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Auf dem Zahnfleisch durch Eden: Wohin einer kommt, wenn er geht
Auf dem Zahnfleisch durch Eden: Wohin einer kommt, wenn er geht
Auf dem Zahnfleisch durch Eden: Wohin einer kommt, wenn er geht
eBook249 Seiten3 Stunden

Auf dem Zahnfleisch durch Eden: Wohin einer kommt, wenn er geht

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Über dieses E-Book

Henky Hentschel war von Anfang an dabei. Bei den Sit-ins und Demonstrationen, bei den Polit-Palavern und in der Drogen-Szene. Auf einmal hat er die Nase voll – von den fruchtlosen Endlos-Debatten, vom Psycho-Terror in Wohngemeinschaften, von der Unmöglichkeit, wirklich etwas zu verändern. Er wirft den Krempel hin und zieht nach Elba, um alternative Landwirtschaft zu betreiben. Aber im vermeintlichen Garten Eden erwarten ihn neue Konflikte – mit den italienischen Bauern der Umgebung ebenso wie mit den anderen Landkommunarden, grüne Freunde springen beim ersten Schweiß, den ersten Schwielen und Schwierigkeiten ab. Auch hier geht er bald auf dem Zahnfleisch, besitzt jedoch genügend Selbstironie und Sprachwitz, um seinen dornigen Weg so anschaulich und amüsant zu schildern, dass eine Generation sich darin wiedererkennen kann.

(*Anfang der Achtziger Jahre)
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum16. Okt. 2019
ISBN9783750243965
Auf dem Zahnfleisch durch Eden: Wohin einer kommt, wenn er geht

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    Buchvorschau

    Auf dem Zahnfleisch durch Eden - Henky Hentschel

    titel_zahnfleisch.jpg

    ---

    Henky Hentschel

    Auf dem Zahnfleisch

    durch Eden

    Wohin einer kommt, wenn er geht

    Originalausgabe war:

    HEYNE-BUCH Nr. 18/5

    im Wilhelm Heyne Verlag, München

    Umschlagfoto: Süddeutscher Verlag, Bilderdienst, München

    Umschlaggestaltung : Atelier Ingrid Schütz

    E-Book Ausgabe

    Copyright © 2019 by Naomi Hentschel

    Hrsg. von Ulli Hentschel und Susanne Plath

    ---

    1

    Als wir ankamen, regnete es. Der Regen war gewalttätig und ließ uns spüren, dass wir auf einer Insel waren. Der Regen versperrte die Sicht und zerstörte die Straße. Der Regen war nicht wie der Regen, den wir kannten. Er schlug das Land und duldete keinen Widerstand. Er spülte uns durch die verlassenen Straßen des Dorfes und hinunter zum Haus Eric Brögls. Es war Ende Oktober, und Ende Oktober fängt auf der Insel der Winter an. Es war uns egal. Wir nisteten uns in Erics Touristenbungalow ein, der für sommerliches Ferienglück gebaut war, und das Häuschen war unheizbar und die Betten klamm, und nachts verging uns alles, sogar das Wichtigste, obwohl wir uns noch gar nicht so lange kannten. Es war uns egal. Uns war so ziemlich alles egal, was uns hätte stören können, die Kälte, die Nässe, der Sturm, der mitten in der Nacht Türen und Fenster aufdrückte, die Schreie unbekannter Nachtvögel, die uns erschreckten, die Schimmelpilze, die nach und nach die Küche überzogen – was war das schon gegen die graue Rechtwinkligkeit, aus der wir kamen, gegen den ganzen festgefahrenen Kram dieser ordentlichen Republik, die wir verlassen hatten, gegen die beklemmenden Diskussionen übers Geschirrspülen und Kinderhüten in unserer beispielhaft abgefuckten Psychokommune, gegen die Eintönigkeit des ewig durchschnittlichen Wetters, gegen das öde Geschwätz über die Revolution und den Rentenanspruch, über Dope und beschissene Filme und unseren seelischen Knacks und die Gesellschaft, die dran schuld ist, und über den, der gerade nicht da war, und den, der gerade im Knast war. So nass und kalt konnte es gar nicht werden, so klamm konnten die Betten gar nicht sein, dass wir darauf verzichtet hätten, die Insel um Paradies auf Erden zu ernennen. Wir packten also unsere paar Klamotten aus und machten es uns bequem in unserer nassen Touristenhöhle, und alle paar Tage kratzten wir den Schimmel aus der Küche, und wenn die Sonne schien, hängten wir die Betten über die Pinien und die Mimosen und hofften, am Abend wären sie ein bisschen trockener und wir kämen zu unserem Fick. Aber die Betten trockneten nicht, und wir fanden uns damit ab und waren trotzdem high, wenn wir dem Wind zusahen, wie er die Eukalyptusbäume fledderte, oder dem Meer, das die Küsten peitschte, oder einem dieser superkitschigen Sonnenuntergänge mit all dem Rot und Orange und Violett und Blau hinter der schwarzen Silhouette des Dorfes auf seinem Hügel.

    In den ersten Tagen liefen wir im Regen durch die Macchia oder am Meer entlang und kamen tropfnass wieder zurück, bunte Steine in den Händen oder ein paar Muscheln oder seltsam geformte Holzstücke oder ein paar Blumen, die den Herbst mit dem Frühling verwechselt hatten. Wir berauschten uns an den Gerüchen und an der Salzluft und am Wein, der so trocken war, dass wir immer einen zweiten Schluck brauchten, um den ersten hinunterzuspülen, und so billig, dass es uns nicht darauf ankam.

    Nach einer Woche oder so hatten wir genug vom Touristenleben. Der Regen hatte aufgehört, und wir halfen Eric im Garten oder hockten in der Sonne und verarbeiteten unser mitgebrachtes Leder zu Jacken und Hosen. Es ging so elend langsam, dass wir glaubten, nie damit fertig zu werden. Wir waren gewohnt, mit der Maschine zu arbeiten, und jetzt quälten wir uns mit der Nadel in der Hand Stich für Stich durch das zähe Leder und zerstachen uns die Fingerkuppen, und wenn das Leder vierfach lag, mussten wir die Nadel mit der Zange durchziehen. Aber es war die einzige Möglichkeit, zu Geld zu kommen, und wir wollten eine Weile hierbleiben und dann weiterziehen, nach Afrika, nach Amerika, zum Mond, zum Mars... Der Inselrausch und der feste Wille, nicht zu kapitulieren, hielten uns hoch, und manchmal arbeiteten wir die halbe Nacht im Schein einer viel zu dunklen Lampe und saßen auf Kissen am Steinboden, eng an den lauwarmen elektrischen Heizkörper gedrückt, der uns die Illusion von Trockenheit und Wärme verlieh.

    Als Ausgleichssport zertrümmerte ich mit dem schweren Hammer riesige Felsbrocken. Die Splitter flogen mir um den Kopf und ins Gesicht, und nach wenigen Tagen platzten die Blutblasen an meinen zarten Städterhänden, aber ich kümmerte mich nicht darum, und die Wunden wuchsen wieder zu. Eric ließ die Brocken lastwagenweise kommen. Auf dem Nachbargrundstück hatte eine Familie aus dem Dorf begonnen, sich einen Sommersitz zu errichten. Eine Wellblechbaracke entstand in der Mitte eines verlassenen Ackers, und Eric baute jetzt eine lange Mauer zum Schutz gegen den sommerlichen Lärm und das Geplärr der Kofferradios. Ich hatte das Gefühl, seit langer Zeit endlich mal wieder etwas Vernünftiges zu tun.

    Meine kaputten Hände kümmerten mich einen feuchten Dreck, und Eric war mein großer Meister, den ich nur aus der Wurmperspektive betrachtete. Ich lieferte ihm Trumm für Trumm und war glücklich damit.

    Abends saßen wir um den Kamin, und die Rebstöcke und die Erikawurzeln leuchteten dunkelrot. Der Rauch duftete, und Natascha schaute frech über ihren keimenden Brüstchen, und hätte ich nicht gewusst, dass sie elf war und Erics Tochter, ich hätte sie für sechzehn und die Tochter eines anderen gehalten, und es wäre noch schlimmer gewesen. Man sprach von Astrologie und Meditation und Makrobiotik und Zen und vom I Ging und darüber, wie man leben sollte, und die ganze Zeit duftete das glühende Holz im Kamin.

    Ein paar Mal rastete dabei mein Spaniensyndrom ein. Ich fühlte mich wie zwölf Jahre vorher, als ich einen Januar in Sitges erlebte, der schon damals jeder Beschreibung spottete und es heute immer noch tut. Ich lebte einen ganzen Monat lang im Rausch. Das Meer und der Wind und die Gerüche und die Camparis und die Centraminas und die verrückten Mädchen, die zum Wochenende aus Barcelona herüberka­men, zerfransten mein Gehirn. Schließlich fuhr ich ab, immer noch zwischen Traum und Rausch, und erst als ein Landsmann mir beim Trampen Geld und Gepäck klaute, wachte ich auf.

    Damals in Spanien fingen mich die Kamine. Ich konnte stundenlang in einen Kamin starren und dem Olivenholz beim Brennen zusehen, und ich sah Geister und Tiere und Monster und hatte keine Wünsche. Ähnlich war es in diesen Anfangstagen bei Eric. Ehe ich mich versah, hatte mich die Insel in Ketten aus Rosmarinduft und Erdfarben gelegt. Alles erschien mir leicht. Ich wusste, dass ich nicht zurück musste, keine Ferien machte, die irgendwann wieder zu Ende sind. Ich wusste, dies sind die ersten Tage von etwas Neuem, das ins lchweißnichtwo führen wird, dorthin, wo alles möglich ist. Und Karen ging es genauso wie mir.

    Eric war Schriftsteller mit Talent zum Malen, und in seinem großen Arbeitsraum herrschte ein geordnetes Durcheinander von Manuskripten, Bildern und Musikinstrumenten. Manchmal verbrachten wir halbe Nächte darin und trommelten auf Schlagzeugen, Bongos und Kongas, und Karen geriet so in Ekstase, dass ihre Hände am anderen Morgen blau und dick verschwollen waren. Hätte es Orgien gegeben im Hause Brögl, wir hätten uns hemmungslos daran beteiligt, ebenso an Tischtennisturnieren oder der Weltmei­sterschaft im Kuchenessen – wir fühlten uns lebendig wie nie zuvor in unserem Leben.

    Und doch hing etwas Düsteres über der ganzen Szenerie, etwas Unausgesprochenes, Undurchschaubares, das manchmal die Gespräche verstummen und uns hilflos schweigen ließ.

    Colette, Erics Frau und Nataschas Mutter, wirkte oft wie eine, die auf der Flucht ist – auf der Flucht vor etwas, das wir nicht kannten. Wie verschüchtert drückte sie sich in dem großen Haus herum, knüpfte ihre Makrameegürtel, wo es keiner sah, und schleppte ihre Migräne in ihr Kämmerlein, das sie tagelang nicht zu verlassen schien, bis wir merkten, dass sie heimlich weite Spaziergänge machte. Im Ginstergestrüpp fand sie Ruhe. Auf den ersten Blick wirkte sie kräftig und stark. Aber ihr Gesicht zeigte die Linien der Unrast und der Angst. Erics Arbeitsraum betrat sie selten, und meist schwieg sie, wenn wir zusammensaßen. Manchmal glättete sich ihr Gesicht und sie sprudelte Sätze hervor und Satzfetzen und Fragen, auf die sie keinerlei Antwort erwartete. Dann wurde sie weggefegt von ihrem Redeschwall, als müsse sie alles auf einmal loswerden, was sie über Wochen in sich angestaut hatte. Sie war bewandert in Astrologie. In ihrem höhlenartigen Zimmer bewahrte sie die Ephemeriden auf. Mystisches und Okkultes ließen sie die Ohren spitzen, und hätte sie gekonnt, sie hätte schwarze Messen besucht und Zaubertränke gebraut. Aber ihr Dasein als Hausfrau und Mutter setzte ihrem Lebenshunger Grenzen, die sie nicht überwand. Colette zählte wenig im Bröglschen Garten Eden. Eric drückte allem so machtvoll seinen Stempel auf, dass anderen kaum die Luft zum Atmen blieb. Er war ein Wikinger des Südens, groß, schwer und kantig, und sein grauender Vollbart rahmte ein knochiges Gesicht, das mit rindiger Haut bespannt war. Groß, schwer und kantig war auch, was er dachte, und mehr noch, wie er es sagte. Wenn Eric sich einmal zu etwas geäußert hatte, dann war das Urteil gefällt, ein für allemal, bis ans Ende der Tage.

    »Abspülen ist eine meditative Übung«, sagte Eric, und damit war die lästige Geschirrspülerei zu einer meditativen Übung geworden; wer das nicht einsah, war ein Ignorant oder ein Faulpelz.

    »Und wenn ich keine Lust dazu habe?«, fragte Colette, als sie einmal sehr mutig oder sehr verzweifelt war.

    »Das gibt es nicht«, war die lakonische Antwort. Das Thema war damit erledigt, und die Tischrunde bemühte sich, über Ungefährlicheres zu sprechen. Manchmal versuchten wir es mit dem Wetter.

    »Heute ist Scirocco«, konnte Eric dann sagen. Scirocco ist der Inselföhn, ein warmer, nasser Südwind, der schwere Wolken vor sich hertreibt, aus denen nie ein Tropfen Wasser fällt. Bei Scirocco geht nichts, die Menschen sind lustlos und mürrisch, Verabredungen platzen, es kommt keine Post, weil der Briefträger keine Lust hat, die alten Leute sterben, der Bäcker bäckt kein Brot, der Bus hat Verspätung, der Schreiner nimmt keine Aufträge an und die Stadtwächter verteilen Strafzettel an Stellen, wo sonst alles erlaubt ist. Scirocco ist eine unübersehbare Naturgewalt. Wir merkten nichts von Scirocco, aber Eric sagte: »Heute ist Scirocco!«, und damit war Scirocco, und zwar den ganzen Tag, selbst wenn uns der Ostwind mitten ins Gesicht blies.

    Im Grund war Eric ein mittelalterlicher Typ, dem die Welt keine Rätsel aufgab und keine Fragen stellte. Oben war oben und unten war unten. Richtig war richtig und falsch war falsch.

    Seine Besucher hingen ihm am Mund. Von ihm sollte Antwort auf ihr säuerliches Dasein kommen. Eric fragte:

    »Was würdest du tun, wenn du in drei Tagen sterben müsstest?«

    Sie sagten irgend was, und im nächsten Zug waren sie schachmatt :

    »Und warum tust du das nicht schon jetzt?«

    Das Haus, in dem Eric mit Colette und Natascha wohnte, hatte er in Sturm, Regen und sengender Hitze selbst gebaut. Es ist ein Haus, das seinesgleichen sucht auf dieser Insel, die voller schöner Häuser ist. Als ich das erst Mal hinkam, hatte ich das Gefühl, eine Kultstätte zu betreten. Der Eichenwald wie ein Park mit Palmen, Mimosen, Orangen, Zitronen, japanischen Mispeln, Rosmarin, Thymian, marokkanischer Minze, Salbei, Rosen, leuchtenden Blumenkissen – Supersü­den. Das Haus selbst mit Treppen, Arkaden, Mauern aus behauenen Steinen, Fensterbögen, Terrassen – Superarchi­tektur. Und wie in seiner Umgebung jeder Quadratzentimter seine Handschrift trug, so unverkennbar war Eric auch in seinen Kurzgeschichten und in seinen Gedichten, die er im Allerheiligsten dieser Kultstätte, seinem Arbeitszimmer, schrieb. Las er aus seinem Gedichtzyklus ‚Die Erschaffung Gottes in sieben Tagen‘ vor, dann weckte er in den Zuhörern Bilder von rembrandtscher Leuchtkraft, Bilder von ineinander verschlungenen Echsen, Vögeln, Fischen, die Landschaf­ten bildeten und Höhlen, von Verwerfungen und sprachlichen Räumen, in denen es keinen Anfang gab und kein Ende, kein vorn und kein hinten. All das schrieb er unter der Knute einer eisernen Selbstdisziplin. Jeden Mittag stieg er hinauf in sein Arbeitszimmer und war dann für vier, fünf Stunden verschwunden. Niemand wagte, ihn da oben zu stören. Kein Verleger trieb ihn zum Schreiben; er musste nicht einmal davon leben. Die Regelmäßigkeit forderte er sich selbst ab, mit einer charakterlichen Härte, die ihn jeden Exzess, jede Übertreibung und jedes Ergeben in den Rausch verachten ließ.

    Colette zog ab und zu mal einen durch, wenn es sich so ergab. Karen und ich ebenfalls. Für Eric war das eine Tat an der Grenze zur Selbstaufgabe.

    »Ich werde high, wenn ich meinen Weinberg hacke«, sagte Eric.

    »Aber das ist doch etwas ganz anderes!«

    »Hol dir doch ne Hacke!«

    Ich holte mir eine, und ich blieb dabei, dass es etwas anderes war, aber mit Eric war nicht zu reden. Wir wagten nicht einmal, ihm einen Zug anzubieten, und das Rauchen erschien uns wie ein Verstoß gegen die Zehn Gebote, auf den unser Wikinger-Gott mit Auspeitschung reagieren würde.

    Einkaufen, Kochen, Nähen, Steine zertrümmern, Italienisch lernen, die Strände absuchen nach Schönem oder Nützlichem, trommeln, die Insel erforschen – wir hatten genug zu tun. High waren wir sowieso. Wir gerieten in einen jener lang anhaltenden Glückszustände, die Energien freisetzen, von deren Existenz du dir vorher nicht einmal hast träumen lassen.

    Ins Dorf kamen wir selten. Wir kannten niemanden außer dem Gemüsehändler, dem Bäcker und den Verkäuferinnen in der Proletaria, der Ladenkette der Gewerkschaft. Zwei-, dreimal in der Woche fuhren wir hoch, um unsere Einkäufe zu machen. Auf der Piazza oder hinter den beschlagenen Scheiben der drei Bars standen die Männer und betrachteten uns mit einer Mischung aus Neugier und Abwehr – zumin­dest erschien es uns so. Nie sahen wir einen lächeln oder gar lachen. Wir fühlten uns fremd und verloren und fuhren schnell wieder zurück. Das Dorf hatte für uns etwas Beklemmendes, und wir konnten nicht orten, was es war. Frauen waren kaum zu sehen, und die Männer schienen nichts zu tun zu haben. Offenbar warteten sie, aber wir wussten nicht, worauf. Viele hatten tiefzerfurchte Gesichter, wie wir sie nur von alten Fotografien kannten. Wie sie aussahen, mussten sie viel erlebt haben, mussten sie gehungert und gelitten haben. Ich erinnerte mich an die glatten Larven der deutschen Großstadtbewohner, deren Leben schnurgerade vom Kindergarten zum Rentenempfang führte. Sie sahen sich so ähnlich wie ein Chinese dem anderen. Die hier waren anders, sie hatten ihre eigenen, selbst gemachten Gesichter, die mir gefielen und mich gleichzeitig beunruhigten. Nach einiger Zeit grüßte ich die, die ich schon öfter gesehen hatte. Wenige grüßten zurück, die meisten schauten weg. Ein Fremder, der zu grüßen anfängt, war ihnen verdächtig.

    An warmen Sonnentagen saßen alte Frauen vor den Häusern und strickten oder spannen. Sie brachten in die winkligen Gassen zwischen den aneinandergelehnten Häusern, von denen der Anstrich abblätterte, ein Stück Idylle. Die Welt war heil, selbst die Ruinen gewannen etwas Romantisches, die streunenden Katzen und die abgemagerten Hunde wurden Dorfkolorit.

    Bei schlechtem Wetter verschwanden die alten Frauen, und mit ihnen verschwand die Idylle, und was vorher romantisch aussah, war jetzt arm und hässlich. Die Ruinen der zusammengestürzten Häuser standen zum Verkauf, weil ihre Besitzer das Geld nicht hatten, sie wiederaufzubauen. Der Anstrich blätterte von den alten Fassaden, weil es zu teuer war, ihn zu erneuern. Die engen Gassen lagen düster und menschenleer, und Hund und Katz lieferten sich einen Kampf auf Leben und Tod um zerfetzte Plastiktüten voller Müll. In den Bars drängten sich die Männer und starrten hinaus auf die Piazza, auf der nichts zu sehen war.

    Im Haus Brögl dagegen war es lebendig. Eric baute seine Mauer und schrieb seine Gedichte. Colette färbte ihre Schnüre und knüpfte ihre Gürtel. Karen und ich nähten und nähten und nähten, und wir steckten uns gegenseitig an mit unserer winterlichen Arbeitslust. Nur die Sonntage waren anders, wenn Natascha nicht in die Schule ging und Eric nicht schrieb. Dann machten wir Ausflüge quer über die Insel und kehrten verzaubert heim von den wilden Tälern, den verlassenen Palazzi, verborgenen Kirchen, vielfarbigen Felsen, den rosmarinüberzogenen Hängen und malachitbesäten Stränden, zurück an die Arbeit.

    Ab und zu kamen Besucher, ausgeflippte Typen, die man behandeln musste wie rohe Eier, um ihre ausgeprägten Eitelkeiten nicht zu verletzen. Gartenzwerghafte Kunstmaler aus Wasserburg wechselten ab mit bayerischen Mönchen aus einem japanischen Zen-Kloster auf Jahresurlaub. Den Mönchen folgte Achmed, der Tunesier, der im Dorf wohnte und malte, dann kam ein norwegischer Seemann um die Fünfzig, der zwei Jahre lang mit Stieren und sonst niemandem auf einer Schäre gelebt hatte und anschließend mit seinem Zweimaster mutterseelenallein nach Amerika gesegelt war, dort den Südkontinent durchquert und schließlich in brasilianischen Schlachthäusern malocht hatte. Jetzt transportierte er sommers Schweizer Tauchschüler zu entfernten Inseln, wo er sie mit einem Seufzer der Erleichterung eine Stunde ins Wasser ließ, immer mit dem Hintergedanken, sie dazulassen und Kurs auf die Azoren zu nehmen. Er war Spezialist für deutsche und englische Geschichte von 1933 bis Ende des Zweiten Weltkriegs, und wenn er nicht von lebensgefährlichen Stürmen oder norwegischen Stieren erzählte, begründete er seinen Hass auf die Engländer und seine klammheimliche Liebe zu Adolf dem Letzten.

    Er und alle anderen prallten mit ihren Reden an der sarkastischen Unerschütterlichkeit des Hausherrn ab, der ihnen mit ironischen Zwischenbemerkungen den Wind aus den Segeln nahm, bis sie still wurden und nur noch den Worten des Meisters lauschten. Karen und ich aber waren tief beeindruckt, für uns waren das Menschen von nie gekannter Außerordentlichkeit, Menschen außerhalb jeden Schemas, Menschen, die keine Kompromisse machten und taten, was sie sich in den Kopf gesetzt hatten, Menschen, die wir spontan und kritiklos bewunderten.

    Schließlich tauchte Rut auf. Der Sturm draußen zerbrach junge Eukalyptusbäume und warf die Boote auf den Strand, aber im Vergleich zu Rut war er eine leichte Brise. Sie war eine füllige Dame in den Fünfzigern mit glatten grauen Haaren. Ihre Züge zeigten die Spuren kosmopolitischen Wahnsinns. Die russische Jüdin aus der Schweiz mit polnischen Vorfahren war aus Paris auf die Insel gekommen. Sie sprach sieben Sprachen, Schwyzerdütsch eingerechnet. Sie sprach sie fließend, gern und laut, und nichts machte ihr mehr Spaß, als mitten im Satz zweimal umzusteigen. Ihr Vater war einst mit Lenin im famosen Plombenzug zur heimatlichen Revolution durchs Deutsche Reich gefahren, und diese Tatsache machte einen wesentlichen Teil von Ruts Selbstverständnis aus, egal, was schließlich aus der Revolution geworden war. Ihre wahre Leidenschaft jedoch waren ‚le cose belle‘, die schönen Dinge. »Wie schön!« rief sie ein ums andere Mal aus, seit sie das Bröglsche Haus betreten hatte. In ihrem Gefolge war ein schüchternes junges Psychologenehepaar aus Paris erschienen, ästhetisierende französische Intellektuelle, die Giscard wählten, keinen Alkohol vertrugen und sich nach dem fünften, sechsten Glas Wein fast verprügelt hätten. Auch sie fanden alles schön, was es in Erics guter Stube zu sehen gab, aber Rut ließ ihnen nicht die Zeit, den schweren Eichentisch oder den Kamin oder den Blasebalg oder die Natursteinmauer in der Eßnische genauer zu betrachten. Wie ein geübter Fremdenführer, der zu schnell redet und zu schnell weitergeht, fegte sie mit ihnen durchs Haus; und betrachteten die Psychologen gerade Colettes Makrameegürtel, so kam Rut mit einer von Erics flüchtig hingeworfenen Tuschezeichnungen, nahm ihnen den Gürtel weg und drückte ihnen das Bild in die Hand.

    »Seht nur die Eleganz der Strichführung!« rief sie und war schon wieder weg, um nach wenigen Sekunden mit einem handbemalten Teller zurückzukehren.

    »Kennt ihr die? Sie sind wunderschön, man findet sie auf dem Festland in der Nähe von Siena, ich habe welche in meinem Laden,

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