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E-Death: K®1M1N4£®0M4N
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eBook408 Seiten4 Stunden

E-Death: K®1M1N4£®0M4N

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Über dieses E-Book

Die überarbeitete Neuausgabe des ursprünglich 2017 erschienenen Krimis über die Schattenseiten von Social Media.Freiwillig geben viele Menschen jeden Tag ihre Daten den verschiedensten Apps gegenüber preis. Was passiert, wenn sie in die Hände einer wirklich kranken Person gelangen? Denn es gibt eine solche Person. Sie macht sich die Sorglosigkeit zunutze mit der diese Menschen ihre Smartphones mit Daten füttern, um ihre ganz persönlichen Ziele zu verfolgen.
SpracheDeutsch
HerausgeberC. Raabe
Erscheinungsdatum1. Juni 2021
ISBN9783982064567
E-Death: K®1M1N4£®0M4N

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    Buchvorschau

    E-Death - C. A. Raabe

    1

    Mein Leben endet, als ich gerade 12 Jahre alt geworden bin.

    Ich bin im Garten hinter dem Haus und sortiere das Totholz, das ich heute Morgen aus dem angrenzenden Wald geholt habe, weil ich es zum Trocknen auslegen will. Die Luft ist kalt heute – man kann den sich heranschleichenden Winter schon erahnen. Bald werden wir alles Holz brauchen, das ich heranschaffen kann. Ich hoffe, dass Vater mit meiner Ausbeute zufrieden ist – wenigstens heute einmal.

    Als hätte er meine Gedanken spüren können, schallt plötzlich seine Stimme durch das halb offene Fenster zu mir heraus.

    »He, Nichtsnutz. Komm rein. Deine Mutter will dich sehen.«

    Mutter! Bei diesem Wort stellen sich meine Nackenhaare spontan auf. Die Haut an meinen nackten Unterarmen beginnt, unangenehm zu kribbeln, so als ob eine Schar Insekten dort hin und her kriechen würde.

    Nein, lass mich. Ich möchte lieber noch ein paar Klafter Holz sammeln, will ich zurückrufen. Aber ich drehe mich langsam um und trotte zum Haus. Ungehorsam mag Vater nicht. Ich weiß, was dann passiert.

    »Mach schon. Wer weiß, wie lange sie noch hat.«

    Seine Stimme empfängt mich, als ich zögernd durch die Eingangstür trete. Wie eine Stahlklammer umfasst sein Griff meine Schulter. Damit bugsiert er mich – schneller, als mir lieb ist – den Gang hinunter auf eine Tür zu. Eine Tür mit abblätterndem roten Anstrich. Die Tür, hinter der sie auf mich wartet.

    Ich lege eine Hand auf die Klinke und drücke sie langsam hinunter. Kurz schaue ich über meine Schulter, in der Hoffnung, ein aufmunterndes Nicken zu sehen. Aber ich sehe nur den durchbohrenden Blick zweier stahlblauer Augen in seinem hageren Gesicht.

    Also trete ich ein.

    Wärme schlägt mir aus dem halbdunklen Zimmer entgegen. Wärme und der Geruch. In diesem Moment wird mir bewusst, dass ich vor Anspannung die Luft angehalten hatte, als ich vor der Tür stand. Also muss ich nun Luft holen, ob ich will oder nicht. Ich versuche, es schnell hinter mich zu bringen und nehme einen kurzen tiefen Atemzug. Sofort wird mir von dem Gestank speiübel.

    Warum kann ich denn nicht einmal etwas richtig machen? Ich hätte mir die Nase zuhalten sollen.

    Aber jetzt ist es zu spät. Mühsam gegen den Würgereiz ankämpfend taste ich mich an der Wand entlang und versuche dabei, flach zu atmen.

    Das wird schon wieder, sage ich mir. Der Mensch gewöhnt sich an alles.

    »Bist du das, Liebling?«, reißt sie mich aus meinen Gedanken.

    »Ja, Mutter. Ich bin’s. Wie geht es dir?«

    »Blendend, mein Herzblatt«, antwortet sie mit einer röchelnden Stimme, die das Gesagte Lügen straft. »Komm doch her und setze dich ein bisschen zu mir.« Darauf folgt ein Hustenanfall, der nicht enden zu wollen scheint. Ihr Gesicht läuft dunkelrot an.

    Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass es auch ihr letzter sein kann. Bin ich ängstlich? Erleichtert? Ich kann es nicht sagen.

    Doch dann ist er vorüber. Ihr nun wieder blasses, teigiges Gesicht verzieht sich zu einem Lächeln. Ich zumindest weiß, dass es ein Lächeln sein soll, denn in den letzten vier Jahren hatte ich genug Gelegenheit, mir jede ihrer Regungen einzuprägen. Ich brachte ihr Essen und habe ihr vorgelesen. Als sie noch in der Lage war, sich zu bewegen, habe ich ihr bei der Körperpflege geholfen. Aber das ist lange her. Nun liegt sie nur noch auf ihrem Lager. Mehr lässt ihr schieres Gewicht nicht zu. Und ich kann nichts dagegen tun.

    Mit einer kaum merklichen Bewegung ihrer Finger winkt sie mich zu sich heran.

    Ich trete näher. Inzwischen habe ich mich tatsächlich an den Geruch gewöhnt – einer Summe aus Schmutz, Schweiß und den Ausdünstungen ihrer schwärenden Wunden. Neben dem Lager, das nur aus auf dem Boden liegenden Matratzen und einigen Decken besteht, lasse ich mich nieder.

    Die fleischigen Arme meiner Mutter heben sich ein wenig, so dass ich mich an sie anlehnen kann. Dann fallen sie wieder herunter und begraben mich fast unter sich.

    Eine ganze Stunde sitzen wir so da, während sie mir Dinge erzählt, die ich schon kenne, und andere Dinge, die ich niemals wissen wollte. Zwischendurch gibt sie mir immer wieder zu verstehen, dass ich ihr etwas Essbares in den Mund stecken soll. Selbst dazu ist sie nicht mehr allein in der Lage. Schließlich dämmert sie weg. Ich bemerke es nur daran, dass die beständige Aufforderung zur Hilfe bei der Nahrungsaufnahme unterbleibt.

    Mühevoll winde ich mich aus ihrer Umarmung. So schnell es mir möglich ist, verlasse ich diesen Albtraum eines Zimmers. Als ich die Tür hinter mir geschlossen habe, muss ich mich kurz dagegen lehnen, so sehr hat die vergangene Stunde an mir gezehrt.

    »Ich kann das nicht mehr«, denke ich. Oder habe ich es laut gesagt?

    In diesem Moment wird mir klar, dass er direkt vor mir steht. Mein Vater. Er sieht mich mit forschendem Blick an. Ein weiteres Mal überlege ich fieberhaft, ob ich gesprochen oder gedacht habe.

    »Möchtest du dich einen Moment ausruhen?«, fragt er mich mit einer weichen Stimme, die ich noch nie von ihm gehört habe.

    Überrascht blicke ich ihn an. Auch in seinen Augen sehe ich nicht die übliche Härte und Strenge.

    »Nein, danke Vater«, erwidere ich perplex. »Ich glaube, ich brauche noch etwas frische Luft.«

    »Dann tu das. Geh nach draußen. Vielleicht kannst du noch nach etwas mehr Holz im Wald suchen.«

    Mit offenstehendem Mund schaue ich ihn an und nicke abwesend. Dann setze ich mich in Bewegung und gehe nach draußen. Dort überlege ich kurz, ob ich zuerst noch die bereits gesammelten Äste zu Ende sortieren soll, aber ich will hier weg.

    Also mache ich mich auf den Weg zum Wald. Die ganze Zeit über kreisen meine Gedanken um das seltsame Verhalten meines Vaters.

    Ist etwas geschehen, das diese Veränderung bei ihm bewirkt hat?

    Oder habe ich es mir in meiner Erschöpfung nur eingebildet?

    Kurz bevor ich den Wald erreiche, höre ich einen Knall. Ich zucke nicht einmal zusammen. Es gibt viele offizielle Jäger hier im Wald – von den Wilderern ganz abgesehen. Eigenartig kommt es mir nur vor, dass das Geräusch nicht aus dem Wald, sondern von hinter mir zu kommen schien.

    Das Suchen nach Holz dauert lange – immerhin habe ich den nahe zu unserem Haus liegenden Teil des Waldes bereits abgesucht. Aber ich habe das Gefühl, dass mich die Tätigkeit befreit – zumindest meinen Geist, den ich herumwandern lasse, genauso, wie es meine Füße auf dem Waldboden tun. Doch irgendwann gehe ich nicht mehr weiter, da ich weiß, dass ich das gesammelte Paket ja auch wieder nach Hause schaffen muss.

    Als ich aus dem Unterholz hervortrete, sehe ich ein Auto vor dem Haus stehen. Eigenartigerweise ist es über und über beladen. Selbst der Anhänger sieht bis zum Platzen gefüllt aus. Ich trete näher, um mir das Ganze genauer zu betrachten. Da sehe ich Vater aus der hinteren Tür treten.

    Eben will ich mich dazu aufraffen, ihn zu fragen, was es mit dem Auto auf sich hat. Er mag es nicht, wenn ich ungefragt rede – von Fragen ganz zu schweigen.

    Da höre ich einen gedämpften Knall aus dem Haus, das von einem seltsam vertrauten Brausen gefolgt wird. In dem Moment, als mein Gehirn dem Geräusch eine Bedeutung zuordnet, schlagen die ersten Flammen aus der offenen Tür. Fassungslos starre ich auf das Inferno, das nun auch hinter den Fenstern lodert.

    Mit einem Aufschrei renne ich auf die Tür zu.

    Meine Sachen, Rex unser Hund, Mutter!

    Vater streckt einen seiner sehnigen Arme aus, als ich gerade an ihm vorbeistürmen will, und ich bleibe daran hängen. Der Aufprall presst die wenige Luft, die sich noch in meinen Lungen befindet, heraus.

    »Es ist alles in Ordnung. Alles, was du brauchst, ist schon im Wagen.«

    Bis seine Worte weit genug in meinen Verstand dringen, um auch nur ansatzweise einen Sinn zu ergeben, sehe ich ihn verständnislos an.

    »Mama ... Rex«, keuche ich atemlos.

    »Rex sitzt im Wagen und deine Mutter hat es überstanden.«

    Wieder dauert es eine Ewigkeit, bis ich meine, zu verstehen. Mit aufgerissenen Augen starre ich in sein Gesicht. Dort erkenne ich aber nichts von dem verständnisvollen Zug, den es vorhin noch hatte.

    Ohne eine Spur von Bedauern in der Stimme sagt er: »Ich habe deine Mutter von ihrem Leid erlöst. An der Situation, in die sie sich selbst gebracht hat, wäre nichts mehr zu ändern gewesen. Auch du hast vorhin gesagt, dass es so nicht mehr weitergeht.«

    »Ich habe ... ich hab doch nicht ...«, beginne ich, aber er fährt mir über den Mund.

    »Was fällt dir ein, zu sprechen, ohne dass du dazu aufgefordert wurdest?!«

    Doch dieses Mal kennt meine Seele kein Halten. Mit sich überschlagender Stimme schreie ich Worte, die ich niemals im Leben wieder zurücknehmen kann. Ich trete um mich, schlage, versuche zu kratzen. Aber nichts davon scheint Vater zu erreichen. Ein eiskaltes Lächeln umspielt seinen Mund, während er mich an seinem ausgestreckten Arm zappeln lässt.

    Ein weiterer Knall, diesmal wesentlich lauter, lässt uns beide zusammenfahren. Das Fenster zur Linken explodiert in einem Feuerball.

    Mutters Zimmer!

    Vater hat mich aus seinem Griff verloren, und ich plumpse zu Boden. Sofort springe ich auf. Ich versuche, doch noch ins Haus zu gelangen. Obwohl der Feuerball mir alles darüber hätte sagen sollen, was sich im Innern des Zimmers abspielt, habe ich die irrwitzige Hoffnung, dass ich nur schnell genug sein muss, um sie noch retten zu können.

    Ich bin fast an der Tür, als mich eine Hand am Sweatshirt packt und brutal zurückreißt. Auf dem Boden liegend blicke ich nach oben in Vaters Augen, die wieder ihren stählernen Glanz angenommen haben.

    »Jetzt hör mal zu, Nichtsnutz«, herrscht er mich an. »Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich dich nicht einfach da hinein werfe und dich deinem Schicksal überlasse. Du hast noch eine Chance. Steig jetzt in den Wagen und halt verdammt noch mal den Mund.«

    Benommen rappele ich mich auf. Ich stolpere auf das Auto zu. Jetzt wird mir auch die infernalische Hitze bewusst. Wenn ich sie sogar hier draußen so schmerzhaft spüren kann, dann muss es im Haus noch viel schlimmer sein. In diesem Moment wird mir klar, dass dort drinnen nichts und niemand mehr ist, dem ich noch helfen könnte.

    Vater ist schon an mir vorbeigegangen und steht an der geöffneten Autotür.

    »Jetzt mach schon. Wenn das Feuer den Gastank erreicht, dann bleibt hier kein Stein auf dem anderen.«

    Als ob diese Worte ein Startschuss wären, renne ich los und springe in den Wagen hinein.

    »Na bitte. Geht doch. Vielleicht ist mit dir ja doch noch etwas anzufangen«, bemerkt Vater mit einem grimmigen Lächeln auf den Lippen.

    Er startet den Motor und gibt Gas. Trotz des Gewichts all der Dinge, die in ihm und auf dem Anhänger gestapelt sind, macht das Auto einen Satz. Es fliegt fast auf den Waldrand zu, ganz in der Nähe von dem Punkt wo ich vor ein paar Minuten den Schutz der Bäume verlassen habe.

    Oder war es in einem anderen Leben?

    Wir halten auf einen Forstweg zu, der vom Regen der letzten Tage völlig aufgeweicht ist. Die breiten Reifen des Geländewagens pflügen durch den fast flüssigen Schlamm. Zu allen Seiten spritzt er davon, scheint sich hinter uns aber wieder zu schließen, so als ob er unsere Flucht verbergen wollte.

    Ich kauere auf der Rückbank und schaue verzweifelt durch das Heckfenster auf das Haus, in dem ich mein ganzes Leben verbracht habe. Kurz bevor mir die Bäume zu beiden Seiten des Weges die Sicht darauf verdecken, wird es von einer gewaltigen Explosion in tausend Stücke zerfetzt.

    Zusammen mit ihm höre auch ich auf zu existieren.

    2

    »Nein«, keuchte Marc. »Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein ...! Verdammte Sch...! Ich glaub, ich hab das Internet gelöscht.«

    Aus dem Augenwinkel konnte er erkennen, wie seine Tochter ihren Kopf mit der wilden braunen Lockenpracht aus dem Flur in die Küche streckte, wo er tief über den Tisch gebeugt saß, an dem sie morgens frühstückten. Ein Blick auf ihn schien ihr zu genügen, um die Dringlichkeit der anstehenden Aufgabe klar zu machen.

    »Ach, Papi«, sagte Lina, während sie zu ihm humpelte. Sie war anscheinend gerade dabei gewesen, sich ihre Stiefel anzuziehen, denn einer davon baumelte noch von ihrer linken Hand herab.

    Er stand auf und schüttelte das Gerät frustriert. »Wie zur Hölle soll mich so ein Ding zu einem besseren Polizisten machen?«

    »Lass mal schauen«, bemerkte sie in einem geschäftsmäßigen Tonfall, nachdem sie ihm das Objekt des Anstoßes aus der Hand geschnappt hatte.

    Sie tippte und wischte einen Moment lang auf dem Display des brandneuen Modells herum, das erst vor ein paar Tagen seinen Vorgänger ersetzt hatte. Schnell hatte sie gefunden, was sie suchte.

    »Schau mal. Du hast wohl nur ein bisschen zu lange auf das Icon gedrückt. Dann lässt es sich verschieben. Da ist es in dem Ordner für die Apps gelandet, die du nicht brauchst.«

    »Aber das Internet brauche ich doch«, begehrte Marc auf.

    »Ja, is schon klar. Das ist ja auch nur aus Versehen passiert. So, ich ziehe es dir wieder heraus auf deinen Homescreen.«

    »Würde es dir etwas ausmachen, Deutsch mit mir zu reden? Du weißt doch, dass dieser ganze Technik-Kram nicht mein Ding ist.«

    Lina lächelte ihrem Vater zu. »Ist gut, Paps«, sagte sie. Nach einer kurzen Pause ergänzte sie in einem beiläufigen Tonfall: »Wenn du doch eh nicht damit klarkommst, vielleicht solltest du dir besser doch wieder so ein Anrufhandy zulegen.«

    Aber ihre Taktik fruchtete bei dem erfahrenen Ermittler nicht.

    »Und das hier gebe ich dann wem?«, fragte er mit einem Gesichtsausdruck, der erkennen ließ, dass er wusste, was jetzt kam.

    »Jemandem, der etwas damit anfangen kann.«

    »Also dir.«

    Lina setzte ihr entwaffnendstes Lächeln auf.

    »Sorry, Schatz«, sagte Marc und brachte es fertig, tatsächlich etwas wie Bedauern in seiner Stimme anklingen zu lassen. »Du weißt, dass ich lieber früher als später nichts mehr mit diesen Dingern zu tun hätte, aber das ist ein Diensthandy. Das kann ich dir nicht einfach geben. Im Prinzip gehört es ja nicht mir, sondern der Stadt Berlin, die es mir nur freundlicher- oder in meinem Fall wohl eher gemeinerweise zur Verfügung stellt.«

    Lina fuhr fort, sich ihren zweiten Stiefel anzuziehen.

    »Was denn, keine Widerwehr?« Marc zog eine Augenbraue hoch.

    »Ach weißt du, ich glaub, ich werde langsam erwachsen.«

    »Und damit alt genug, ein Smartphone zu bekommen.«

    »Das hast du gesagt«, meinte Lina augenzwinkernd.

    »In der Tat, das habe ich. Dein Wunsch ist hiermit vermerkt. Ob es dann aber ...«

    Marc brach ab, denn in diesem Moment begann das Gerät in seiner Hand in voller Lautstärke den Song »Bad Boys« von »Inner Circle« zu spielen. Fast hätte er es daraufhin fallen lassen.

    »Wow, wo hast du das denn her?«, fragte Lina erstaunt.

    »Hat mir Mike geschickt. Du weißt doch, das ist schon immer unser Song gewesen. Mike Lowrey und Marcus Burnett sind einfach zwei der coolsten Bullen, die es gibt – wenn auch nur im Film.«

    Lina lachte. »Aber wie hast du es geschafft, den Klingelton einzurichten? Bei dem alten ...«

    Das brüllende Klingeln verstummte.

    »Das war ja auch ein ganz anderes Modell«, entgegnete Marc stolz. »Das hier hat eine viel bessere Benutzerführung. Da ging das fast von allein.«

    Linas Mund klappte auf und blieb offen stehen, ohne dass sie es merkte.

    »Ha, erwischt!«, rief Marc triumphierend. »Du hast es mir abgekauft. Nee, in Wirklichkeit hat Mike das erledigt. Das geht hier ja wohl direkt über nen Computer, und er hat es gestern gleich auf der Dienststelle gemacht.«

    In diesem Moment piepte es mehrmals. Danach fing »Bad Boys« wieder an, durch die Küche zu schallen.

    Marc schaute auf das Display, wo der Text der Nachricht, die er eben bekommen hatte, angezeigt wurde. Schlagartig verdüsterte sich seine Miene, als er las: »Geh ran. Wir müssen los. Es gibt einen Toten.«

    »Muss rangehen. Ist leider kein Spaß«, murmelte Marc in Richtung seiner Tochter. Er gab ihr einen Abschiedskuss auf die Wange, dann nahm er das Gespräch an.

    »Na, hast du endlich herausgefunden, wozu das grüne Symbol auf dem Bildschirm da ist?«, begrüßte ihn Mikes Stimme. Auch wenn die Kurzmitteilung, die er geschickt hatte, erkennen ließ, dass eine dringende Angelegenheit anstand, verlor er doch nie ganz seine scherzhafte Ader.

    »Nee, diesmal nicht. Hatte nur gerade ein Gespräch mit Lina über Smartphones.«

    »Ah, der 16. Geburtstag lässt grüßen«, bemerkte Mike. »Vielleicht solltest du wirklich mal überlegen, ob du ihr eins schenkst. Sie ist ja für einen Teenager schon ziemlich verantwortungsbewusst.«

    Marc schaute auf und konnte erkennen, dass Lina in diesem Moment das Haus verließ. Er seufzte. »Weißt du, ich glaube, das mache ich wirklich.«

    ***

    Lina schloss die Haustür hinter sich und ging auf ihre Freundin zu, die eben im Begriff war, am Gartentor zu klingeln.

    »Oh, du bist schon fertig«, sprach Claudia das Offensichtliche aus.

    »Du klingst so enttäuscht. Ist was?«

    »Ach, ich ... aber ist ja auch egal«, murmelte Claudia und ein Hauch von Rosa überzog dabei ihre Wangen.

    Lina schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Kann es sein, dass du meinem Paps noch kurz ‘Hallo’ sagen wolltest?«

    »Ich ... wie ... kommst du denn da drauf?«

    Lina legte den Kopf schräg und schaute ihre Freundin nur stumm an.

    »Okay, okay, ich geb’s ja zu. Er ...«

    »Nicht du auch noch«, bemerkte Lina kopfschüttelnd, aber mit einem Schmunzeln.

    »Wieso auch?«

    »Letztens waren Karen und Sanne bei mir zum Lernen. Aber als Paps nach Hause gekommen ist, konntest du das voll vergessen. Die haben die ganze Zeit nur noch im Wohnzimmer rumgehangen und ihn dabei angeschmachtet, wie er im Garten nen Baum gepflanzt hat.«

    »Nicht dein Ernst.«

    »Doch, echt.«

    »Aber du musst schon zugeben, dass er ein ziemlich hei...«, begann Claudia.

    »Mann, er ist Anfang vierzig ... und mein Vater!«, fuhr Lina auf.

    »Na gut, dann einigen wir uns darauf, dass er ein ziemlich cooler Typ ist. So von außen betrachtet.«

    »Das lass ich mal gelten. Aber an seinem Technikverständnis müssen wir noch arbeiten.«

    ***

    Vierzig Minuten später stieg Marc aus seinem Dienstwagen und ging einen breiten Sandweg entlang, der in einen Park führte. Rings um ihn her spross das frische Grün aus den Zweigen der Bäume. Narzissen, Tulpen und auch die ersten Pfingstrosen zauberten bunte Tupfen in die Umgebung. Die Luft war angenehm frisch. Der Sonne, die an einem fast wolkenlosen Himmel stand, gelang es, durch ihre Strahlen seinen Rücken mit angenehmer Wärme zu überziehen. Alles in allem war dies eine Szenerie, die förmlich danach rief, sie in sich aufzusaugen und zu genießen.

    Ihm stand im Moment jedoch ganz und gar nicht der Sinn nach Genuss. Er bemerkte die Schönheit um ihn herum nicht einmal, da er auf dem Weg zu einem Tatort war. Schon von weitem konnte er die Absperrbänder sehen, die die Kollegen von der Spurensicherung bereits gespannt hatten. Er wappnete sich innerlich für den Anblick, der sich ihm gleich bieten würde. Selbst nach all den Jahren im Polizeidienst und einigen davon im Dezernat für Gewaltverbrechen konnte er sich einfach nicht daran gewöhnen, unter welch fürchterlichen Umständen das Leben mancher Menschen ein Ende fand.

    Als Marc unter der Absperrung hindurchgegangen war, erhaschte er einen ersten Blick auf das, was vor ihm auf dem Boden lag. Spontan wusste er, dass alles Wappnen bei dem Anblick, der sich ihm bot, nichts nützen würde. Im ersten Augenblick schoss ihm »Lina!« durch den Kopf. Dann jedoch ließ der Schreck nach. Er begann, die Unterschiede zu seiner Tochter wahrzunehmen. Abgesehen von der langen braunen Mähne, die der von Lina zum Verwechseln glich, war die junge Frau dort auf dem Boden um einiges größer. Sie war auch sehr viel dünner. Außerdem trug seine Tochter nie solche Klamotten oder wenn sie es täte, dann dürfte sie sich auf ein längeres Gespräch mit ihm gefasst machen.

    Die Tote hatte unter einem Mantel aus schwarzem Lackleder das an, was in den feuchten Träumen mancher Männer vermutlich als Schulmädchen-Kostüm bezeichnet werden würde: ein extrem kurzer dunkelblauer Falten-Minirock, Lackschuhe mit weißen Kniestrümpfen und eine Matrosenbluse, die ebenfalls einmal weiß gewesen war. Nun hatte sie zum großen Teil die hässlich rot-bräunliche Färbung von angetrocknetem Blut. Blut, das sich außerdem in einer großen Lache um sie herum ausgebreitet hatte. Woher es gekommen war, ließ sich unschwer erkennen. Direkt unterhalb ihrer linken Wange befand sich im Hals ein klaffender, ausgefranster Riss.

    »Ja, Mann, das ist heftig«, erklang Mikes Stimme hinter Marc.

    »Das kannst du aber richtig laut sagen«, bemerkte Marc müde. »Wie ich sowas hasse. Das arme Ding. Hast du schon irgendwas rausbekommen?«

    »Na ja, aus den Zeugen, die sie gefunden haben, ist nicht viel herauszubringen gewesen. Kein Wunder bei dem Schreck, den sie bekommen haben. Ich mein: Stell dir mal vor, du willst einfach nur mit deiner Freundin nen kurzen Lauf durch den Park machen, bevor du zur Arbeit fährst. Dann biegst du um ne Ecke und siehst das hier.«

    »Jo, kann ich nachvollziehen.«

    »Aber die Papiere haben uns das eine oder andere erzählt. Cindy Sommer heißt sie, 25 Jahre, wohnt in Pankow. Außer dem Ausweis hatte sie noch ein paar Kassenzettel aus ihrer Wohngegend, ne BVG-Karte, ein paar Visitenkarten und 375,26 Euro in ihrem Portemonnaie.«

    Marc pfiff durch die Zähne. »Okay, dann können wir Raub als Motiv wohl ausschließen.«

    »Sieht so aus«, bestätigte Mike. »Wollen wir dann erst mal zurück in die Dienststelle?«

    »Glaub schon. Die Jungs von der SpuSi haben das ja alles im Griff. Wenn’s keine offensichtlichen weiteren Zeugen gibt, dann können wir uns dort weitere Gedanken machen.«

    ***

    Wenig später saßen sie einander an ihren Schreibtischen gegenüber und starrten auf die Bildschirme ihrer Computer.

    »Hast du schon was?«, ließ sich Mike bald von der anderen Seite des Schreibtischs vernehmen.

    Marc ließ die Quittungen, die er in der Hand hielt, sinken. »Nicht wirklich. Kassenbelege eben. Ein Bio-Laden, ein Blumengeschäft und ... Moment mal ... das hier ist nicht aus dem Wohnumfeld.« Er gab die Adresse in die Suchmaschine ein. »Oh ... na ja, war eigentlich klar. Solche Läden gibt’s wahrscheinlich nicht überall.«

    »Wie jetzt?«

    »Der Beleg hier ist von nem Laden in der Uhlandstraße. Da wird sie wohl ihr Outfit herhaben.«

    »Ah, ich verstehe. Lohnt es sich, dass ich mir die Internetseite auch anschaue?«

    Marc rollte mit den Augen und sah seinen Partner über die Bildschirme hinweg an.

    »Tu, was du nicht lassen kannst. Aber vielleicht machst du diese Recherche dann von zu Hause aus.«

    »Wofür hältst du mich?«, kam es von Mike zurück. »Aber jetzt mal im Ernst. Die Klamotten müssen nicht unbedingt ihrem persönlichen Geschmack entsprochen haben. Vielleicht war es auch nur Arbeitsbekleidung. Sie hat im letzten Jahr in zwei verschiedenen Clubs auf oder an der Oranienburger gearbeitet.«

    »Hmm, meinst du, dass wir uns dann auf diese Szene konzentrieren sollten?«

    »Kann sein. Ich seh aber gerade, dass sie nicht allein gewohnt hat. Die Wohnung ist auf zwei Namen angemeldet.«

    »Okay, dann lass uns doch erst mal da nachfragen.«

    »Wer zuletzt am Auto ist, muss fahren«, rief Mike, sprang auf und war aus dem Büro, noch bevor Marc sich seine Jacke genommen hatte.

    Wie im Kindergarten, dachte er kopfschüttelnd. Dann breitete sich ein Lächeln auf seinen Zügen aus und er rannte los – nicht hinter seinem Partner her, sondern in die andere Richtung. Im Treppenhaus nahm er mehrere Stufen auf einmal, stieß sich an den Wänden ab und nutzte den Schwung, um sich über das Geländer auf die weiter unten liegenden Treppen zu schwingen. Als Mike durch die offene Tür auf den Parkplatz rannte, lehnte Marc sich bereits an den Dienstwagen – zwar schwer atmend, aber mit einem breiten Grinsen.

    »Boh, wie hast du das denn nun schon wieder geschafft?«

    »Ich betreibe hin und wieder Sport und dieser ganz spezielle nennt sich Parcours. Solltest du vielleicht auch mal wieder machen.« Augenzwinkernd klopfte Marc seinem Partner mit der flachen Hand auf den leichten Bauchansatz, der unter seinem Hemd erkennbar war. Dann warf er ihm die Autoschlüssel zu und stieg auf der Beifahrerseite ein.

    ***

    Als ihnen die Tür, auf deren Klingelschild »Langer/Sommer« stand, geöffnet wurde, hob Marc seinen Dienstausweis, um ihn der im Türspalt stehenden Frau zu zeigen. Er war im Begriff, sich vorzustellen, als ihr bereits Tränen in Strömen aus den Augenwinkeln liefen.

    »Cindy ist was passiert«, sagte sie tonlos.

    »In der Tat, Frau ... Langer?«, setzte er erneut an.

    Doch die Frau schien ihn nicht gehört zu haben. »Sie ist ... ist sie?«, krächzte sie. Dann versagte ihr die Stimme.

    Marc nickte. »Wollen wir das nicht besser in Ihrer Wohnung besprechen?«

    Wortlos drehte die Frau sich um und verschwand hinter der halb offen stehenden Tür. Kurz danach konnten sie ein »Kommen Sie!« hören.

    Die beiden folgten ihr bis in eine offene Küche mit einem in den Wohnbereich hineinragenden Tresen, an dem zwei Barhocker standen.

    »Entschuldigung«, murmelte die Frau und wies mit fahrigen Bewegungen auf die Hocker. »Das ... ich weiß gar nicht, wie man ...« Sie trocknete ihr tränenfeuchtes Gesicht mit dem Ärmel

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