eleanor, ich schätze, Gott wollte nicht, dass wir heute Nacht sterben."

    Ihre Worte waren so verblüffend für mich wie unser knappes Entkommen. Lisbeth und ihre ganze Familie waren Atheisten, wie Hitler es für alle guten deutschen Bürger angeordnet hatte. In den zehn Jahren meines Lebens hatte ich fast noch nie eine Kirche betreten. Ich hatte nie eine Bibel gesehen. Ich hatte nie von Jesus Christus gehört, nie einen Christen getroffen oder jemals jemanden beten gehört. Ich hatte keine Erinnerung daran, dass vorher irgendjemand Gott erwähnt hätte. Und doch musste es wahrscheinlich jemand gemacht haben, denn ich verstand, was meine Tante meinte.

    Die Offenbarung in diesem Moment veränderte mein Leben für immer. Ich hatte schon lange gespürt, dass es in dieser Welt etwas gab, das größer war als ich selbst. Nicht nur etwas, sondern Jemanden. Und jetzt war klar, dass dieser Jemand mich, Eleanor, kannte. Und nicht nur kannte, sondern sich genug um mich sorgte, um persönlich in mein Leben einzugreifen.

    Als wir uns von dem stummen Grab aus Fels und Fleisch wegschleppten, fragte ich Lisbeth nicht, was sie mit ihren Worten gemeint hatte. Aber ich wandte meine stummen Fragen wieder gen Himmel. Ist das mein unsichtbarer Freund – Gott? Wenn es so ist, wie hast du mir gesagt, dass wir nicht zum Mauerkeller gehen sollen, wo wir seit Oktober immer hingehen – ohne Stimme, ohne ein Flugblatt, das vom Himmel fällt, mit genauen Anweisungen, einfach so? Ich wünschte, ich könnte dich so kennen, wie du mich kennst. Dann hätte ich vielleicht nicht so große Angst davor zu sterben. Dann müsste ich nicht mehr fortlaufen, weil du immer weißt, wo ich bin. Und wenn ich dich kennen würde, wie du mich kennst, wäre ich bei dir immer sicher.

    Viele Jahre später, Tausende Meilen von Plauen entfernt, als ich endlich eine Bibel in meinen Händen hielt, begegneten mir darin Worte, die Gottes direkte Antwort auf mein Rufen hätten sein können:

    Wer unter dem Schutz des Höchsten wohnt, darf bleiben im Schatten des Allmächtigen. Darum sage ich zum HERRN: „Du bist meine Zuflucht und meine sichere Festung, du bist mein Gott, auf den ich vertraue." … Er deckt dich schützend mit seinen Schwingen, unter seinen Flügeln findest du Geborgenheit. … Du brauchst dich nicht zu fürchten vor dem Schrecken der Nacht oder vor den Pfeilen, die am Tag abgeschossen werden … Denn er hat für dich seine Engel entsandt und ihnen befohlen, dich zu behüten auf all deinen Wegen. Sie werden dich auf Händen tragen, damit du mit deinem Fuß nicht an einen Stein stößt.

    Psalm 91,1-2.4-5.11-12

    In jener Nacht wusste ich nur, dass ich lebte. Und dass Jemand mich gerettet hatte. In dem verblassenden Morgenlicht dieses freudlosen Weihnachtsmorgens, mit dem Gestank von Sprengsätzen und Staub und verbranntem Fleisch in meiner Nase, gelobte ich aus der Tiefe meines einsamen, liebeshungrigen, zehnjährigen Herzens: Ich weiß, dass du real bist. Und ich weiß, dass du ein Ziel damit verfolgt hast, mein Leben zu verschonen. Wenn du mich diesen Krieg überleben und zu einer Frau heranwachsen lässt, werde ich nach diesem Ziel suchen. Und ich werde dich als Freund kennenlernen.

    Ich hielt mich an dieses Versprechen.

    Oder vielmehr: Gott tat es.

    KAPITEL 2

    Verlassen

    Kann eine Mutter etwa ihren Säugling vergessen?

    Fühlt sie etwa nicht mit dem Kind,

    das sie geboren hat?

    Jesaja 49,15 (NLB)

    Ich wurde in den USA geboren. Die Tatsache, dass meine Mutter mich verließ, sollte meinen Lebensweg ebenso sehr bestimmen wie das Einfordern meines Geburtsrechtes. Auch wenn ich keine Erinnerung an das Leben mit meinen Eltern als Kind oder als Amerikanerin hatte.

    Sowohl meine Großeltern väterlicherseits, Otto und Minna Drechsler, als auch meine Großeltern mütterlicherseits, Paul und Elsa Händel, kamen aus Plauen. In ihrer Jugendzeit hatte die Stadt ihren Höhepunkt als aufstrebende Industriestadt erreicht, die weithin bekannt war für die maschinelle Produktion feinster Seide. Großvater Otto war Bäckergeselle. Während des Ersten Weltkriegs wurde er eingezogen und hatte das Pech, von den Russen gefangen und in ein Arbeitslager geschickt zu werden. Als seine Widersacher erst einmal von seinen Broten und seinem Gebäck gekostet hatten, waren sie so beeindruckt, dass er den Rest seiner Haft in der Lagerbäckerei verbringen durfte.

    Als Otto nach dem Krieg nach Hause zurückkehrte, beschloss er, selbst eine Bäckerei zu eröffnen. Er heiratete und lehrte seine drei Söhne sein Handwerk. Zu jener Zeit emigrierte Tante Klara, die Schwester seiner Frau Minna, mit ihrem Mann Michael in die Vereinigten Staaten. Dort eröffneten sie eine Bäckerei in Newark, New Jersey. Das Paar hatte selbst keine Söhne. Daher luden sie 1927 meinen Vater Arthur und seine beiden Brüder Kurt und Erich ein, zu ihnen zu kommen und in der Bäckerei zu arbeiten.

    Arthur war zu diesem Zeitpunkt achtzehn Jahre alt. Er und meine Mutter Hilda waren seit der Grundschule ineinander verliebt und er willigte nur ein, in die USA zu ziehen, wenn Tante Klara sich bereit erklärte, auch Hildas Überfahrt zu bezahlen. Sie stimmte zu, und sobald meine Mutter bei meinem Vater in New Jersey war, heirateten sie. Arthur arbeitete weiter in der Bäckerei, Hilda steuerte als Putzkraft zu ihrem Lebensunterhalt bei.

    Doch die Ehe erwies sich für die jungen Leute bald als Enttäuschung. Beide hatten Probleme damit, Englisch zu lernen und sich an die amerikanische Kultur zu gewöhnen. Schnell zeigte sich auch ihre emotionale Unreife. Hilda war gerade erst achtzehn geworden, als sie heirateten. Sie war ein sehr hübsches Mädchen, das gern auf Partys ging und erwartete, immer im Mittelpunkt zu stehen. Sie hasste es ebenso sehr, die Häuser anderer Leute zu putzen, wie mein Vater seinen Status als Tagelöhner in der Bäckerei eines anderen verabscheute. Arthur war ebenfalls nicht unattraktiv für das andere Geschlecht. Er war athletisch und sah sich selbst als großen Sportler, insbesondere Fußballspieler. Bei diesen Gelegenheiten lernte er andere Frauen kennen. Hilda erfuhr schließlich von seinen Affären, was die Ehe umso mehr belastete.

    Meine Eltern waren sieben Jahre verheiratet, als Hilda bemerkte, dass sie schwanger war. Wie die meisten Einwanderer hatten Arthur und Hilda anfangs wenig Geld. Doch im Gegensatz zu vielen anderen hatten sie Familie in der Nähe und zwei regelmäßige Einkommen. Sie mussten keine weiteren Kinder durchbringen, während zahlreiche andere Einwanderer hart arbeiteten, um für Essen und Kleidung für ihre wachsende Kinderschar zu sorgen. Daher ist es für mich bis heute zu schwer zu verstehen, was dann geschah.

    Als ich als Teenager meiner Mutter zum ersten Mal wieder begegnete, erzählte sie mir, dass sie, nachdem sie von der Schwangerschaft mit mir erfahren hatte, nach Hause ging und anfing, den Kühlschrank umherzuschieben, in der Hoffnung, dass sie durch die Anstrengung eine Fehlgeburt erleiden würde. Als das nicht funktionierte, ergab sie sich wütend in ihr Schicksal. Am 7. November 1934, im Alter von 25 Jahren, gebar sie eine Tochter, Eleanor Drechsler.

    Während Hilda erbost die Verantwortung ablehnte, ein Kind großzuziehen, war Arthur wütend, weil ich kein Junge war. So erzählte es mir zumindest damals meine Mutter. Ich habe keinerlei Erinnerung an diese Zeit. Doch aus anderen Dingen, die mir Hilda irgendwann berichtete, schloss ich, dass sie mich wechselweise völlig ignorierte oder anzog wie ein Sammlerpüppchen. Auf den wenigen Fotos, die ich von meiner Kindheit habe, sieht man tatsächlich ein süßes Baby mit üppigen schwarzen Locken und großen Augen. Wenn meine Mutter mich ihren Freundinnen präsentierte, trug sie Rouge auf meine Wangen auf und schminkte meine Lippen.

    Wenn Hilda oder Arthur geglaubt hatten, dass ein Kind sie einander wieder näherbringen würde, hatte sich das als abgrundtiefer Irrtum entpuppt. Laut meiner Mutter war mein Vater eifersüchtig auf jedes bisschen Aufmerksamkeit, das sie mir schenkte. Nichts von dem, was später geschah, wies darauf hin, dass Arthur mehr Interesse an seiner kleinen Tochter hatte als Hilda. Was schließlich darin gipfelte, dass sie beschloss, mich wegzugeben. Ihre Hoffnung, wie sie mir später erläuterte, war, dass ihre instabile Beziehung mit ihrem Mann sich verbessern würde, wenn kein zweijähriges Kind mehr um sie herumtanzte. Doch auch dies erwies sich als abgrundtiefer Irrtum.

    Trotzdem buchte Hilda eine Überfahrt für sich und mich auf einem Schiff nach Deutschland. Als wir bei meinen Großeltern in Plauen angekommen waren, fing sie an, von Tür zu Tür zu gehen und zu fragen, ob jemand ein kleines Mädchen namens Eleanor haben wollte. Als Oma Elsa erfuhr, was Hilda da tat, wurde sie fuchsteufelswild.

    „Du bist eine schreckliche Frau!, schrie sie Hilda ins Gesicht. „Was für eine Mutter gibt ihr kleines Kind weg? Raus aus meinem Haus. Ich will dich nie wieder sehen!

    Hilda verließ das Haus und sah ihre Eltern tatsächlich nie wieder. Doch sie beharrte hartnäckig darauf, dass sie allein in die USA zurückkehren würde, ohne Rücksicht darauf, ob mich jemand aufnahm oder nicht. Was geschehen wäre, wenn es wirklich so weit gekommen wäre, werde ich nie erfahren. Doch an diesem Punkt traten die jüngere Schwester meiner Mutter, Tante Lisbeth, und ihr Mann Walter auf den Plan. Sie waren zwar nicht reich, aber führten einen erfolgreichen Schönheitssalon und waren nun etliche Jahre verheiratet, ohne eigene Kinder bekommen zu haben. Sie willigten ein, mich aufzunehmen. Hilda übergab ihnen meine Geburtsurkunde und andere wichtige Dokumente, bevor sie wieder Segel gen New Jersey setzte.

    Eines der merkwürdigsten Details an dieser Geschichte ist, dass Arthur nie fragte, was Hilda mit mir gemacht hatte, als sie ohne sein einziges Kind wieder nach Hause kam. Die Geschichte, die Hilda Freunden und Familie erzählte, die danach fragten, war, dass ich in Plauen krank geworden sei und sie mich dort gelassen habe, damit meine medizinische Behandlung fortgesetzt werden könne. Doch sie erklärte nie,

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1