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Talamadre: Licht und Schatten
Talamadre: Licht und Schatten
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eBook536 Seiten7 Stunden

Talamadre: Licht und Schatten

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Über dieses E-Book

Es gibt Schatten, die kein Licht zu erhellen vermag.

James vermutet den Schlüssel zu Sateks Vernichtung in den verlorenen Erinnerungen an seine Anfänge als Talamadre. Er bricht mit Holly gemeinsam nach Nordengland auf, um herauszufinden, was damals wirklich geschah. Doch den beiden läuft die Zeit davon.
Während sie die Geheimnisse des Ordens lüften, tappt das Team um Lucas Austen immer noch im Dunkeln. Wie sollen sie sich gegen den übermächtigen Satek wehren? Dabei geht es für die Talamadre bald um Leben und Tod, denn der Dämon hat sein nächstes Opfer bereits im Visier.
Wird es genügen, James' Schatten der Vergangenheit zu lüften, um Satek ein für alle mal zu vernichten? Und wenn ja, was wird dann noch von den Talamadre übrig sein?

Das Finale von Mila Brenners romantischer Urban Fantasy-Duologie.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum6. Aug. 2017
ISBN9783742781154
Talamadre: Licht und Schatten

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    Buchvorschau

    Talamadre - Mila Brenner

    1.

    Lucas

    "Some things are so big, they crush you completely. Especially without a cup of coffee."

    Miami, 11.03.2017

    Das Sonnenlicht schien heute gedämpft durch die hohen Fenster. Der Himmel war von grauen Wolken verhangen. Trotzdem sah es nicht nach Regen aus. Das Frühjahr galt als beste Reisezeit für Miami, da die Temperatur angenehm warm bei durchschnittlich 25 Grad lag und es mit neun Sonnenstunden am Tag immer schön draußen war. Woher Lucas das wusste? Sein Reiseführer kannte eben nicht nur die schicken Restaurants, Hotels und die hübschen Sehenswürdigkeiten.

    Es traute ihm keiner zu. Ihm, der nicht mal die Akten vor Fallbeginn las, aber seinen Reiseführer hatte er von der ersten bis zur letzten Seite durchgeblättert. Gut, es war nicht sein Engagement dafür verantwortlich, sondern Rhylee. Statt den gestrigen Abend in einer Sushibar und anschließend in einem angesagten Club zu verbringen, hatte Lucas über schwerer Kost gebrütet. Weil er danach nicht mehr schlafen konnte, hatte er den Reiseführer gelesen. Wenigstens war er davon tatsächlich müde geworden.

    Jeremy, Annabelle und Lucy beschäftigen sich Tag und Nacht mit der Untersuchung des Rituals und versuchten an Informationen über Satek zu gelangen. Also lag die Suche nach einer Möglichkeit, Rhylee zu helfen, in seinen Händen. Alles kein Problem. Eigentlich. Denn er hatte da einen genialen Plan. Immerhin hatten die Amerikaner was sie brauchten. Eine junge Heilmagierin, mit wenig Erfahrung zwar, doch Lucas nahm, was er kriegen konnte. Nicht sein Stil, aber die Lage war zu ernst. Fürs „wählerisch sein" blieb ihm keine Zeit mehr. Im Grunde ließ er sich von so was nicht verrückt machen. Er war ein wahrer Quell an Ruhe und Gelassenheit. Normalerweise. Aber in Miami schien alles anders. Statt wilder Partys und gutem Sex, saß er über Magiebüchern und suchte nach irgendwas, was ihnen helfen konnte, Rhylees Bewusstsein zurückzuholen. Laut Doc Larson war das das Problem. Satek hatte mit seinem Eindringen in das Ritual ihr Bewusstsein verletzt. Wie er das geschafft hatte?

    Keine Ahnung. Ob er ihr Bewusstsein nur verletzt hatte oder gefangen hielt? Sie wussten auch das nicht mit Sicherheit.

    Was machte er sich vor?

    Sie wussten gar nichts. Es schien als hätten die Talamadre bisher keine Berührungspunkte mit solchen Fällen gehabt. Kein Wunder. Rhylees Gabe war selten. Die Durchführung eines Rituals, wie sie es gemacht hatten, um zu erfahren, was Steven Craine zugestoßen war, nutzte man ebenfalls selten. Lucas schipperte in unbekannten Gewässern. Was ihn nicht ängstigte, denn damit hatte er kein Problem. Er war immer schon neugierig gewesen. Zu neugierig, würden andere behaupten. Allerdings frustrierte es ihn, sich Abende und Nächte um die Ohren zu schlagen und trotzdem noch immer orientierungslos auf einem reißenden Fluss zu treiben. Mit jeder Stunde führte die Machtlosigkeit ihn weiter weg vom eigentlichen Ziel, Rhylee zu retten.

    Er war kein Experte für Rituale. Aber er hatte mehr Erfahrung als die meisten in seinem Team. Er arbeitete seit sechs Jahren im Orden und schon davor hatte er mehr Erfahrung, als jemand wie er haben sollte. Allerdings nicht in dem Bereich Bewusstseinsentführung. Oder wie immer er das, was Satek getan hatte, nennen sollte. Lucas versuchte, nicht zu ausführliche darüber nachzudenken. Das hätte ihn abgelenkt und er durfte seinen Fokus nicht verlieren. Es reichte, dass Gerry Tag und Nacht an Rhylees Bett saß und sich mit jeder Stunde ein bisschen mehr verlor. Lucas beschränkte sich darauf, dass Satek ihm seine geplanten Partys und heißen Nächte zerstörte. Das machte ihn wütend. Diese Wut motivierte ihn, sich nach sechs Stunden Recherche den nächsten dicken Wälzer zu greifen und seinen Verstand mit Kaffee wach zu halten, statt ihn in Scotch zu ertränken. Dabei war ihm danach. Ja, wirklich. Denn neben dem Druck, der auf seinen Schultern lastete, ein Wunder zu vollbringen, gab es diese Blicke in die Schatten. Das Gefühl verfolgt zu werden. Er fürchtete, jeden Moment aufzufliegen. Mr. Wescott würde garantiert nicht begeistert reagieren, wenn er erfuhr, dass Lucas gegen seine direkte Order agierte.

    Es lag also auf der Hand, weshalb er einen Anflug von Nervosität verspürte, als Aldwyn ihn beim Frühstück bat, unverzüglich in das Büro des Oberen zu kommen. Nicht mal der Kaffee war ihm gegönnt. Er ahnte Schlimmes und atmete noch mal durch, bevor er mit selbstsicherem Lächeln an die Zimmertür klopfte und dann eintrat.

    Als er langsam die Tür hinter sich schloss, brachte ihm das die dringend benötigten Sekunden, die Verwunderung abzuschütteln, die ihn überkam, sobald er Holly gesehen hatte. Sie stand am Fenster und sein Blick war direkt auf ihre gutaussehende Gestalt gefallen. Sie wandte ihm jedoch den Rücken zu und so hatte er nicht sehen können, ob ihre Anwesenheit für ihn gut oder schlecht war. Sie war auf jeden Fall verwirrend. Denn es passte nicht zum Oberen, über interne Abläufe in der Gegenwart von Nicht-Mitgliedern zu sprechen.

    Aber halt, stop!

    Lucas blinzelte heftig und blieb dabei mitten in der Bewegung stehen. Das war selbst für ihn, einen bekannten Schauspielkünstler, wenn es um seine Mimik und Gestik ging, zu viel, um es zu überspielen. War das...?

    „Guten Morgen, Mr. Austen."

    Ja, das war James Wescott, der in seinem Büro stand. Seine Stimme; dieser kühle, autoritäre Ton darin, würde er überall wiedererkennen. Aber wo war der dazu passende Gesichtsausdruck, der einen schaudern ließ? Das Lächeln, das ihm entgegenschlug, passte gar nicht zum Oberen. Es sah nicht mal so aus, als wolle es Lucas in eine gut gestellte Falle locken.

    „Setzten Sie sich, bitte. Ich hoffe, ich habe Sie nicht vom Frühstück abgehalten?"

    Er folgte der Anweisung und bemerkte, dass sogar er sprachlos sein konnte. Das war neu. Alles an dieser Situation war neu. Als der erste Schock verwunden war, fiel sein Blick wieder auf Holly. Das Lächeln in ihrem Gesicht zu deuten, fiel ihm wesentlich leichter. Sie war zufrieden. Und eindeutig amüsiert über seine Fassungslosigkeit. Sie hatte ja auch absolut keine Ahnung, was es bedeutete James Wescott so zu erleben. Ohne Anzug, Weste und Krawatte. Ohne die kühle Berechnung und Überlegenheit im Blick. Stattdessen mit einem Lächeln, das nicht nur freundlich wirkte, sondern beinah ... entschuldigend. Lucas begann, sich ernsthaft Sorgen um die Führung der Talamadre zu machen. War das Sateks Werk oder war dafür diese süße, humorvolle Archäologin verantwortlich? Die Frage lag ihm bereits auf den Lippen. Aber nur, weil ihm sonst nichts einfiel. Außer: Was hatte sie mit James Wescott gemacht?

    „Holly hat mir erzählt, dass Sie in Kontakt mit Ms. Banks stehen."

    Vielleicht sollte er sich überlegen, besser Autos mit großem Airbag zu fahren. Denn gerade fühlte sich Lucas erschlagen von den Worten seines Chefs, der so gar nicht mehr sein Oberer war.

    „Fühlen Sie sich gut, Sir?" Lucas entwischte die Frage, bevor er sich zurückhalten konnte.

    Das Lächeln von James Wescott prägte sich aus.

    Solange Sateks Manipulationskräfte nicht so weit reichten, dass er gleich zwei Menschen in seine geistige Gewalt bringen und fernsteuern konnte, passierte das gerade wirklich. Und er hatte nicht mal einen Kaffee, um es zu verarbeiten. Eine Zigarette wäre auch gut. Aber im Büro des Oberen war Rauchen verboten. Früher jedenfalls. Im Augenblick war sich Lucas nicht sicher, welche Regeln noch galten und welche mit Wescotts Lächeln aufgehoben waren.

    Wenn der Obere ihm jetzt mitteilte, aufzuhören, wie sollte er das Aldwyn beibringen? Wer stellte sonst heutzutage noch Butler ein?

    „Ist es Ihnen gelungen, Ms. Banks zu erreichen? Wann wird Sie hier sein und wie geht es Ms. Buchanan?"

    Die Erleichterung, dass Mr. Wescott immer noch der Alte war, was das Ignorieren persönlicher Fragen anging, verflog schnell. Die Frage irritierte Lucas zu sehr. Das klang ja beinahe so, als wäre der Obere plötzlich auf seiner Seite.

    „Mr. Austen? Fühlen Sie sich nicht gut?", gab der Obere den Ball an ihn zurück und brach damit der Bann.

    Lucas lachte leise. „Nein, Sir. Das ist der fehlende Kaffee. Entschuldigen Sie. Ms. Buchanan schlägt sich tapfer. Der Doc tut, was er kann, um sie bei uns zu behalten."

    James Wescott nickte ernst. Lucas war sich dem Ausdruck von Erleichterung in den grünen Augen bewusst. Er war neu und machte ihn erheblich sympathischer.

    „Und Ms. Banks?"

    „Ich bin dran an der Sache, beeilte Lucas sich zu sagen. Auch wenn es falsch klang. „Allerdings hat mich Dylan informiert, dass sie Probleme mit dem Wetter haben. Der Kontaktmann sollte heute bei ihr eintreffen und dann direkt mit ihr zurück nach Miami fliegen.

    „Sie wird also morgen hier sein?"

    „Das ist der Plan."

    „Tun Sie alles, was notwendig ist, um Ms. Buchanan zu retten. Sie erhalten von mir freien Handlungsspielraum. Haben Sie verstanden?"

    Bestimmt träumte er. Allerdings hatte er nicht selbst behauptet, er benötigte ein Wunder, um das Unmögliche möglich zu machen? Und das ihm die Zeit davonlief? Ja, Lucas würde sich ganz sicher nicht über die Art und Weise des Wunders beschweren.

    „Sehr wohl, Sir. Ich danke Ihnen."

    Wenn der Obere seinen Verstand verloren hatte, sollte Lucas es im Augenblick als Geschenk betrachten und nicht hinterfragen. Ihm fiel auf, wie Mr. Wescott und Holly sich ansahen. Nur kurz, aber er verstand sich auf Körpersprache wie kein Zweiter. Und das Lächeln, was sie tauschten, verriet ihm alles. Alles, was er nicht wissen wollte. Wie konnte sie ihm das antun?

    Und was fand sie bitte an ihm? Holly Martin war Lucas nie wie eine Frau vorgekommen, die es auf Macht abgesehen hatte. Was hatte James Wescott sonst zu bieten?

    „Gibt es noch was, Sir?"

    „Ja. Ms. Martin und ich fahren gleich zum Flughafen. Das Taxi kommt in einer Viertelstunde."

    Fragend hob Lucas die Augenbrauen. Was bedeutete diese Aussage? Welcher Flug wohin?

    „Es gibt eine Sache, der ich in England nachgehen muss. Sie kann nicht warten. Ich werde Ihnen kurz und knapp erzählen, was Sie wissen müssen und wie Sie mich kontaktieren können. Aber was ich Ihnen anvertraue bleibt unter uns. Niemand darf davon erfahren. Kann ich mich darauf verlassen, Mr. Austen?"

    Lucas fragte sich nicht, weshalb der Obere meinte, dass ausgerechnet ihm anzuvertrauen - anstatt Jerry. Das war alles viel zu seltsam, um wirklich zu passieren. Gleich würde Mr. Wescott das bestätigen, indem er ihm die Verantwortung für den Orden übertrug.

    „Natürlich, Sir. Sie können auf meine Verschwiegenheit zählen." Wem sollte Lucas auch von diesem bizarren Traum erzählen?

    „Danke."

    Da war sie wieder. Die Freundlichkeit, die nicht zu Wescott passte und daher nur seiner Fantasie entspringen konnte. Warum er ausgerechnet von seinem Chef träumte, statt von einer heißen Braut? Dafür gab es keine gute Erklärung. Lucas hatte noch nie vom Wescott geträumt. Und wenn er schon von Holly träumte, hätte sie für seinen Geschmack weniger anhaben können und zudem hätte sie nicht mit seinem Chef geflirtet.

    Als hätte Holly seine Gedanken gelesen, sah sie auf und in sein Gesicht. Sie schenkte ihm zwar ein Lächeln, doch es war kein Lächeln, das sagte: „Später. Lass uns später reden, Lucas, wenn wir allein sind."

    Nein, sie flirtete nicht mit ihm.

    „Es ist so, dass Satek", Mr. Wescott fuhr, sich durchs Haar. Eine Geste, die Lucas an ihm nicht kannte. Aber so langsam begriff er, dass er den Mann tatsächlich weniger gekannt hatte, als angenommen.

    „Zwischen Satek und mir gibt es eine Verbindung."

    „Hieß es nicht, dass es keine Fälle gibt, die mit ihm in direkter Verbindung stehen, Sir?"

    Da Lucas während Jerrys Vortrag zu genau diesem Punkt eine Frage gestellt hatte, war der Fakt bei ihm hängen geblieben. Obwohl Jerrys Vortrag wie immer zäh und langweilig gewesen war.

    „Ja, das stimmt. Er taucht nicht in unserem Archiv auf. Bei den Amerikanern ist es genauso. Das habe ich überprüft."

    „Was hat das zu bedeuten?"

    „Ich kann Ihnen nur sagen, Mr. Austen, das ich Satek schon vorher begegnet bin. Es gibt einen mentalen Link, ähnlich dem, den auch Ms. Martin zu ihm hat. Die einzige Erklärung scheint eine Begegnung zu sein, an die ich mich nicht erinnere."

    Das klang in Lucas Ohren verdächtig nach Manipulation. So was konnte sich der Obere nur ausgedacht haben. Falls es wahr war, was er sagte, bedeutete das doch gleichzeitig, dass Akten verschwunden waren. Oder bewusst verschlossen gehalten wurden. James Wescott war der mächtigste Mann der Talamadre. Wenn er darüber nicht Bescheid wusste, wer sollte dann was wissen? Wer sollte ein falsches Spiel spielen? Außer ihm selbst. Dafür sprach ja auch, dass er behauptete, sich nicht erinnern zu können. Lucas' Kopf fing an, zu qualmen. Für die Art Verschwörung war es noch zu früh am Morgen.

    „Es ist kompliziert, ich weiß. Aber ich bin mir sicher, dass die Antworten auf die Fragen nicht hier zu finden sind", kam Mr. Wescott zurück auf seine Flugabsichten. Oder waren es Fluchtabsichten?

    „Sie gehen ins Hauptquartier zurück? Mit Ms. Martin zusammen?", hakte Lucas interessiert nach. Was blieb ihm anderes, als Galgenhumor?

    „Nein. Ms. Martin und ich reisen erstmal nach Leyburn. Ich habe da den Ansatz einer Spur, der ich nachgehen will. Sie können mich über mein Mobiltelefon jederzeit erreichen. Wir werden uns bei Ihnen melden, so oft es geht."

    Lucas nahm den Zettel mit Wescotts Nummer entgegen. Nicht unbedingt eine Telefonnummer, die in sein Beuteschema passte. Doch so langsam begann er zu akzeptieren, dass die Talamadre ein gewaltiges Problem hatten. Entweder verlor der Obere den Verstand, oder aber ... oder aber alles war in bester Ordnung und Lucas musste bloß glauben, dass der Mann vor ihm, tatsächlich sowas wie Gefühle besaß.

    „Wie verfahren wir hier, Sir? Was sind Ihre Order?" Lucas entschied sich dafür, das zu tun, was jemand wie Jerry in dem Moment getan hätte. Sich einzig und allein auf die Anweisungen des Oberen zu konzentrieren und jegliche Vermutungen ignorieren. Wobei Jerry sicher nicht mal aufgefallen wäre, wie anders sich James Wescotts verhielt. Wie auch? Jerry hielt sich im Gegensatz zu Lucas an die Vorschriften und hätte Lucas nicht dagegen gehandelt und auf eigene Faust eine Heilerin für Rhylee organisiert, dann wäre ihm ganz entgangen, wie der Obere unerwarteter Weise seinen Verstoß ignorierte. Ihn sogar befürwortete und jetzt unterstützte. Eine 180 Grad Wendung. Okay, es fiel ihm wirklich schwer sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und alles andere zu übersehen.

    „Ihre oberste Priorität ist, Ms. Buchanan zu retten." Mit den Worten riss James ihn zurück ins Gespräch. Er bestätigte, dass Lucas sich nicht verhört hatte. Er sollte Rhylee retten.

    „Sorgen Sie dafür, dass Sie die junge Frau nicht an ihn verlieren. Er darf keine weiteren Opfer mehr fordern. Außerdem möchte ich, dass sich Ihr Rechercheteam aufteilt. Setzen Sie Ms. Ramos und Mr. Durand auf die Aufzeichnungen von elementarmagischen Ritualen an. Mr. Campbell und Ms. Cutforth beschäftigen sich mit dämonischer Magie. Und der Rest konzentriert sich bei der Suche bitte auf die geistigen Gaben."

    „In Ordnung, Sir."

    „Ihr aktives Team soll sich im Hintergrund halten. Fragen Sie Ms. Brooks, ob sie Hilfe brauchen kann. Beschäftigen Sie ihr Team, Mr. Austen, aber ohne sie in Gefahr zu bringen. Direkte Konfrontationen mit Satek sind zu vermeiden, bis wir mehr wissen."

    Das würde Emily und Matt nicht gefallen, aber im Augenblick waren alle wegen Rhylee viel zu abgelenkt, um einen vernünftigen Job zu machen. Der Obere hatte Recht und Lucas wusste es. Begegnungen mit Satek endeten auch für seinen Geschmack zu oft tödlich.

    „Sobald ich Informationen habe, die uns weiter bringen, kontaktiere ich Sie. Halten Sie mich über Ihre Fortschritte auf dem Laufenden."

    Das war keine Frage und daher nickte Lucas zum Zeichen, dass er verstanden hatte.

    „Ist noch etwas unklar?"

    „Warum haben Sie ausgerechnet mich hergerufen, Sir? Was ist mit Jeremy Campbell? Soll er nicht die Leitung des Falls während Ihrer Abwesenheit übernehmen?" Lucas musste es einfach wissen. Denn auch diese Handlung passte nicht in das Bild des Oberen. Zu dem, was Lucas von ihm erwartet hätte.

    „Sie kennen Mr. Campbell. Die Vorstellung, dass der Orden nicht nur das ist, was er zu sein scheint, Wescott verzog ernst das Gesicht. Der Gedanke schien ihm ebenfalls nicht zu schmecken. „Die Möglichkeit, dass wir es mit Fehlern aus den eigenen Reihen zu tun bekommen, möglicherweise mit einem Kapitel, das zu vertuschen versucht wurde, wäre für Mr. Campbell nicht denkbar. Nicht ohne Beweise. Er lächelte leicht. „Er ist viel zu sehr wie ich. Was der Orden jetzt braucht, Wescott hob den Blick und sah ihn an, „ist jemand wie Sie, Mr. Austen.

    „Soll das heißen, Sie übertragen mir die Verantwortung, Sir?"

    „Sie vertreten mich während meiner Abwesenheit. Enttäuschen Sie mein Vertrauen nicht."

    „Du siehst aus, als würdest du an dir zweifeln", merkte Holly an.

    „Ich zweifle nie an mir selbst. Lucas erwiderte ihr Lächeln. „Der Kaffee. Daran ist der fehlende Kaffee schuld. Ohne den schlafe ich um die Zeit noch.

    „Dies ist kein Traum und kein Spaß. Ich verlasse mich auf Sie, Mr. Austen."

    „Das habe ich verstanden, Sir."

    „Gut. James Wescott drehte sich zu Holly. „Das Taxi wartet schon. Er griff zu einem Koffer. Holly nahm ihrerseits eine Reisetasche. Erschien ihm reichlich wenig Gepäck. Bedeutete es, dass der Obere plante, bald wieder zurück zu sein? Lucas kam der Fluchtgedanke immer noch nicht abwegig vor. Das Leben als Talamadre war während dieser Tage noch gefährlicher als sonst. Und außerdem hätte er ja selbst nichts dagegen gehabt, sich mit einer Frau wie Holly Martin abzusetzen. Aber wenn sie alle so denken würden, wäre es bald zu Ende mit der Welt. Denn eines war Lucas klar, wenn sie Satek nicht aufhielten, tat es wohl auch kein anderer.

    „Mr. Austen? James Wescott war in der Tür stehen geblieben und suchte seinen Blick. „Passen Sie auf sich und Ihr Team gut auf. Und vertrauen Sie niemandem, bis Sie etwas von mir hören.

    Er meinte wohl Leute, wie Dylan Brooks. Nein, vermutlich dachte der Obere an alle einflussreichen Personen die mit den Talamadre jemals in Kontakt getreten waren. Doch Lucas wusste, dass er sich auf sein Team verlassen konnte. Er vertraute ihnen mit seinem Leben. Statt das zu diskutieren, nickte er ernst. „Natürlich, Sir."

    Er sah zu, wie Wescott die Tür hinter sich schloss und stand danach ein paar Sekunden einfach da und wartete darauf, dass er aufwachte. Aber er wachte nicht auf. Als ihm das klar wurde, holte er einmal tief Luft, fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und beschloss in die Stadt zu fahren. Er musste in Ruhe über alles nachdenken. Und in der Villa war die Gefahr zu groß, dass Jerry ihn suchte. Auf eine Konfrontation mit ihm hatte Lucas keine Lust. Außerdem brauchte er jetzt endlich einen anständigen Kaffee. Sofort.

    2.

    James

    "To put someone else before your own desires, wishes and fears; to be selfless; is easier said than done."

    Miami, 11.03.2017

    Während der Fahrt zum Flughafen schwiegen sie beide. Ob Holly ebenso in Gedanken vertieft war, wie er selbst, oder sie ihm bloß den Freiraum gab, nachzudenken, konnte er nicht mit Sicherheit sagen. Er hätte mit Leichtigkeit eine Vermutung aufstellen können. Er glaubte, sie ganz gut einschätzen zu können. Eines seiner Talente. Menschen richtig einzuschätzen, ihre Gefühle, ihre Gedanken und Beweggründe zu erkennen. Er verstand sich darauf zu wissen, warum jemand etwas tat und vorauszusehen, was er als Nächstes sagte, noch während der Gesprächspartner über seine Worte nachdachte. James Wescott hatte nicht viele Talente. Er war kein Kämpfer, wie so viele seiner aktiven Mitglieder. Er war kein akribisch begnadeter Forscher, kein Sprachgenie, und er besaß auch keinen weitreichenden Einfluss in der Wirtschaftswelt oder herausragende Informatikkenntnisse. Er verfügte über keine magische Begabung, obwohl er nicht ganz unwissend war und den einen oder anderen Trick beherrschte. Das brachte seine Erfahrung mit sich. Allerdings kannte James niemanden, der ihm das Wasser reichen konnte, wenn es um das Analysieren von Menschen ging. Um das Führen, Anleiten und strategische Planen. Es gab niemanden, der so gut darin war, Menschen rhetorisch so zu manipulieren, dass er sie dort hatte, wo er sie haben wollte. Dabei vermittelte er ihnen stets das Gefühl, sie seien selbst dorthin gekommen.

    James war keinesfalls vertrauenswürdig. Nicht sympathisch, nicht offen oder bekannt dafür unterhaltsame Gesellschaft zu sein. Er glaubte nicht, dass seine Mitarbeiter ihn besonders gut leiden konnten. Aber er war sich bewusst, dass sie ihm vertrauten, obwohl allen klar war, dass sie ihn nicht kannten. Letzten Endes arbeiteten sie für ihn, weil sie wussten, dass er für diesen Orden - für die Sache, für die die Talamadre standen - lebte. Dass es ihm wichtig war, die Welt zu einem sicheren Ort zu machen. Zu sehen, was anderen verborgen blieb. Zu erforschen, wovon wenige zu träumen wagten und Menschen zu helfen, die viel mehr waren, als normal. Die mehr sein konnten, aber eine Hand benötigten, die sie auf den richtigen Weg führte und ihnen half, diesen nicht wieder zu verlieren.

    Das war seine Rolle. Das war, wer er sein wollte. Doch der Zweifel in ihm war nie ganz verstummt. Die Stimme, die ihm einen eisigen Schauer den Rücken hinunterjagte, wann immer sie ihm ins Ohr flüsterte, dass es nur das war, was er glaubte zu sein. Wofür er glaubte, dass der Orden stand. Was, wenn James sich irrte? Was, wenn seine Überzeugungen auf einer Lüge begründet waren?

    „Hey, bist du okay?"

    Er wandte den Blick vom Fenster zu Holly. Sie hatte nach seiner Hand gegriffen und er war so tief in Gedanken versunken gewesen, dass er es nicht bemerkt hatte. Jetzt entzog er ihr seine Hand und sah wieder auf den Autositz vor sich.

    „Das Verkehrsaufkommen ist nicht hoch. Wir sollten gleich da sein."

    „James." Holly hatte etwas Bittendes in der Stimme, aber er rührte sich nicht und wagte noch viel weniger, sie anzusehen. In ihrer Gegenwart war es schwerer, die Zweifel in Schach zu halten. In ihre Augen zu sehen, weckte so viel Angst in ihm, dass er am liebsten weggelaufen wäre. Sie brachte zwar das Beste in ihm zum Vorschein, aber sie riss auch Mauern ein und war ihm ein Licht in der Dunkelheit, in der er sich bisher sehr wohl gefühlt hatte. Denn es war ihm leichter gefallen, seine Sorgen dort zu verstecken, wo niemand sie sehen konnte. Nicht mal er selbst.

    Wenn er Holly ansah, gab es keinen Schatten, um seine Ängste zu verstecken. Stattdessen befürchtete er, nicht der Mann sein zu können, den sie in ihm sehen wollte. Holly glaubte, es waren edle und gute Motive, die ihn nach Leyburn führten. Doch das stimmte so nicht. Ganz so einfach war es nicht. Er war nur gut darin, sie das glauben zu lassen. Es war so leicht, ihre Erwartungen zu erfüllen.

    Sein zweites Talent, indem ihm niemand etwas vormachte. Andere zu täuschen.

    Er war so gut darin, dass er mit der Zeit gelernt hatte, sogar sich selbst zu täuschen. Ohne Holly wäre es ihm vermutlich noch für Jahre gelungen, den Zweifel zu ersticken und zu vergessen, dass es ihn je gegeben hatte. James Wescott wäre ihm genug gewesen. Das Leben, das er führte. Der Orden, seine Aufgaben, sein Ehrgeiz. Er war glücklich oder das, was er dafür hielt. Aber Holly hatte alles durcheinandergebracht. Es war unmöglich sie zu mögen, tiefe Gefühle für sie zu haben, ohne ehrlich mit ihr zu sein. Und das bedeutete, ehrlich zu sich selbst zu sein. Der innere Kampf den er seit ihrer Begegnung mit sich ausgefochten hatte, hatte ihn viel Kraft gekostet. Sich ihr anzuvertrauen und mit ihr nun die Flughafenhalle zu betreten, um die Suche nach Antworten zu beginnen, kostete ihn viel Mut. Mehr als er sich hätte vorstellen können.

    Und vermutlich besaß es zu seiner eigenen Schande nicht viel davon. Denn er blieb vor dem Rollband stehen. Die Frau, die ihn bat seinen Koffer aufzugeben, sah ihn fragend an.

    Wollte er das wirklich tun? Wollte er die Antworten finden? Was, wenn sie ihm nicht gefielen? Es gab keinen Weg zurück. Das wusste er ganz genau. Sobald er die Wahrheit kannte, würde es selbst ihm nicht mehr länger gelingen, wegzusehen.

    „James?" Holly war vorgegangen und wartete bereits hinter der Sicherheitsabsperrung. Ihr warmes Lächeln gab ihm schließlich den entscheidenden Ruck. Ein Lächeln huschte auch über sein Gesicht. Es fühlte sich fremd an und vermutlich war es niemandem aufgefallen, so flüchtig war es gewesen. Aber Holly hatte diesen Effekt auf ihn. Er kannte sie nicht sehr lange, doch sie ihn besser als alle anderen Menschen um ihn herum. Sie faszinierte ihn, er bewunderte sie und er liebte sie. Sofern er dazu in der Lage war, etwas anderes zu lieben, als seine Arbeit oder sich selbst.

    Wo immer die Wahrheit lag und welche Rolle er dabei spielte, er war von seiner Warnung immer noch vollends überzeugt. Sie sollte jemanden wie ihn nicht mögen. Deswegen versuchte er alle Gefühle zu ignorieren. Aber ihr gelang es immer wieder, auch diese Mauern zu überwinden. Manchmal staunte er darüber, wie leicht ihr das fiel. Ob er es ihr unterbewusst einfach machte, weil ein Teil von ihm gefunden werden wollte? Ein Teil, der mit jeder Stunde in ihrer Nähe immer lauter wurde?

    Er riss sich zusammen, schüttelte die Gedanken mit einer Kopfbewegung ab, erlangte Kontrolle und setzte eine unnahbare Miene auf. Überlegen reichte er der Angestellten seinen Koffer, bat vorsichtig damit zu sein und ließ sich anschließend vom Sicherheitsbeamten durch die Metalldetektoren führen.

    „Wir haben noch eine Dreiviertelstunde, bevor wir an Board können. Willst du derweil einen Tee trinken und etwas frühstücken?"

    „Ja, gerne. Ich bin zwar so aufgeregt, dass ich nicht weiß, ob ich einen Bissen hinunterbekomme, aber auf der anderen Seite ist der Flug lang und ich mag das Essen in Flugzeugen nicht besonders."

    „Du bist schon erster Klasse geflogen?"

    Holly schüttelte den Kopf und er schmunzelte.

    „Dann warte das Essen ab. Du wirst überrascht sein."

    „Ich glaube dir kein Wort. Du bist doch jemand, der einen Flug nutzt, um zu arbeiten. Du hast mit Sicherheit noch nie auf einem Flug etwas gegessen, oder?" Mit einem Lächeln setzte sie sich an einen freien Tisch in einem kleinen Café, in dem es nach frischen Brötchen, Rührei, Speck und Käsegebäck roch.

    „Ab und an. Er sah sie ehrlich an bei seiner Antwort. „Selten zugegeben, aber oft genug, um dir versichern zu können, dass das Essen in der ersten Klasse gutem Standard entspricht.

    „Ich bin beruhigt."

    Er hörte das Lachen in ihrer Stimme und wurde bei dem Versuch, ihrem Flirtversuch zu entkommen, von der Kellnerin gerettet. Obwohl er es nicht wollte, fiel ihm auf, dass Holly ihn anlächelte, als er ebenfalls ein britisches Frühstück orderte.

    „Seit wann frühstückst du?"

    „Ich habe gerade Zeit."

    „Hast du Hunger? Oder bist du höflich?"

    „Höflich. Aber das liegt daran, dass ich es nicht gewohnt bin zu frühstücken. Deswegen verspüre ich keinen Hunger. Vielleicht kommt er beim Essen."

    Sie sah ihn ernst an. „Worüber machst du dir mehr Sorgen, über das was wir dort suchen, oder über das, was du hier zurücklässt?"

    „Ich glaube, das ist unser Tee." Er irrte sich nicht, und nachdem die Kellnerin ihnen den Tee brachte, nahm er gleich einen Schluck. Der herbe Geschmack des Schwarztees beruhigte seine aufgewühlten Nerven. Dabei war der Tee nicht mal besonders gut. Aber besser als das Frühstück, was ihnen Minuten später serviert wurde. Es war eine kleine Portion und vermutlich viel zu teuer für den geringen Aufwand. Das Ei war lasch, der Speck zu salzig und das Brötchen mittlerweile kalt. Nicht, was er gewohnt war. Aber er tat so, als sei er plötzlich hungrig geworden, denn er versuchte einem Gespräch auszuweichen, ohne noch unhöflicher zu werden. Er hatte nun schon zwei Mal Hollys Frage ignoriert. Wenn er sie richtig einschätzte, ließ sie es kein drittes Mal zu, also hoffte er darauf, dass sie einfach nicht erneut fragte.

    Aber es war ein Fehler, Holly Martin zu unterschätzen.

    „Wie oft soll ich dich noch fragen, bevor du mir eine Antwort gibst, James? Du weißt, dass ich keine Ruhe geben werde."

    Er schmunzelte. Obwohl er keineswegs erfreut war, dass sie ihm keinen Ausweg anbot, verspürte er das unerwartete Gefühl von Freude. Vielleicht war es auch Glück, das er empfand, wenn ihm bewusst wurde, wie sehr sie sich um ihn bemühte.

    „Du weißt, dass ich das nicht verdient habe, nicht wahr?"

    „Was? Mein ungnädiges Verhör? Die aufdringliche Art, meine Nase in Dinge zu stecken, die mich nichts angehen?" Sie seufzte. Aber ihre Stimme verriet ihm, dass sie immer noch scherzte und sie seine Frage nicht falsch verstanden hatte.

    „Ich bin eben unmöglich."

    Er spürte ein Lachen in seiner Kehle kratzen. Es war ein unbekanntes und gleichzeitig unangenehmes Gefühl. Er schluckte es herunter und kam doch nicht umhin, Holly ein warmes Lächeln zu schenken. Es war nicht möglich sie anzusehen, und das Leuchten in ihren Augen zu enttäuschen.

    „Es ist alles", gab er zu und erkannte an ihrer Reaktion, dass sie ihn sofort verstand. Das war ebenfalls etwas an ihr, das ihn von Anfang an fasziniert hatte. Sie verstand sich wie kein anderer darauf, seinen komplizierten Gedankengängen zu folgen. Es war nicht leicht, sie zu manipulieren, es war noch schwerer sie auszutricksen und beinah unmöglich etwas vor ihr zu verbergen, wenn man sich nicht dazu entschied, die Flucht anzutreten. Und er hatte ihr versprochen, nicht länger wegzurennen.

    Gestern Abend, nachdem er ihr die Wahrheit über seine Vergangenheit erzählt und seine schrecklichen Vermutungen mit ihr geteilt hatte, hatte er zugelassen, dass sie ein Teil seiner Geschichte wurde. Sie war jetzt nicht bloß irgendeine Frau, um deren Sicherheit er sich kümmerte. Das war lange vorbei. Ihm kam es so vor als kümmerte sich Holly um ihn, statt das er derjenige war, der ihr half.

    „Alles zu viel?", knüpfte sie an seine Worte an. Er hatte nicht weitergeredet und Holly nahm es zum Anlass, seine Gedanken auszusprechen.

    „Es sollte nicht zu viel sein. Doch das ist es. Ich muss ständig darüber nachdenken."

    „Worüber?"

    „Über das, was wir hier tun. Werde ich etwas herausfinden? Gibt es überhaupt mehr zu finden oder verläuft sich der Ansatz einer Spur im grünen Gras, noch bevor daraus mehr als nur ein Ansatz werden konnte. Er sah Holly in die Augen. „Sind wir ehrlich. Wir vertrauen auf die unvollständigen und wirren Träume eines Mannes, dessen Erinnerungen einem Nudelsieb gleichen. Das ist alles andere als vertrauenserweckend. Er hatte Lust, diesen Frust nicht nur mit schwarzem Tee herunter zu spülen.

    „Wirklich?"

    James nickte bekräftigend.

    „Und was ist, falls wir etwas finden? Was, wenn du die Wahrheit herausfindest? Hast du dir überlegt, was dann werden soll? Es besteht die Möglichkeit, dass man dich belogen und bewusst getäuscht hat."

    „Es sollte mir egal sein. Das ist das Schlimmste an der Situation. Die Menschen, die das getan haben, leben nicht mehr, Holly. Daher sollte für mich keine Rolle spielen, was damals passiert ist, oder warum. Ich rede mir ein, dass es mit Satek zusammenhängt."

    „Aber das tut es doch", unterbrach sie ihn. Ihre Stimme klang energisch und er mochte, wie ihre braunen Augen Goldblitze sprühten.

    „Es könnte sich genauso gut herausstellen, dass Satek mich manipuliert. Er sah auf seinen leeren Teller. „Es ist eine Möglichkeit und das wissen wir beide. Als er wieder aufsah, trafen sich ihre Augen.

    „Es ist sogar logischer. Denn mir fällt kein Grund ein, der rechtfertigt, dass der Orden so einen Aufwand betrieb, nur um mich zu täuschen. Das ist einfach ineffizient."

    „Ineffizient?, Holly gluckste. „Das kannst auch nur du sagen. Die schlimmsten Verschwörungen finden immer da statt, wo man sie nicht erwartet und sie ergeben nie Sinn für die Menschen, für die Verrat dieser Art nicht in Frage kommt.

    „Du willst sagen, ich sollte nicht davon ausgehen, dass die Männer damals die gleichen Prinzipien hatten wie ich?"

    Sie nickte und er dachte darüber nach.

    „Mit einem hast du Recht. Die, die am stärksten versuchen, das Richtige zu machen, tun oft genau das Gegenteil und stellen sich als die Grausamsten heraus."

    „Was soll das wieder heißen?", fragte sie verwirrt.

    „Wenn ich so ein guter, ehrlicher Mann wäre, wie du behauptest, hätte ich weder mich, noch dich oder meine Leute über all die Jahre belogen."

    „Du hast erst vor kurzem überhaupt in Erwägung gezogen, dass etwas nicht stimmt. Wie kannst du von Lügen reden, wenn du die Wahrheit nicht kennst?"

    „Ich habe dir nicht meine wahren Gründe genannt, weshalb ich dich gesucht habe. Zu behaupten, er könnte keine Verbindung zu dir haben, war ebenfalls eine Lüge. Und als ich Rhylee Buchanan das Ritual durchführen ließ, ging es mir um selbstsüchtige Motive und nicht so sehr um den Mörder von Steven Craine."

    Er schüttelte den Kopf über sich selbst und sah Holly danach direkt in die Augen. „Egal, was du sagst und wie du das drehst. Du kannst nicht schönen, was ich getan habe und ändern, wer ich bin."

    „Klingt wie Selbstmitleid."

    „Wirklich? Er runzelte die Stirn. Während er seinen Tee trank, ließ er ihrer Feststellung genügend Raum. Nur um auf den Punkt zu kommen. „Ich hasse Selbstmitleid.

    „Konnte ich mir schon denken."

    „Also Schluss damit."

    „Schluss, bekräftigte sie. „Die Vergangenheit zu ändern, liegt nicht in unseren Händen, hat mir mal jemand gesagt und ich finde, er hatte recht damit.

    Er sah ihr in die Augen und erwiderte ihr Lächeln, obwohl er sich anstrengen musste. Nicht, weil er es erzwingen musste. Es war ungewohnt und seine Muskeln eingerostet. Es fühlte sich seltsam an. Aber er erkannte in ihrem Blick, dass er sich nicht so blöd anstellte, wie er befürchtete.

    „Deswegen sind wir schließlich hier. Holly deutete auf den Flughafen. „Um die Wahrheit herauszufinden. Dir zurückzuholen, was dir zusteht und dabei wenn möglich noch einen Weg zu finden, wie wir Satek stoppen. Du bist hier, um dich und mich und womöglich die Welt zu retten. Für mich klingt das ehrenhaft genug. Da ist Selbstmitleid wirklich nicht gefragt.

    „So zusammengefasst stimme ich dir zu."

    „Gut." Sie klang zufrieden.

    Er behielt seine Sorgen für sich. Dass sie auf der Suche nach der Wahrheit, Dinge fanden, die ihm seine Erinnerung zurückbrachten, aber dabei nichts fanden, was ihnen half, Satek zu besiegen. Das war schließlich die eigentliche Mission. Er durfte das nicht aus den Augen verlieren. Die Frage, wer er in Wirklichkeit war; warum man ihm das genommen hatte, war ein persönliches Motiv, das hinter der eigentlichen Mission zurückstecken musste. Doch das tat es nicht. Er fühlte sie nur zu deutlich. Seine Schwäche, nicht an andere zu denken, sondern zu allererst an sich selbst.

    3.

    Gerry

    "Hope is a fragile little thing. But if it is the only thing you have left it grows into something strong and big."

    Miami, 11.03.2017

    Es lag eine unangenehme Ruhe im Raum. Als wäre etwas Schlimmes passiert. Rhylee sah aus, als schliefe sie. Sie hatte keinerlei sichtbare Wunden oder Verbände. Außer dem Sauerstoffschlauch, der von ihrer Nase wegführte, hatte Scott ihr eine Infusion gelegt. Einige tragbare, medizinische Geräte standen auf dem Nachttisch und kontrollierten die Sauerstoffzufuhr, den Herzschlag und den Puls.

    Gerry fühlte sich so deplatziert, dass es ihn erschlug. Es war immer wieder so, als sähe er sie zum ersten Mal in dem viel zu großen Bett liegen. Der Gedanke, wie verloren sie wirkte, wie zerbrechlich, löste einen solch tiefen Schmerz in ihm aus, dass er sich unbewusst über die Brust fuhr. Schließlich riss ein holpriger Alarm ihn aus der Starre und nach Sekunden setzte das rhythmische Piepsen wieder ein, das zu einer Melodie geworden war, an der sein Leben hing. Solange ihr Herz schlug, gab es Hoffnung. Das versuchte er sich zu sagen und es war das einzige, was ihn vom Aufgeben abhielt.

    Er verbrachte jede Minute an Rhylees Bett. Nur, wenn der Doc ihre Gehirnfunktion überprüfte und ein paar seiner regelmäßigen Tests durchführte, verließ Gerry das Zimmer. Meistens stand einer seiner Freunde vor der Tür und nahm ihn mit. Sie überredeten ihn zu essen. Sie überredeten ihn zu schlafen. Er tat manchmal, was sie wollten, weil er zu erschöpft war, um mit ihnen zu diskutieren. Aber länger als zwei Stunden hielt keiner ihn von Rhylee fern. Sollte er hungrig sein, merkte er es nicht, und wenn er schlafen musste, nickte er eben auf dem Stuhl ein. Das störte ihn nicht. Für solche Bedürfnisse war kein Platz. Alles wurde von der nagenden Angst verdrängt, sie zu verlieren. Sie durfte ihn nicht verlassen! Nicht so. Da war noch so viel, was er ihr sagen wollte.

    Es klopfte an der Tür, aber Gerry reagierte nicht darauf. Ein paar Sekunden später kam Emily herein. Sie trug zwei Becher in den Händen, von denen sie ihm einen reichte. Er versuchte dankbar zu nicken, doch ein Lächeln brachte er nicht zustande.

    „Daniel meinte, ich sollte dir einen Tee bringen. Sie sah ihn an. „Ich dachte mir, dir wäre ein schwarzer Kaffee lieber. Sie lächelte leicht, ohne dass es ihn überzeugte. Ihre Augen waren ein Echo seiner eigenen Gefühle.

    Er musste sich abwenden. „Kaffee ist schon okay", brummte er und schlürfte an dem Becher. Es war so, als reagiere sein Körper im Autopilot-Modus. Er dachte gar nicht über das nach, was er tat. Für einen Augenblick schmeckte Gerry die bittere Note des schwarzen Kaffees, dann war auch das Gefühl in der Leere verschwunden, die ihn erfüllte. Alles löste sich in der tiefen Schwärze in seinem Inneren in Nichts auf.

    Rhylees beste Freundin blieb und setzte sich auf das Fenstersims. „Hat Scott gesagt, wie es ihr geht?"

    Er schüttelte den Kopf. Trotzdem er mit keinem reden wollte, kam ihm die Möglichkeit mit Emily zu sprechen im Augenblick wie ein Anker vor. Jede Stunde, die verging, ohne dass es Rhylee besser ging, verlor er sich mehr in Hoffnungslosigkeit.

    „Nichts Genaues. Er verschränkte die Arme vor dem Oberkörper. „Scott meint, wir müssen abwarten, dass sie aufwacht. Er tut, was er kann, um sie dabei zu unterstützen.

    „Aha. Emily seufzte. „Ich dachte immer, ich sei ein sehr geduldiger Mensch, aber ich befürchte Weihnachtsgeschenke auszupacken und das hier ist nicht das gleiche.

    Er lachte gezwungen über ihren Vergleich. Ihre Stimme klang als plaudere sie mit ihm an einem sonnigen Nachmittag auf dem Balkon, während sie darauf wartete das Rhylee fertig wurde, damit sie beide zu einer Shoppingtour durch London aufbrechen konnten. Leider war es nicht so und das Bild entsprang bloß seiner Erinnerung.

    „Es ist so lächerlich. Das letzte Mal, als Rhylee und ich privat miteinander gesprochen haben, den Streit den wir hatten, sie brach ab und seufzte wieder. „Ich weiß nicht mal mehr was ich alles gesagt habe, außer dass sie verkorkst sei.

    Er sah sie ungläubig an

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