Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Böse Brezelbilder: Stuttgart-Krimi
Böse Brezelbilder: Stuttgart-Krimi
Böse Brezelbilder: Stuttgart-Krimi
eBook297 Seiten3 Stunden

Böse Brezelbilder: Stuttgart-Krimi

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Gereizte Stimmung in der Landeshauptstadt: Weil so viel im Argen liegt, entschließt sich Künstler Albert Bimmel, bei der nächsten Wahl als Oberbürgermeister zu kandidieren. Doch kaum hat er den Entschluss bekannt gegeben, sticht ihn auch schon jemand nieder. Kriminalhauptkommissar Reiner Emmerich denkt, dass die Welt immer verrückter wird. Bei seinen Ermittlungen stößt er nicht nur auf weitere potenzielle Oberbürgermeister, sondern auch auf Merkwürdiges im Internet und Undurchsichtiges in seiner Heimatstadt.
Cover: Heinrich Steinfest
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum11. Nov. 2019
ISBN9783842523043
Böse Brezelbilder: Stuttgart-Krimi

Ähnlich wie Böse Brezelbilder

Ähnliche E-Books

Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Böse Brezelbilder

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Böse Brezelbilder - Steffi Wider-Groth

    Kapitel

    1.

    »Emmerich«, sagte der Chef jovial, »das haben Sie sehr gut gemacht.«

    »Danke«, entgegnete der so Gelobte knapp. Uneingeschränktes Lob vom Chef war selten und diente meist als Einleitung zur Mitteilung unangenehmer Botschaften.

    »Drei Altfälle so gelöst, dass wir die Akten schließen können«, war der Chef jedoch bereits im gleichen, gut gelaunten Tonfall fortgefahren. »Das ist eine schöne Leistung. Auch wenn die Täter leider schon verstorben sind.«

    »Zwei Täter sind verstorben«, korrigierte Emmerich. »Der dritte liegt im Pflegeheim. Alzheimer im Endstadium.«

    »Nun, ja, das ist bedauerlich«, räumte sein Vorgesetzter ein, ohne eine Spur von tatsächlichem Bedauern in der Stimme. »Aber doch auch eine Strafe. Höhere Gerechtigkeit, gewissermaßen.«

    »Wenn Sie meinen«, sagte Emmerich, der sich über sogenannte höhere Gerechtigkeit zwar gelegentlich Gedanken machte, sich der Existenz einer solchen aber keineswegs sicher war. Ob eine Demenzerkrankung als Strafe betrachtet werden konnte, vermochte er nicht zu beurteilen, schließlich traf sie Schuldige wie Unschuldige gleichermaßen, und die bedauernswerten Betroffenen bekamen – im Endstadium zumindest – höchstwahrscheinlich nichts mehr davon mit. Ihn fuchste es eher, wenn es Tätern gelang, ein Leben lang unerkannt zu bleiben und sich schließlich mittels eigenen Ablebens der irdischen Gerechtigkeit zu entziehen.

    Dem Chef aber war in diesem Zusammenhang in erster Linie eines wichtig, weshalb er auch soeben wiederholte: »Hauptsache, die Akte ist geschlossen.« Und er fügte, der Pietät halber, hinzu: »Auch die Angehörigen haben Gewissheit. Endlich.«

    »Im dritten Fall waren keine Angehörigen mehr da«, korrigierte Emmerich erneut.

    »Nun werden Sie nicht pingelig«, überging der Chef auch diesen Einwand in aufgeräumtem Plauderton. »Bei zwei weiteren Altfällen haben Sie neue Spuren aufgetan …«

    »Da sind inzwischen Kollegen aus anderen Bundesländern dran«, beeilte sich Emmerich einzuwerfen. Vorbeugend, um seine gegenwärtige Untätigkeit in den erwähnten Fällen zu rechtfertigen.

    »Unterbrechen Sie mich nicht«, wies ihn der Chef zurecht. »Sie haben außerdem noch einen Mann gefunden, der mit internationalem Haftbefehl gesucht wurde. Einen Mafioso aus dem Schwarzwald.«

    »Das war eher Zufall«, erklärte Emmerich bescheiden. »Beifang, sozusagen.«

    »Da fragt man sich doch gleich«, äußerte der Chef nun etwas forscher, »was ein Mafioso in unserem beschaulichen Schwarzwald verloren hat.«

    »Globalisierung«, antwortete Emmerich lapidar. »Im Schwarzwald geht’s auch nicht beschaulicher zu als anderswo.«

    Er selbst fragte sich längst, warum der Chef ihm all sein Tun während der vergangenen zwölf Monate vortrug. Zwölf Monate, die er vorwiegend im Innendienst verbracht hatte. Lediglich unterbrochen durch gelegentliche kurze, den Nachforschungen dienende Reisen zu Kollegen in anderen Landkreisen und Bundesländern. Beschäftigt damit, sogenannte »Altfälle« zu lösen, bei denen eine fortgeschrittene Kriminaltechnik es ermöglichte, aus den eingelagerten Asservaten neue Spuren herauszuholen. Meist handelte es sich dabei um DNA, genetische Botschaften mutmaßlicher Täter also, die heutzutage besser zu entziffern waren als zur Zeit ihrer Entstehung. Die Träger dieser DNA viele Jahre nach der Tat ausfindig zu machen war mühevolle Kleinarbeit, aber dennoch eine angenehme Tätigkeit. Fast immer ohne Zeitdruck und unter Einhaltung regelmäßiger Arbeitszeiten durchführbar. Manchmal sogar gekrönt durch ein Erfolgserlebnis. Man konnte also sagen, dass Emmerich es keineswegs bereute, sich freiwillig für diese bei vielen Kollegen als »zäh« geltende Aufgabe gemeldet zu haben, von der allerdings bekannt war, dass sie in aller Regel einer zeitlichen Befristung unterlag. Die nächste Frage seines Vorgesetzten traf ihn daher nicht gänzlich unerwartet.

    »Und gesundheitlich? Wieder fit? Blutdruck im Griff und keine Rückenschmerzen mehr?«

    »Wird wohl so sein«, bestätigte Emmerich zurückhaltend die im Grunde genommen ja erfreulichen Ergebnisse seiner letzten betriebsärztlichen Untersuchung.

    »Wie’s halt so ist in unserem Alter, gell?« Der Chef gab ein meckerndes Geräusch von sich, das vermutlich ein verständnisvolles Lachen sein sollte, in Emmerichs Ohren aber nicht so klang. »Man hat seine Zipperlein. Wie heißt es doch so schön: Wacht man mit über fünfzig auf und es tut einem nichts weh, dann ist man tot.«

    »Wenn ich aufwache, lebe ich«, widersprach Emmerich energisch, der von Sprüchen dieser Art nichts hielt. »Davon gehe ich aus, sonst würde ich’s nicht tun. Alles andere ist blanker Unsinn.«

    »Ich wollte ja nur sagen«, reagierte der Chef etwas verschnupft, »man ist so alt, wie man sich fühlt.«

    »Wenn Sie wissen, wie man sich korrekterweise in welchem Alter fühlen sollte. Ich weiß das nämlich nicht.«

    »Sie scheinen heute schlecht gelaunt zu sein«, folgerte der Chef aus dieser Antwort und leitete unvermittelt zum eigentlichen Zweck seines Anrufes über. »Da werden Sie sich freuen, dass Ihr Eremitendasein jetzt ein Ende hat. Ich bin mit Ihrer Leistung sehr zufrieden, nehmen Sie sich morgen frei, ab Montag sind Sie wieder im normalen Dienst.«

    »Gerade hab ich mir die nächste Sache vorgenommen«, machte Emmerich, der sich gar nicht freute, einen halbherzigen Versuch, dieses vorhersehbare Ansinnen vorerst noch einmal abzuwenden. »Der Mord an den beiden Barbesitzern. Über zwanzig Jahre her und immer noch nicht aufgeklärt. Sie erinnern sich bestimmt …«

    »Selbstverständlich. Unvergesslich. Schon wegen des Geruchs. Spektakuläre Angelegenheit gewesen. Aber das kriegt dann der Kollege Kinkel. Der kommt am Montag aus der Reha und braucht noch etwas Ruhe.«

    Emmerich missgönnte dem Kollegen diese Ruhe nicht. Was waren Rückenschmerzen gegen einen Herzinfarkt? Ein Kinderspiel, wahrscheinlich.

    »Dann muss das wohl so sein«, fügte er sich in sein Schicksal, wünschte dem Chef ein schönes Wochenende und legte den Hörer auf. Wenige Sekunden später kam Frau Sonderbar herein. Um ihn zu informieren, dass sie Feierabend mache.

    »Das mach ich auch«, sagte Emmerich mit einem leisen Seufzer und auf seinen Schreibtisch zeigend. »Die Akten von den Altfällen gehen dann weiter an den Kollegen Kinkel. Ab Montag bin ich wieder im normalen Dienst.«

    »Ich weiß«, nickte seine langjährige Sekretärin mit einem feinen Lächeln. Was einmal mehr bewies, dass Frau Sonderbar, was die hausinternen Angelegenheiten anging, stets weitaus besser informiert war als er selbst. »Um die Akten kümmere ich mich morgen. Am Montag ist der Schreibtisch leer.«

    »Wenn ich Sie nicht hätte …«, gab Emmerich den mutmaßlich meistgesagten Satz seines Berufslebens von sich. Frau Sonderbar hingegen, normalerweise die Korrektheit in Person, zeigte ein vollkommen neuartiges Verhalten: Sie zwinkerte ihm zu.

    »Da kommen Sie schon wieder rein«, sagte sie optimistisch. »In den normalen Dienst. Ich hatte schon befürchtet, dass hier gar nichts mehr passiert. Bis zu meiner Pensionierung.«

    »Wo denken Sie bloß hin? Irgendwas ist immer.«

    Nur der Form halber und um einen guten Eindruck bei Frau Sonderbar zu hinterlassen, baute Emmerich aus den Akten noch zwei ordentliche Stapel, bevor er nach seiner Jacke griff und das Büro verließ. Seinen Gewohnheiten entsprechend ging er zum Pragsattel hinunter, wo er eine Straßenbahn zum Hauptbahnhof bestieg. Ihm gegenüber saß ein Enddreißiger mit Anzug und Krawatte, ein Smartphone in den Händen und Stöpsel in den Ohren. Der Mann musterte ihn kurz und bedachte ihn mit einem Blick voller Verachtung, bevor er sich wieder auf sein Handy konzentrierte. Emmerich kannte diesen Blick. Er erinnerte ihn daran, dass das Volksfest vor der Tür stand und er sich somit während der nächsten Wochen nach einer anderen Jacke umsehen musste. Die seine nämlich war aus gewalktem Loden, im Landhausstil gehalten. Gabi hatte ihm diese Jacke vor etlichen Jahren als Ersatz für ein völlig abgetragenes Cordsamtjackett geschenkt, und nach anfänglich starkem Widerstand war er nun an sie gewöhnt, ja geradezu von ihren Vorzügen überzeugt. Der Loden hatte sich als atmungsaktiv und wasserfest erwiesen, angenehm zu tragen, pflegeleicht und absolut frei von Chemie. Dazu hatte er nichts gemein mit den allgegenwärtigen Outdoorjacken, die der männliche Teil der Stadtbevölkerung während der kalten Jahreszeit fast flächendeckend und damit uniformgleich trug. Nur eine Eigenschaft des Lodens, die ja eigentlich auch ein Vorteil war, schätzte Emmerich gar nicht: Die Jacke weigerte sich – trotz häufigen Gebrauchs – hartnäckig, abgetragen auszusehen. Weshalb er sich bis heute während der wenigen Wochen im Jahr, in denen im Zusammenhang mit Frühlings- oder Volksfest auf dem Cannstatter Wasen der Wahnsinn ausbrach, in seinem Landhauskittel komisch vorkam. Solange trunkene Trachtenträger in billigen Dirndln und Lederhosen, die es – Gabi zufolge – bereits als Wegwerfkleidung beim Discounter gab, die Stadt bevölkerten, wollte er nicht den Eindruck erwecken, dieser irren Spezies anzugehören. Zu schnell geriet man da in den Verdacht, sich ebenfalls in einer bierseligen Verfassung und dem dazugehörenden debilen Geisteszustand zu befinden. Emmerich nahm sich also vor, am Wochenende aus seinem Vorrat an karierten Freizeithemden ein wärmendes herauszusuchen, auch wenn er wusste, dass ein solches Outfit für berufliche Zwecke bei Gabi nicht auf Gegenliebe stieß.

    Am Hauptbahnhof verließ er die Straßenbahn und auch die unterirdische Haltestelle. Hier endeten seit einigen Jahren auch seine Gewohnheiten, denn anstatt wie früher einfach mit einer anderen Bahn weiterzufahren oder einen Spaziergang zu machen, ans Neckartor, wo er mit Gabi immer noch wohnte, nahm Emmerich nun oberirdisch einen Bus, der ihn auf die andere Seite der Bahnhofsbaustelle brachte. Von dort ging er noch ein Stück zu Fuß, aber das konnte man nicht mehr als Spaziergang betrachten. War er einst am Feierabend entspannt unter uralten Bäumen durch die grüne Lunge Stuttgarts geschlendert, beeilte er sich heute, auf einem schmalen Gehweg entlang einer viel befahrenen Bundesstraße den Abgasen der Autos zu entkommen. Wobei auch diese Autos eigentlich nicht mehr fuhren, sondern meist in langen Schlangen hintereinander standen. Unterirdisch ging es vom Bahnhof nicht mehr weiter, denn eine der wichtigsten Verbindungen von der Innenstadt in den Ostteil und viele weitere Teile der Stadt hatte man baustellenbedingt gekappt. Dass diese Kappung zur Überraschung aller weitaus länger dauern sollte, als bei der ursprünglichen Planung vorgesehen, wunderte ernsthaft niemanden mehr. Als Bewohner dieser Stadt hatte man dergleichen hinzunehmen. Im Interesse der Moderne.

    In der Neckarstraße selbst war die Luft ein kleines bisschen besser. Emmerich passierte die Front der ehemaligen, von ihm sehr geschätzten, nun aber aufgegebenen Eisenwarenhandlung – wohl ebenfalls ein Opfer der Moderne –, bog rechts ab und freute sich über den Anblick des wenigen noch vorhandenen Grüns in seiner unmittelbaren Nachbarschaft.

    Zwei Stunden später betrat Maja Korkhuf an der Seite ihres letzten Gastes ein leer geräumtes Wohnzimmer. Tür- und Fensterrahmen waren abgeklebt, der Boden mit Filzdecken so ausgelegt, dass man das Vorhandensein des schönen, alten Parketts nur anhand der knarrenden Geräusche, die es bei den Bewegungen von Maja und ihren Besuchern von sich gab, erahnen konnte. Ein leichter Farbgeruch lag in der Luft und zeigte an, dass in einem der anderen Räume die Maler mit der Arbeit schon begonnen hatten. Drei Personen saßen im Schneidersitz auf den gefilzten Decken, zwei weitere standen an einem geöffneten Fenster und bliesen Zigarettenrauch ins Freie. Die vorhandenen vier Klappstühle hatte man den älteren Teilnehmern der Runde überlassen. Majas Begleiter, ein vital wirkender Mann von Ende vierzig, der über seiner schwarzen Kleidung einen türkisfarbenen Gehrock mit gestickten Blumen und auf dem Kopf ein rotes Häkelmützchen trug, nickte einem der Raucher flüchtig zu und positionierte sich am zweiten Fenster. Maja selbst blieb bei der Tür stehen, zählte kurz durch und nickte ebenfalls.

    »Elf Leute sind wir. Ich glaube nicht, dass noch wer kommt. Wasser gibt es in der Küche. Sollen wir anfangen?«

    Mit zustimmendem Gebrummel nahm die Runde ihren Vorschlag an. Maja räusperte sich, hustete zweimal, holte Luft und begann ein wenig umständlich: »Wir haben uns versammelt, weil wir uns einig sind, dass etwas passieren muss. Wenn wir in zwanzig Jahren noch hier leben wollen.«

    »Ich kann nicht warten, dass mir einer was verspricht, was in zwanzig Jahren fertig sein soll«, fiel ihr eine der Klappstuhlsitzerinnen ins Wort. »So lange lebe ich womöglich gar nicht mehr.«

    »Ich weiß schon, Erika«, lächelte Maja der ungefähr Fünfundsechzigjährigen zu. »Das ist ja eines unserer größten Probleme. Dass alles ewig dauert, während sich die Welt fast täglich ändert. Viel schlimmer aber ist …«

    »Der Daniel hier«, unterbrach sie eine Frau im Schneidersitz und deutete auf ihren Nachbarn, »der hat sich als Berufsanfänger und junger Familienvater in einer Bauherrengemeinschaft engagiert. Inzwischen hat seine große Tochter Abitur, und das Gebäude ist immer noch nicht fertig.«

    »Auch das ist mir bekannt, Angelika«, entgegnete Maja, immer noch freundlich lächelnd. »Deshalb treffen wir uns schließlich heute Abend, um …«

    »Ich weiß nicht einmal, ob ich mir meine jetzige Fünfzimmerwohnung in ein paar Jahren überhaupt noch leisten kann«, sagte Daniel. »Drei Kinder, die fast jedes Jahr ein neues Handy brauchen. Schulausflüge, die nach Indien oder in die Emirate gehen. Und alle wollen noch studieren. Selbst für Gutverdiener ist das schwierig.«

    »In ein paar Jahren sind deine Kinder aus dem Haus. Dann brauchst du gar keine Fünfzimmerwohnung mehr«, wandte Erika pragmatisch ein.

    Daniel aber reagierte wütend. »Ach ja? Und dann? Soll ich statt einer Wohnung mit fünf Zimmern fünf Einzimmerwohnungen finanzieren? Die bis dahin einzeln so viel kosten wie meine ganze große Wohnung heute? Bis meine Kinder alle selbst verdienen, dauert es noch gute fünfzehn Jahre. Dann bin ich fast so alt wie du …«

    »Es muss doch auch nicht jedes Jahr ein neues Handy sein …«

    »Hast du eine Ahnung. Ihr hockt da, mit euren fetten Renten, während meine Generation …«

    »Wer hat eine fette Rente?« Neben Erika erhob sich drohend ein Mann mit grauem Bart von seinem Klappstuhl. »Meine Frau hat ihr Leben lang geschafft. Kinder großgezogen, Eltern und Großeltern versorgt, Ehrenämter ausgeübt und sich fürs Gemeinwohl engagiert. Nebenbei auch noch gejobbt, nur halt in Teilzeit. Jetzt muss sie Angst haben, dass sie, wenn ich mal sterbe, mit fast nichts mehr dasteht. Von einer Witwenrente jedenfalls kann hier kaum jemand mehr noch überleben.«

    Maja versuchte es mit einer besänftigenden Geste. »Bitte, Hartmut, setz dich wieder hin. Es bringt jetzt nichts, wenn jeder seine persönlichen Probleme vorträgt. Da kommen wir zu nichts heut Abend.«

    »Ich mein ja bloß«, erklärte Hartmut nebulös, nahm aber brav auf seinem Klappstuhl wieder Platz. »Ich versteh ja auch den Daniel. Jeder hat Probleme. Oder sieht in naher Zukunft welche kommen. Wir haben alle Angst. Und das wird nicht besser, wenn sich nicht bald etwas ändert.«

    »Eben«, nickte Maja bestätigend und hoffte, die Runde werde sich nun wieder dem eigentlichen Zweck ihres Zusammenkommens widmen. Eine trügerische Hoffnung, wie sich sofort zeigte, denn eine weitere Frau hob zaghaft ihren Zeigefinger.

    »Werden wir«, fragte sie mit piepsiger Stimme, »auch über das Insektensterben sprechen?«

    »Ein andermal«, beschied sie Maja, »dafür ist heute keine Zeit …«

    »Ohne Insekten werden wir verhungern …«

    »Das wirklich Schlimme ist doch«, übertönte polternd einer der beiden Raucher die piepsige Stimme, »dass uns keiner zuhört. Die da oben verschwenden unser Geld, streichen Millionengehälter oder Abfindungen ein und zahlen keine Steuern. Oder es versickert in dubiosen Kanälen, wie beim städtischen Klinikum. Irgendwer muss das alles doch erarbeiten, und genau bei denen fehlt es hinterher. Die Politik kümmert sich um Europa und die Flüchtlinge, wir schauen in die Röhre. Da wird es Zeit, dass endlich einmal einer auf den Tisch haut, dass endlich einmal einer …«

    »Halt die Klappe, Bernd«, fuhr ihm der zweite Raucher über den Mund. »Wir waren uns einig, dass die Flüchtlinge heute Abend keine Rolle spielen. Sonst hätte ich dich nicht mitgebracht.«

    »Gut. Dann reden wir über die öffentliche Sicherheit. Ich war letztes Jahr im Polizeimuseum auf dem Pragsattel, dort haben sie gesagt, dass sie die öffentliche Sicherheit vielleicht bald nicht mehr garantieren können. Weil das Personal zu knapp ist …«

    »Das ist im Krankenhaus genauso«, sprach eine weitere Frau dazwischen. »Meine Mutter musste kürzlich erst ins Hospital, da geht es zu, ihr macht euch keine Vorstellung …«

    »Kinder!« Maja erhob sowohl die Stimme als auch beide Arme. »So kommen wir nicht weiter. Es sind so viele Schwierigkeiten, die sich vor uns türmen, und Bernd hat schon recht, wir müssen uns Gehör verschaffen. Laut sagen, worauf es uns ankommt und wovor wir Angst haben. Aber doch bitte nach den Regeln unserer demokratischen Gesellschaft und nicht, indem einer auf den Tisch haut.«

    Ihre Gäste starrten sie ein paar Sekunden schweigend an, bis Bernd sarkastisch sagte: »Tolle Idee. Und wie wollt ihr das machen? Kommen wir ins Fernsehen? Nein. Wollt ihr etwa noch eine Partei gründen? Es gibt schon eine Alternative …«

    »Nicht für mich«, unterbrach ihn Maja scharf. »Und ich hoffe sehr, auch für sonst niemanden hier. Im Gegenteil, da kommt uns eine noch viel größere Gefahr entgegen. Deshalb wollen wir ja etwas tun. Auch wenn wir nur eine kleine Gruppe sind. Ein Plan muss her, und vielleicht gibt es auch schon einen.« Maja zeigte auf den zweiten Raucher. »Der Max, Daniel und ich, wir haben uns da nämlich etwas überlegt.«

    Bei Gabi und Reiner Emmerich ging es an diesem Abend friedlich zu. Sie hatten gut gegessen, gebackene Schinkenwurst mit Spiegelei und Bratkartoffeln. Emmerich lag in bequemer Kleidung auf dem Sofa und verfolgte unkonzentriert eines dieser neuartigen Verbrauchermagazine im Fernsehen, das in erster Linie darin bestand, die Moderatoren beim Benutzen verschiedener Produkte in Szene zu setzen. Gabi hatte die Nachricht vom »normalen Dienst« gelassen aufgenommen und las eine Zeitschrift. Bis das Verbrauchermagazin zu Ende war.

    Da ließ sie ihre Zeitschrift sinken und fragte: »Und? Was hast du jetzt gelernt?«

    »Dass eine blonde Frau eine bestimmte Salami besser findet als drei andere. Dass aber etwa dreißig Passanten in Schwetzingen eine andere Sorte besser finden als die blonde Frau.«

    »Warum schaust du dir das an?«

    »Weil sonst nichts im Fernsehen kommt. Außer Krimis. Und ich schaue mir beim besten Willen nicht täglich einen Krimi an.«

    »Dann können wir ja nun darüber reden, was wir mit deinem freien Tag anfangen.«

    »Wir?« Emmerich richtete sich auf. »Wir fangen beide etwas an? Mit meinem freien Tag?«

    »Ich dachte, dass wir …«, begann Gabi, etwas umständlich einen Plan zu erläutern, von dem Emmerich annahm, dass er nicht mit dem seinen übereinstimmte, als das Telefon sich meldete.

    »Für dich«, sagte Emmerich, ohne aufs Display zu sehen, und reichte ihr den Hörer.

    »Angelika? Um diese Zeit?«, meinte Gabi stirnrunzelnd nach einem kurzen Blick, drückte die passende Taste und setzte hinzu: »Hi. Was gibt’s?« Danach, in rascher Folge, Bemerkungen wie »Ach, du lieber Gott«, »Du meine Güte«, »Ist ja furchtbar« und schließlich, zu Emmerichs endgültiger Beunruhigung, »Ich sag es ihm. Er kommt sofort.«

    »Wer kommt sofort?«, wiederholte er, sich aufrecht setzend, argwöhnisch. »Wohin?«

    »Du«, informierte Gabi ihn und legte den Hörer wieder weg. »Zum Friedensplatz. Gleich um die Ecke. Das war Angelika. Sie war bei einer Bekannten zu Besuch, und dort wurde ein Mann verletzt. Oder getötet. Genau habe ich es nicht verstanden, sie war vollkommen durcheinander. Sie warten dort auf dich. Am Friedensplatz.«

    »Was soll ich da? Wenn der Mann verletzt ist, braucht er einen Arzt. Alles andere machen die Kollegen.«

    »Wir gehen jetzt gemeinsam hin.« Gabi war bereits aufgestanden, hatte sich Straßenschuhe aus dem Flur geholt und war im Begriff, sie anzuziehen. »Es geht um Angelika. Sie ist meine Freundin und die Frau von deinem besten Freund. Sie braucht Hilfe. Und falls der Mann getötet wurde, bist du eben jetzt schon wieder im normalen Dienst.«

    2.

    Am Friedensplatz, neben dem Treppenaufgang zur gleichnamigen Kirche, trafen Gabi und Reiner Emmerich wenige Minuten später auf eine Gruppe von ungefähr zwanzig Personen, die allenfalls gedämpfte Worte murmelten, ansonsten aber weitgehend stumm einfach so herumstanden und die Besatzung eines Streifenwagens beobachteten. Die war bemüht, einen kleinen Bereich vor dem Aufgang mit Absperrband einzugrenzen; dort waren Reste von Verbandsmaterial zu erkennen. Der Streifenwagen stand mit eingeschaltetem Blaulicht etwas abseits und veranlasste weitere Passanten zum Stehenbleiben.

    Aus der bereits anwesenden Gruppe löste sich, kaum dass sie ihrer ansichtig wurde, eine sehr aufgeregte Angelika und fiel erst Gabi und dann auch Emmerich selbst um den Hals.

    »Schon gut«, brummte der peinlich berührt, drückte die Freundin hilflos und schob sie zurück in Gabis Arme.

    »Ich weiß, wer es getan hat«, erklärte Angelika dort unter Tränen. »Es war der dicke Mann am Fenster. Ganz bestimmt. Ein fürchterlicher Mensch. Er kam mir gleich so komisch vor. Gewaltbereit … seine ganze Aura … Er hat das richtig ausgestrahlt …«

    »Ganz ruhig«, säuselte Gabi, drückte den Kopf der Freundin an ihren Brustkorb und streichelte ihr Haar. »Wir wissen doch noch gar nicht, was passiert ist. Reiner wird sich nun um alles kümmern, und du kommst erst einmal mit zu mir. Ist der Lutz auch in der Nähe?«

    »Nein«, heulte Angelika. »Ich bin ganz alleine hier. Und ich kann doch jetzt nicht einfach gehen. Die

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1