Rocketman Fred
Von Matthias Grau
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Über dieses E-Book
Der Roman "Rocketman Fred" beschreibt humorvoll den alltäglichen Horror einer kleinen Dorfsiedlung und die Folgen der unerwarteten Paketlieferung. Dabei orientiert sich die Geschichte auch am immer weiter eskalierenden Irrsinn unserer modernen Zeit.
Matthias Grau
Der 1968 geborene Autor kam neben Kinderbüchern auch frühzeitig mit wissenschaftlichen Schriften in Kontakt. Dennoch entschied er sich gegen eine akademische Laufbahn, erlernte einen kaufmännischen Beruf und wechselte später in die Werbebranche, wo er seine ganze Kreativität ausleben konnte. 2015 veröffentlichte er seinen Debütroman „Erdenend – Das Ende der Welt“, wenig später folgte „Kuschel und die Sommerferien“, ein lustiges Buch für große Kinder und kleine Erwachsene sowie weitere Bücher.
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Buchvorschau
Rocketman Fred - Matthias Grau
Einleitung
Und immer schön daran denken:
Mit einem abwechslungsreichen, interessanten Leben machen Sie irgendwo am anderen Ende der Welt einen armen, unterbezahlten, persönlichen digitalen Assistenten sehr glücklich!
Warnhinweis für Allergiker
Der Inhalt dieses Werkes ist zu 99,9 Prozent frei von Corona. Es könnte jedoch Restbestandteile von Sarkasmus enthalten. Das ist die garstige, hässliche Schwester der Ironie. Und selbst die ist schon nicht besonders hübsch.
Endlich Wochenende!
Endlich Wochenende! Der Freitag war wie immer nur schleppend vorangekommen. Montage huschten stets rasch vorbei, fand Manfred, der seit seiner Lehre zum Buchhalter nun schon … tja, wie lange eigentlich … in der kleinen privaten Steuerberatungsgesellschaft arbeitete?
Er suchte im Inneren seines mausgrauen Mantels nach der elektronischen Berechnungsapparatur und schämte sich ein bisschen dabei. Früher hätte er so einfache Zahlen schnell im Kopf ausgerechnet. Aber sein Kopf war müde geworden. Die ermattende Eintönigkeit seines Lebens hatte ihre Spuren hinterlassen. Der Kopf war ohnehin viel zu schade für solch schnöde Dinge wie Rechnen.
Auch die Augen machten nicht mehr so mit wie früher. Aus Faulheit. Für Optiker ein gutes Geschäft. Sein Kollege, Helmut Rindiger, 41 Jahre alt, Geburtstag 14. Juli, Staatsangehörigkeit Deutsch, Geburtsort Hinterunterkleinsttrödelingen, Augenfarbe braun, Haarfarbe braun, Größe 176 cm, Gewicht 94 kg, Anschrift 05180 Hinterunterkleinsttrödelingen, Letzte Reihe 3, hatte ihm erzählt, er hätte als Kind nicht gut sehen können, aber statt ihm eine Brille zu verpassen, schleiften ihn die Eltern jede Woche zweimal in eine Sehfähigkeitsverbesserungslehranstalt für Kinder. Dort lernten die Kleinen, ihre Augen auf unterschiedlich weit entfernte Ziele zu fokussieren, immer abwechselnd von ganz nah über mittel bis weit weg und wieder zurück, um sie so zu trainieren. Und es funktionierte! Den Augen fiel es mit der Zeit immer leichter, sich schnell auf wechselnde Entfernungen einzustellen. Helmut Rindiger sah alles scharf, egal wie nah oder weit entfernt es war.
Manfreds Augen waren nicht trainiert. Wozu auch, es gab in seinem Leben nichts Interessantes mehr zu sehen. Nur das dunkle, graue, karge Büro mit den summenden Leuchtstoffröhren und den künstlichen Zimmerpalmen, sein liebloses zweietagiges Einfamilienhaus, die immer gleichen gesichtsähnlichen Vorderansichten seiner Familienmitglieder und Kollegen. Bei einigen Kollegen war er sich aus verschiedenen Gründen nicht einmal sicher, ob das, was sie an der Vorderseite ihres Kopfes mit sich herumtrugen und der Umwelt präsentierten, überhaupt noch der Definition eines Gesichts entsprach. Sicherheitshalber schlug er den Begriff in einem Internetlexikon nach. Die dort aufgefundene Beschreibung ergab tendenziöse Hinweise auf eine Erfüllung aller notwendigen Parameter, aber Manfred vermutete einen Interessenskonflikt und lobbyistische Verstrickungen seitens der Lexikonbetreiber, daher blieb er lieber bei seiner Unschlüssigkeit.
Aus der anderen Manteltasche fingerte Manfred die Brille heraus, legte die Pads des Seitenstegs auf der Nase ab und verhakte die Bügel des klobigen Gestells hinter seinen leicht abstehenden Ohren. Die Brille begleitete ihn auch schon seit den Achtzigern – kantig, groß, viereckig, aus hellbraunem, inzwischen etwas rissigem Kunststoff. Er hatte sie irgendwann nach einer ärztlichen Untersuchung in der Schule verschrieben bekommen, weil er dem Unterricht kaum noch folgen konnte, was mit zunehmendem Schwierigkeitsgrad des zu vermittelnden Lehrstoffes irgendwann auffiel.
Die Gläser schienen fast blind, so verschmiert wie sie waren. Manfred putzte sie nie, vielleicht weil er sie eigentlich nicht tragen wollte, denn die Augen entspannten sich mit Brille und wurden dadurch immer schlechter.
Vielleicht sollte ich öfter mal im Kopf rechnen. Auch das Gehirn will trainiert werden, wusste Manfred. Aber er wollte nicht. Nicht mehr. Denken war anstrengend, es kostete Energie und führte nur zu weiteren, überwiegend unangenehmen Gedanken. Zum Beispiel über sein trostloses Leben. Sein schmuckloses Haus. Seine herzlose Frau. Seine hoffnungslos missratenen Kinder. Seine geistlose berufliche Tätigkeit.
Er tippte das aktuelle Jahr in den Taschenrechner, drückte die Minustaste. Nun das Jahr seines Firmeneintritts. Ist-gleich-Taste.
Meine Güte! So lange schon ertrug er die stupide Zahlenhantiererei! Und das war noch vornehm ausgedrückt! In Wirklichkeit war sie so elendig langweilig, dass es Menschen gab, die sie lieber andere Menschen machen ließen und ihnen sogar freiwillig Geld dafür zahlten.
Er steckte den Rechner wieder weg und schaute zum Handgelenk. Siebzehn Uhr, achtundzwanzig Minuten und elf Sekunden. Die DIN-Norm-VDE-0833-gerechte Einbruchmeldeanlage quittierte die Eingabe der Sicherheitskombination mit leisem Piepsen. Dann ein längeres Piepsen. Es bedeutete, er hatte zehn Sekunden Zeit, das Büro zu verlassen. Griff zur Klinke, runterdrücken, Tür öffnen, rausgehen, Tür schließen, Schlüssel ins Schloss, herumdrehen, Blick nach unten zum Handgelenk. Siebzehn Uhr, neunundzwanzig Minuten und sechsunddreißig Sekunden. Manfred verfolgte den dünnen Sekundenzeiger auf seiner Bahn bis zum Zenit des Zifferblattes. Oder was er dafür hielt, denn die fast blinden Brillengläser ließen nur unscharfe Konturen der schnörkellos rationalen, quarzstabilisierten Herrenarmbandzeitmesseinrichtung erahnen. Punkt siebzehn Uhr dreißig zog er den Schlüssel aus dem Schloss.
Er drehte sich zur Personenaufzugsanlage um und tastete suchend nach dem Anforderungsknopf. Seit ein neuer Immobilienspekulant den puritanisch-betonalen Häuserblock, bestehend aus Wohnungen und Geschäftsräumen, übernommen und sich anscheinend verkalkuliert hatte, wurden Reparaturen und Wartungen auf das Nötigste beschränkt. Die Griffe der seit Jahrzehnten nicht gewarteten Fenster waren teilweise abgebrochen, die Etagenbeleuchtung funktionierte nicht, Manfred stand im Dunkeln. Erst die sich öffnenden Türen ließen das Licht der Fahrstuhlkabine den kargen Vorraum erhellen. Manfred stieg ein und drückte auf den Knopf der Tiefgarage: Minus drei. Es knarrte, quietschte und ratterte. Der Fahrstuhl versuchte, die Türen wieder zu schließen. Sie ruckelten hin und her, öffneten sich butterweich, wollten sich wieder schließen, mit demselben geräuschvollen, wenig vertrauenerweckenden Ergebnis. Blitzartig schossen Manfred drei Gedanken durch den Kopf: Fahrstuhl, Wochenende, eingesperrt. Ebenso blitzartig drückte er den Öffnen-Knopf und sprang aus der ächzenden Apparatur. Bloß nicht steckenbleiben! Um diese Zeit war bestimmt kein Servicemitarbeiter mehr zu bekommen, zumindest nicht schnell. Wer weiß, wie lange er in dem Ding eingesperrt wäre, wenn etwas schiefläuft. Die klemmenden Türen waren eine deutliche Warnung, die man besser nicht ignorieren sollte.
Stattdessen lief er die Treppen hinab – Erdgeschoss, minus eins, minus zwei, minus drei. Jetzt noch zweimal um die Ecke, dort stand er: Ein zwanzig Jahre alter Personenkraftwagen blinkte lustlos, als er vom Schlüssel über Funk den Befehl zum Aufschließen der Türen erhielt. Deutsches Fabrikat, untere Mittelklasse, spießig, langweilig und ohne erkennbares Design. Der Lack des Wagens war durchaus gepflegt, kein sichtbarer Rost, weder Kratzer noch Beulen, und dennoch war der Gelbton, eine Mischung aus Pestgrün und Ebolagelb, kein erfreulicher Anblick.
Manfred stieg ein und zog die Tür zu. Der Fahrersitz, verunstaltet mit einem zum Gelbton des Außenbleches vollkommen unpassenden Velourstoff in dunklem Braun, entstellt mit hellgrünen vertikalen Streifen, knarzte in seiner Halterung wie ein altes Sofa. Vermutlich hatte der Entwerfer des Fahrzeugs, denn als Designer konnte man ihn wegen der vollkommenen Abwesenheit jeglichen Verdachtes von Design nicht bezeichnen, dieser Entwerfer also hatte vermutlich wegen heftiger Verdauungsprobleme eine längere Zeit kopfüber in der Sanitäreinrichtung des Feuchtbereichs neben seiner Entwurfsabteilung zubringen müssen, um auf eine derart unappetitliche Gesamtfarbkombination zu kommen.
Manfred fiel das überhaupt nicht auf. Er war kein Augenmensch, schon wegen der ständig verschmierten Brille. Seine Welt bestand nur aus reizlosen Zahlen, und das Einzige, was ihn beim Gebrauchtwagenhändler seines Vertrauens zum Kauf dieser optischen Scheußlichkeit motiviert hatte, war der Preisnachlass. Er registrierte auch nicht, dass Erika, seine Frau, 36 Jahre alt, Geburtstag 24. Juni 1986, Staatsangehörigkeit Deutsch, Geburtsort Hinterunterkleinsttrödelingen, Augenfarbe grün, Haarfarbe blond, Größe 165 cm, Gewicht 962 kg, Anschrift 05180 Hinterunterkleinsttrödelingen, Wiesengasse 17, sich nach ausführlicher Inspektion der attraktivitätsfernen Personenkraftwagenneuanschaffung neben dem Eingang des Gebrauchtwagenmarktes mehrfach übergeben musste, während er den Kaufvertrag unterschrieb.
Gelegentlich wunderte er sich über die aus seiner Sicht unerklärlichen Würgegeräusche, auch über ihre ungewohnte Sprachlosigkeit, wenn sie neben ihm auf dem Beifahrersitz Platz nahm, was ihm an sich aber sehr gelegen kam, denn er mochte allzu kommunikative Menschen nicht. Er mochte auch unkommunikative Menschen nicht. Eigentlich mochte er überhaupt keine Menschen. Die ungesunde Gesichtsfarbe, die sich auf Erikas Gesicht zeigte, sobald sie das Auto bestieg, nahm er hingegen nicht wahr – Pestgrün und Ebolagelb.
Nachdem Erikas Gewicht immer weiter anstieg, hatte es sich mit dem Beifahrerdasein sowieso erledigt, denn sie passte nicht mehr ins Auto und verbrachte ihr Leben überwiegend zwischen Wohnzimmercouch und Ehebett. Ohnehin hätte ihre weitere Anwesenheit verkehrsgefährdende Dimensionen angenommen, denn zusammen mit ihrem Gewicht stieg auch das Ausmaß ihres Mundgeruchs bedenklich an.
Minus drei, minus zwei, minus eins. Manfred steuerte das abstoßende Fortbewegungsmittel vorsichtig durch die engen Etagen des Parkhauses der Ausfahrt entgegen. Dort angelangt, blickte er nach links und rechts: alles frei. Freie Fahrt!
Noch bis vor wenigen Jahren hatte Manfred den öffentlichen Nahverkehr genutzt. Inzwischen waren die Fahrgäste unerträglich geworden. Niemand nahm mehr Rücksicht auf andere. Die Leute führten ungehemmt laute Telefonate, besprachen private Dinge vollkommen ungeniert vor Fremden. Junge Menschen standen nicht mehr auf, wenn ältere, gebrechliche Personen einstiegen. Lieber daddelten sie mit tief gesenktem Kopf irgendwelche Spiele oder beschallten Bahn und Bus mit lautem Schrott, denn als Musik konnte man die aus den Brüllwürfeln drängenden Geräusche wegen der vollkommenen Abwesenheit jeglichen Verdachtes von Anmut und Komposition nicht bezeichnen. Auch legten diese jungen Leute ein recht interessantes Gebaren an den Tag, sobald sie einem potenziellen Balzpartner gegenübersaßen. Die Männchen starrten übertrieben desinteressiert aus dem Fenster, die Ohren mit Brüllstöpseln verbarrikadiert, die Weibchen griffen bei Blickkontaktaufnahme hektisch zu ihren Smartphones, um sie gespielt geschäftig auf neue Nachrichten zu überprüfen, die gar nicht da waren.
Wir werden aussterben, dachte sich Manfred und erinnerte sich, wie damals, also zu seiner Zeit, also als er jung war, also als er und Erika, also …
Also damals lernte man sich in der Disko kennen. Das war einfach so. Mann forderte Frau zum Tanzen auf, die zierte sich meist auch nicht. Nicht mal hinterher, nach dem Tanzen. Alles ging ganz schnell, also damals war das so, also …
Es wurde jung geheiratet, viel rummachen war nicht, damals, also …
Also zumindest nicht bei Manfred, denn er sah nicht sonderlich attraktiv aus, auch damals schon nicht, weshalb es mit den Weibchen oft nicht so klappte, wie gewünscht. Doch auch Erika sah nicht sonderlich attraktiv aus, und genau wie Manfred war sie kein Augenmensch, außer in dem einen Moment, als sie den abstoßend hässlichen Gebrauchtwagen in pestgrün und ebolagelb erblickte, sonst eigentlich nie, insofern passte das schon.
Dann kam recht schnell das erste Kind. Ficken können sie alle, nur verhüten eben nicht. Hans, inzwischen 12 Jahre alt, Geburtstag 19. Juni, Staatsangehörigkeit Deutsch, Geburtsort Hinterunterkleinsttrödelingen, Augenfarbe grüngrau, Haarfarbe dunkelblond, Größe 155 cm, Gewicht 59 kg, Anschrift 05180 Hinterunterkleinsttrödelingen, Wiesengasse 17, kurz darauf folgte Renate, heute 11 Jahre alt, Geburtstag 25. September, Staatsangehörigkeit Deutsch, Geburtsort Hinterunterkleinsttrödelingen, Augenfarbe graugrün, Haarfarbe hellblond, Größe 148 cm, Gewicht 50 kg, Anschrift 05180 Hinterunterkleinsttrödelingen, Wiesengasse 17.
Nach dem zweiten Kind hegte Erika allmählich den Verdacht, was da unten herausgekommen war, musste eventuell auch auf diesem Wege hineingekommen sein. Ab da war es vorbei mit dem Geschlechtsverkehr.
Manfred war das egal, auch er hegte gewisse Vermutungen, zum Beispiel die, es könnte eventuell nicht mit rechten Dingen zugegangen sein, als die Lust ihn gepackt und auf dieses schwabbelige, walartige Wesen mit dem strohigen Gestrüpp auf dem Kopf und dem stechenden Mundgeruch geschubst hatte. Man hörte da so einiges, von Hormonen und Enzymen, die den freien Willen beeinflussten, aber nein, bloß nicht nachdenken! Denken war anstrengend, es kostete Energie und führte nur zu unangenehmen Gedanken. Eigentlich hatte er nur ein wenig tanzen wollen, und nun war das dabei herausgekommen, eine Frau, zwei Kinder und ein abzuzahlendes Einfamilienhaus im Grünen.
Nein, Moment mal, das war jetzt unfair, gestand Manfred sich ein, das schwabbelige walartige Wesen, das war nicht ganz korrekt, so hatte Erika ja nicht immer ausgesehen. Anfangs, also damals in der Disko, als er sie das erste Mal zum Tanzen aufgefordert hatte, da sah sie durchaus … nicht gerade schön … auch nicht unbedingt hübsch … sondern eher so … naja … sagen wir mal – libidinös animierend aus. Er hatte sie tanzen sehen, mit recht aufreizenden Bewegungen, die seine Begierde weckten, den Verstand vorübergehend deaktivierten und letztendlich zu dem führten, was nun war. Erst nach der Geburt von Hans veränderte sich Erika. Zuerst einigermaßen ansprechend, dann plötzlich dieses schwammige Mutterwesen, in das sich viele Frauen nach der Geburt ihrer Kinder transformierten, so als wäre es genetisch vorbestimmt, resümierte Manfred ratlos. Wie unter diesen eher ungünstigen Ausgangsbedingungen ein zweites Kind entstehen konnte, war ihm ein unberechenbares Rätsel, daher ließ er die elektronische Berechnungsapparatur diesmal gleich stecken.
Die Autobahn war recht voll um diese Zeit, Berufsverkehr. Manfred hatte eine einfache Regel für seine persönliche Einschätzung: Unterschritt der Abstand des vorausfahrenden Fahrzeugs die minimal zulässige Abstandsmarkierung der Abstandseinhaltungserfassungsvorrichtung, so bezeichnete Manfred das Verkehrsgeschehen kurzerhand als Stau.
Aber es war egal, heute kam er gut voran, nur noch 438 Meter bis zur Autobahnanschlussstellenausfahrt, gab die Navigationsfunktion in der Multifunktionsfarbanzeige des im Armaturenbereich eingebetteten Kombinationsinstruments bekannt, dann 848 Meter die Landstraße entlang, wie Manfred im Internet herausgefunden hatte, einbiegen in den Weg zwischen den Grundstücken der Siedlung „Edles Tannengrün" und 355 Meter fast ganz bis zum Ende durch, zum vorletzten Haus, nahe der langen, breiten Brache, die früher mal ein Feld gewesen war, bis der Landwirt wegen übermächtiger Billigkonkurrenz aus Osteuropa hatte aufgeben müssen.
Manfred stieg aus, öffnete das verrostete Gartentor und fuhr den Wagen aufs Grundstück. Feststellbremse aktivieren, als zusätzliche Sicherung gegen unbeabsichtigtes Wegrollen den ersten Gang einlegen, aussteigen, Tür zu, abschließen, Gartentor schließen, Tür aufschließen, reingehen, Tür zu, Schuhe ausziehen, in die ursprünglich eierschalenweißen, jetzt ergrauten, speckigen Pantoffeln hineinschlüpfen, die mit ihrem rundum abstehenden Kunstfaserfell als Füße zu einem Eisbärenfaschingskostüm gedacht waren, Mantel ausziehen, an den freien Haken der kunstgewerblich anmutenden, verschnörkelten, horizontalen Garderobenaufnahmeeinrichtung hängen, ein Lächeln aufsetzen, ins Wohnzimmer gehen, hallo sagen: „Hallo!"
Das schwabbelige, walartige Wesen mit dem strohigen Gestrüpp auf dem Kopf und dem stechenden Mundgeruch wälzte sich auf der dunkelgrünen Velourcouch herum, versuchte behäbig, seine Beine zu orten, diese nach erfolgreichem Auffinden von der Sitzfläche in Richtung Fußboden zu manövrieren, wo sie nach einem endlos scheinenden Moment mit laut patschendem Geräusch aufschlugen, was ein sekundenlanges Nachvibrieren der um die Schenkel verteilten biologisch abbaubaren Weichgewebemassen zur Folge hatte. Nun bemühte sich der unförmige Rumpf, die nicht weniger voluminösen Arme in Bewegung zu setzen, wobei dem linken Arm von der Schaltzentrale im Kopf die Beibehaltung des Gleichgewichts überantwortet wurde, indem er den Leib neben sich auf dem Sitzpolster abstützte, und der rechte Arm den Befehl erhielt, sich zur wenige Zentimeter entfernt liegenden Fernbedienung auf dem Tisch durchzuschlagen, deren Existenz es überhaupt erst ermöglichte, den nervigen Ton der hirnlosen Vorabendserie für intellektuell überforderte Präkariatsunterschichten leiser zu stellen,