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Der Duft der Erinnerung
Der Duft der Erinnerung
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eBook407 Seiten5 Stunden

Der Duft der Erinnerung

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Über dieses E-Book

Was wäre, wenn man Erinnerungen einfach konservieren könnte?

Seit sie denken kann, lebt Emmeline mit ihrem Vater allein auf einer rauen Insel im Atlantik. Er lehrt sie alles über die Natur. Doch vor allem schult er eines: Emmelines außerordentlichen Geruchssinn. Die Wände ihrer kleinen Hütte sind voller Schubladen mit geheimnisvollen Fläschchen. Darin befinden sich Düfte, die ihr Vater herstellt. Ihr Geruch ist so intensiv, dass sie Erinnerungen an ferne Orte hervorrufen: den Gipfel eines Berges, einen abgelegenen Dschungel … Emmeline beginnt von diesen Orten zu träumen, obwohl sie weiß, dass ihr Vater die Insel nie verlassen würde. Doch dann beginnt die idyllische Welt zu bröckeln. Die Düfte in den Flaschen verschwinden, und mit ihnen verliert ihr Vater den Bezug zur Realität. Und plötzlich ist Emmeline, die nie Kontakt zu einer anderen Menschenseele hatte, ganz auf sich allein gestellt. Mithilfe eines Fischers gelangt sie ans Festland, wo sie nur einen Wunsch hat: mehr über ihre Herkunft herauszufinden - und über ihre Mutter.

»Lyrisch … bezaubernd … spricht alle Sinne an. Ich war fasziniert.«
New-York-Times-Bestsellerautor Jamie Ford

»Eine meisterhaft geschriebene Coming-of-Age-Geschichte, die den Leser auf ein olfaktorisches Abenteuer entführt.«
Kirkus Reviews

SpracheDeutsch
HerausgeberHarperCollins
Erscheinungsdatum18. Feb. 2020
ISBN9783959679299
Der Duft der Erinnerung
Autor

Erica Bauermeister

Erica Bauermeister ist die Autorin von vier Romanen und zwei Leseratgebern. Gerade schreibt sie an einem Memoir. Sie lebt mit ihrem Ehemann und 238 Rehen in Port Townsend, Washington.

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    Buchvorschau

    Der Duft der Erinnerung - Erica Bauermeister

    HarperCollins®

    Copyright © 2020 für die deutsche Ausgabe by HarperCollins

    in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

    Copyright © 2019 by Erica Bauermeister

    Originaltitel: »The Scent Keeper«

    Erschienen bei: St. Martin’s Press, New York

    Published by arrangement with St. Martin’s Press.

    All rights reserved.

    Dieses Werk wurde im Auftrag von St. Martin’s Press

    durch die Literarische Agentur

    Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover, vermittelt.

    Covergestaltung: bürosüd, München

    Coverabbildung: Andrey Yurlov, Anton Petrus, Jean Marie Biele,

    Kanyapa Fuangvudhiran, Azad Siwani, atiger, Alisa Pravotorova,

    Alisa Pravotorova / Shutterstock

    Lektorat: Rainer Schöttle

    E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

    ISBN E-Book 9783959679299

    www.harpercollins.de

    Widmung

    Für die Inseln

    Prolog

    Prolog

    Ohne es zu wissen, tragen wir die Geheimnisse unserer Eltern mit uns herum, wie kleine Wellen, die entstehen, wenn Steine ins Wasser geworfen werden – nur waren wir nicht dabei, als das geschah. Wenn ich die Augen schließe und tief einatme, kann ich immer noch den spröden und zugleich Funken sprühenden Moment riechen, in dem ich das Vertrauen in meinen Vater verlor, was ihm wiederum das Herz brach. Ich kann die honigsüßen Versprechen meiner Mutter riechen.

    Vielleicht riechst du es auch – und sogar noch mehr. Die sengende Hitze, die ein Junge abstrahlt, der zu viel Angst hat, um seine Wut rauszulassen. Die überwältigende Benommenheit eines Mädchens, das in einem einzigen großen Moment alles verliert. Die Gerüche von Regen, Salz und einer Spur von Pfeifenrauch. Von Dingen, die passiert sind, bevor du zu mir gefunden hast.

    Ich spüre dich, mein kleiner Fisch, wie du in Ebbe und Flut meines Blutstroms umherschwimmst. Ich spüre dich in meinem Atem. Wir Menschen bestehen fast vollständig aus Wasser, abgesehen von den Steinen unserer Geheimnisse. Ich hoffe, meine Bestandteile werden zu festem Boden unter deinen Füßen, wenn du den wilden Fluss deines Lebens durchquerst. Ich hoffe, du findest Steine, aus denen du ein Haus bauen kannst, und nicht solche, die schwer auf dir lasten und dich niederdrücken. Das ist mein Geschenk für dich.

    Ich will dir eine Geschichte erzählen.

    Ich will dir alles sagen.

    ERSTER TEIL

    – Die Insel

    ERSTER TEIL

    Die Insel

    Der Anfang

    Als es noch keine Zeit gab, lebte ich mit meinem Vater auf einem Eiland inmitten einer endlosen Inselgruppe, das aus dem kalten Salzwasser ragte und nach Luft hungerte. Ich wuchs zwischen Regen und Moos und alten Bäumen mit dicken Rinden auf, und es war ganz leicht zu vergessen, dass der größte Teil unserer Insel unter Wasser lag – fünfzig, hundert, hundertfünfzig eiskalte Meter in der Tiefe. Unerreichbar, denn man konnte nicht lange genug den Atem anhalten, um ganz nach unten zu tauchen.

    Diese Inseln waren Orte, an die man sich flüchtete, wenn man vor seinem bisherigen Leben Reißaus nahm, aber das verstand ich damals noch nicht. Es gab nichts, wovor ich hätte Reißaus nehmen wollen, aber gute Gründe, um dazubleiben. Mein Vater war alles für mich. Ich habe Menschen mit strahlenden Augen sagen hören, jemand sei »die ganze Welt« für ihn oder sie. Aber mein Vater war meine ganze Welt, in einem Maße, dass es mich heute manchmal noch packt und umherwirbelt wie Treibholz in einem Sturm.

    Unsere Hütte stand in einer Lichtung in der Mitte der Insel. Wir waren nicht die Ersten, die dort wohnten – diese Inseln blicken auf eine lange Geschichte als Zufluchtsorte für Ausreißer zurück. Vor fast einem Jahrhundert lebten dort französische Pelzjäger, die in einem tänzelnden Singsang sprachen. Holzfäller mit baumstarken Schultern und Fischer, die auf der Jagd nach silbern schimmernden Lachsen waren. Später kamen Männer, die den Wehrdienst verweigert hatten und sich vor dem Krieg verstecken wollten. Hippies, die sich nicht an Regeln halten wollten. Die Inseln nahmen alle auf, aber Stürme und lange, kalte Winter jagten die meisten wieder davon. Die Landschaften waren von einer rauen Schönheit, die ebenso leicht töten wie begeistern konnte.

    Unsere Hütte hatte ein entschlossener Ausreißer gebaut. Er wählte einen Platz, den niemand finden konnte, und baute sein neues Heim aus Bäumen, die er selbst gefällt hatte. Vierzig Jahre blieb er auf der Insel, rodete die Fläche um seine Hütte, um einen Garten und eine Obstplantage anzulegen. Eines Herbsttags verschwand er einfach so. Es hieß, er sei ertrunken. Danach war die Hütte jahrelang unbewohnt, bis wir kamen und die Apfelbäume entdeckten. Das erhöhte die Anzahl der Inselbewohner auf zwei.

    An unsere Ankunft kann ich mich nicht erinnern; ich war noch zu klein. Ich weiß nur, dass ich dort gelebt habe. Ich erinnere mich an die gewundenen Pfade zwischen den wie Aufpassern dastehenden Bäumen, den Geruch der Erde unter unseren Füßen, die so dunkel und vielschichtig war, wie Märchen es sind. Ich erinnere mich an die Hütte mit dem einen Zimmer, den großen Sessel neben dem Holzofen und unsere Sammlung von Geschichten und naturwissenschaftlichen Büchern. Ich erinnere mich an den Geruch des Holzfeuers und der Kiefernnadeln im Bart meines Vaters, wenn er mir abends etwas vorlas, an das geisterhafte Aroma des Pfeifentabaks, den der Ausreißer zurückgelassen hatte. Dieses Tabakaroma war in die Bretter und Balken eingezogen und verlor sich nie ganz. Ich erinnere mich daran, wie sich der Regen mit unserem Dach zu unterhalten schien, während ich einschlief, und wie das Feuer dann im Ofen knisterte, um den beiden zu sagen, dass sie ruhig sein sollten.

    Am besten aber erinnere ich mich an die Schubladen.

    Mein Vater hatte angefangen, sie zu zimmern, als wir eingezogen waren, und als er damit fertig war, säumten sie unsere Wände vom Fußboden bis zur Decke. Sie waren klein, ihre polierten Vorderseiten nicht größer als meine Kinderhand. Sie umgaben uns wie der Wald und die Inseln vor unserer Tür.

    Jede Schublade enthielt eine kleine Flasche, und in jeder Flasche befand sich ein zusammengerolltes Blatt Papier, das ein Geheimnis barg. Die Glaspfropfen auf den Flaschen waren mit verschiedenfarbigem Wachs versiegelt – rot in den oberen Reihen, grün in den unteren. Mein Vater öffnete diese Flaschen fast nie.

    »Wir müssen sie gut verschlossen halten«, sagte er.

    Aber ich konnte das Papier in den Schubladen flüstern hören.

    Komm, finde mich!

    »Darf ich?«, fragte ich wieder und wieder.

    Schließlich gab er nach. Er griff nach einem ledergebundenen Buch mit lauter Zahlen und fügte eine hinzu. Dann drehte er sich zu den Schubladen um und überlegte, welche er nehmen sollte.

    »Da oben«, sagte er und zeigte auf die roten Flaschen. Geschichten fangen ja auch immer oben auf einer Seite an.

    Mein Vater hatte eine Leiter gebaut, die an der Wand entlangfahren konnte. Ich schaute zu, wie er sie bis fast an die Decke erklomm, in eine Schublade griff und die Flasche herausholte. Zurück auf dem Fußboden, brach er vorsichtig das Siegel. Ich hörte Glas an Glas schrammen, als er den Pfropfen herauszog, dann das Rascheln des Papiers, als er es zu einem schlichten weißen Quadrat ausrollte. Er beugte sich dicht darüber und sog den Atem ein, dann schrieb er eine weitere Zahl in das ledergebundene Buch.

    Erst wollte ich mich nicht rühren, aber dann beugte auch ich mich nach vorn. Mein Vater schaute zu mir auf, lächelte und hielt mir das Stück Papier hin.

    »Da«, sagte er. »Atme ein, aber nicht zu stark. Lass den Geruch von selbst kommen.«

    Ich tat, was er gesagt hatte, weitete nicht die Brust, sondern atmete flach. Die Tentakeln eines Dufts kitzelten meine Nasenwände und drangen in die Locken meiner schwarzen Haare ein. Ich roch ein Lagerfeuer aus einem Holz, das ich nicht kannte, dann Erde, ausgetrockneter, als ich es mir vorstellen konnte, Nässe, die gleich aus den Wolken eines Himmels brechen würde, den ich nie gesehen hatte. Alles in allem roch es nach Warten.

    »Jetzt atme tiefer ein«, sagte mein Vater.

    Ich sog den Atem ein und fiel in den Geruch wie Alice in den Kaninchenbau.

    * * *

    Nachdem die Flasche wieder zugepfropft, versiegelt und in ihre Schublade zurückgelegt worden war, wandte ich mich an meinen Vater. Spuren des Dufts hingen noch in der Luft.

    »Erzähl mir seine Geschichte«, sagte ich. »Bitte.«

    »Also gut, meine Lerche«, sagte er. Er setzte sich in den großen Sessel, und ich kuschelte mich an ihn. Das Feuer knisterte im Holzofen, die Welt da draußen war ganz still.

    »Es war einmal, Emmeline …«, begann er, und seine Stimme schmolz dahin, als seien die Worte aus Schokolade.

    »Es war einmal, Emmeline, dass eine wunderschöne Königin in einem großen weißen Schloss gefangen gehalten wurde. Kein starker, mutiger Ritter konnte sie befreien. ›Bring mir einen Geruch, der die Mauern einreißen kann‹, verlangte sie von einem tapferen jungen Mann namens Jack …«

    Ich hörte zu, und die Gerüche sickerten in die Ritzen der Bodenbretter, in die Worte der Geschichte und in den Rest meines Lebens.

    Der Jäger der Gerüche

    Danach fragte ich jeden Tag: »Können wir bitte eine andere öffnen?«

    Manchmal gestattete er es, aber nicht so oft, wie ich wollte.

    »Die Flaschen schützen das Papier«, sagte er. »Wenn wir sie zu oft öffnen, verschwinden die Gerüche.«

    Das verstand ich nicht. Gerüche waren doch wie Regen oder Vögel. Manchmal verschwanden sie, aber dann kehrten sie zurück. Sie erzählten ihre eigenen Geschichten, ließen einen wissen, wann Ebbe war oder der Haferbrei auf dem Ofen kochte oder die Apfelbäume kurz vor der Blüte standen. Aber sie blieben nie lange.

    Allerdings verstand ich schon als kleines Kind, dass das Duftpapier anders war, irgendwie magisch. Jedes enthielt eine ganze Welt. Teile davon erkannte ich – den Duft einer Frucht etwa, aber diese Frucht war reifer und süßer als alle, die ich je probiert hatte. Oder den Geruch eines Tiers, das träger war als alle Tiere, die ich kannte. Viele Gerüche waren mir jedoch vollkommen fremd – scharf und schneidend, sanft und beunruhigend.

    Ich wollte in diese Welten eintauchen, wollte verstehen, woher diese Gerüche stammten. Noch mehr aber wollte ich Jack, der Jäger der Gerüche sein, der Held aus den Geschichten meines Vaters, der durch das Blätterdach tropfnasser Dschungelwälder fliegt und Berge erklimmt, um den Duft einer winzigen Blume einzufangen.

    »Wie hat er das geschafft?«, fragte ich meinen Vater. »Wie hat Jack die Düfte gefunden?«

    »Indem er der hier folgt«, sagte er und tippte mir auf die Nase.

    Ich überlegte. »Aber wie?«

    Mein Vater lächelte. »Du stehst ihr einfach nicht im Weg, nehme ich an.«

    Ich verstand nicht, was er meinte, aber von da an gab ich mir die größte Mühe, mich von meiner Nase leiten zu lassen. Ich hob sie an, wann immer ein Wetterumschwung in der Luft lag, dann roch ich an der Erde, um zu erfahren, wie sie auf ihn reagierte. Das Meersalz hing ständig in der Luft, aber beim Einatmen fiel mir auf, dass der Geruch intensiver wurde, wenn sich die Wellen brachen. Ich erschnupperte etwas Hellgrünes, das wie ein Wasserfall durch die Douglaskiefern rauschte, und verfolgte es zu der Brise zurück, die durch die Baumwipfel strich und die Nadeln erfasste, bis sie sich aneinanderrieben.

    Jeden Tag stand ich im Morgengrauen in meinem Dachbodenzimmer auf, wild entschlossen, so viele Gerüche zu finden, wie ich konnte.

    »Du bist mein Weckruf«, sagte mein Vater, als ich die Leiter hinunterkletterte. »Meine Morgenlerche.«

    * * *

    Den Tag verbrachten wir größtenteils im Freien. Wir hielten Hühner, der Eier wegen, pflegten die Obstbäume und den Gemüsegarten. Trotzdem bestand das meiste, was wir aßen, aus dem, was wir in den ungezähmten Regionen unserer Insel fanden. Ich kann mich nicht daran erinnern, einmal nicht dabei gewesen zu sein, wenn Essbares eingesammelt wurde, und als ich acht war, betrachtete ich mich als einen wichtigen – wenn nicht gleichberechtigten – Partner in unserem Überlebenskampf.

    »Verpflegungstag«, pflegte mein Vater zu sagen, und wir gingen in den Wald, Körbe aus Zedernrinde in den Händen. Im Sommer ernteten wir Heidelbeeren und Rebhuhnbeeren, deren dunkles Blau so aussah, als hielten wir ein Stück Nacht in den Händen. Im Herbst fanden wir Pilze, die sich unter Bäumen versteckten, und ich war von den gefurchten Morcheln fasziniert; jede für sich war ein einziges Labyrinth aus Vertiefungen und krummen Bahnen.

    »Erzählst du mir ihre Geschichte?«, fragte ich meinen Vater eines Tages. Ich strich mir die Locken aus dem Gesicht und sah ihn an. »Bitte.«

    Einen Moment lang schaute er auf mich herunter, überlegte und betrachtete die Morchel in meiner Hand.

    »Es war einmal, Emmeline«, begann er, »dass Jack sich in einem Zauberwald befand, in dem die Bäume bis zum Himmel reichten. Eine wunderschöne Zauberin lebte dort in einem Haus, das nur aus Gerüchen bestand, und als Jack sie erblickte, verliebte er sich in sie. Die Zauberin nahm ihn mit in ihr prachtvolles Haus, aber sobald er hineingegangen war, wurde ihm klar, dass er es nie wieder verlassen konnte.«

    »O nein!«, sagte ich und zitterte vor der drohenden Gefahr.

    »Soll ich weitermachen?«, fragte mein Vater.

    »Ja, bitte.«

    »›Ich lass dich nie wieder fort‹, sagte die Zauberin und führte ihn in ein Zimmer voller hypnotischer Gerüche, sodass er die Außenwelt vergaß. Wenn er sich daran zu erinnern begann, führte sie ihn in ein anderes Zimmer, jedes hypnotischer als das davor. Jahrelang bewegte sich Jack durch das Schloss, bis er ein Zimmer entdeckte, das er noch nie gesehen hatte. Als er hineinging, umgab ihn ein Geruch, der ihn an alles erinnerte, was er gern getan hätte und gewesen wäre. Dann sah er einen Schlüssel an einem blauen Band von einem Haken neben der Tür hängen.«

    Ich war voller Erwartung. Ich liebte magische Schlüssel.

    »Also«, sagte mein Vater, »nahm er den Schlüssel, öffnete die Tür und kehrte nie wieder zurück.«

    Ich wartete auf mehr, aber mein Vater legte die Morchel in meinen Korb zurück.

    »Das war doch nicht alles, Papa«, sagte ich. Ich war groß genug, um zu wissen, dass Geschichten komplizierter endeten als diese.

    »Doch, kleine Lerche«, sagte er und küsste mich auf den Kopf. »Lass uns weitersuchen. Diese Körbe füllen sich nicht von selbst.«

    * * *

    Der beste Ort, um Vorräte zu finden, war vielleicht unsere Lagune, ein Oval gefüllt mit Meerwasser, geschützt von den Felsen, die es umstanden, und gespeist von einem schmalen Kanal, der von Ebbe und Flut aufgewirbelt wurde. Dort konnte man den ganzen Tag über ernten. Am Ufer wuchsen wilde Zwiebeln, Queller und die grasähnlichen Strünke von Strandwegerich; unter den Steinen am Strand lebten winzige schwarze Krebse, nicht größer als mein Daumennagel. Die Felsen, die das Ufer säumten, waren voll mit Enten- und Miesmuscheln, und die verschiedensten Arten von Seetang waren zu finden. Meine Lieblingssorte war der Blasentang mit den kleinen Kugeln, die im Mund aufplatzten und einen salzigen Geschmack hinterließen.

    Das Beste aber war die Muscheljagd.

    »Da!«, sagte mein Vater und zeigte auf eine kleine Wasserfontäne, die wie ein Feuerwerk aus dem Strand spritzte. Ich rannte hin und hoffte, schnell genug zu sein, um die Fontäne einzufangen und zu spüren, wie sie durch meine ausgestreckten Finger rieselte. Aber obwohl ich klein und schnell war, fand ich, wenn ich dort ankam, nur noch den salzigen Geruch und eine kleine Delle im Sand vor. Dann steckte ich einen kleinen Stock in den Sand, um die Stelle zu markieren.

    »Da ist noch eine!«, schrie ich und rannte den Strand in die andere Richtung entlang.

    »Gut gemacht«, sagte mein Vater und folgte meinen Stöcken mit einer kleinen Schaufel in der Hand. Nach einer Stunde Rennen und Graben war unser Korb voll.

    Normalerweise mussten wir die Muscheln trocknen und für den Winter aufbewahren, wenn uns die Dunkelheit wie eine schwere Decke umhüllte. Ich mochte den Winter nicht; der Regen brachte eine ganz eigene Stimmung mit sich, und das Essen auf unseren Tellern wurde immer farbloser, bis wir nur noch Getrocknetes übrig hatten – Äpfel, Muscheln, knisternden Seetang. Auch mein Vater wurde farbloser, und seine Geschichten versiegten fast vollständig.

    »Müssen wir die Muscheln trocknen?«, fragte ich, und an jenem Tag setzte mein Vater sein Sommerlächeln auf und stimmte einem Picknick zu. Wir machten Feuer und kochten die Muscheln, gewürzt mit wilden Zwiebeln und Queller. Dann aßen wir sie aus Schüsseln, die aus Abaloneschalen bestanden. Als Löffel verwendeten wir Muschelschalen. Zum Nachtisch gab es ein paar Beeren. Danach saßen wir auf dem Sand, während der Himmel immer hellere Blautöne annahm, und mein Vater schaute zu, wie das Wasser durch den schmalen Kanal gurgelte.

    Dieser Kanal machte mich immer nervös. Viermal am Tag wechselten Ebbe und Flut, und das Wasser rauschte durch die gewundene Felsenöffnung in unsere Lagune herein oder hinaus. Es hatte etwas Wütendes, Gefährliches und war bereit, alles zu verschlingen, was ihm vors Maul kam.

    Mein Vater sah, dass ich vermied, auf die Felsenöffnung zu schauen, und hob seinen Muschellöffel, um einen Trinkspruch auszubringen.

    »Auf den Kanal, der uns Sicherheit gewährt«, sagte er.

    Das stimmte wirklich. Außer an der Lagune fiel unsere Insel überall steil ins Meer ab. Fichten klammerten sich an die Felsen; ihre untersten Zweige lagen schnurgerade parallel zum Meeresspiegel und markierten die Höhe, die er bei Flut erreichte. Die einzige Möglichkeit, auf die Insel zu gelangen, war eine Durchquerung des Kanals. Ich kannte Bilder von gewaltigen Schlössern und Türmen, die alles andere in der Umgebung überragten. Unsere Insel war so ein Schloss, der wütende Kanal unsere Zugbrücke.

    »Er macht mir Angst«, sagte ich.

    »Aber er hält Piraten und Bären fern«, wandte mein Vater ein.

    In meinen Büchern gab es Bilder von beiden, und ich hatte nicht den Wunsch, einem von ihnen zu begegnen.

    »Auf den Kanal«, sagte ich und hob meinen Muschellöffel.

    * * *

    Manchmal fanden wir den Strand der Lagune mit Seetang übersät vor, hinauf bis zur höchsten Stelle, die der Wasserstand bei Flut erreichte.

    »Hier haben Meerjungfrauen gefeiert«, erklärte mein Vater, und das ergab Sinn. Der Strand war so überbordend dekoriert, dass nur die fantastischsten Kreaturen das getan haben konnten.

    »Lass uns nachsehen, ob sie uns etwas hinterlassen haben«, sagte er. Wir schauten hinter den Steinen und Felsbrocken nach, durchsuchten die Heidelbeerbüsche gleich hinter dem Strand. Und natürlich fanden wir Schätze. Schwarze Plastikkisten mit schweren Schlössern, die fester verschlossen werden konnten als die Duftflaschen. Darin befanden sich die wunderbarsten Geschenke – Reis und Mehl, Schokolade und Kaffee. Manchmal sogar Bücher, Schuhe oder Bekleidungsstücke.

    Eines Tages, als ich ungefähr neun war, entdeckten wir einen ganz besonderen Schatz – zwei schwarze Kisten. In der einen lagen ein Paar Stiefel und eine blaue Regenjacke, beides genau in meiner Größe.

    »Woher wissen die Meerjungfrauen eigentlich, was uns gefällt?«, fragte ich meinen Vater.

    »Sie besitzen Zauberkräfte«, sagte er, und auch das ergab Sinn, denn nur mit Zauberkräften konnte man den Weg durch unseren Kanal finden.

    Triumphierend trugen wir die Kisten zu unserer Hütte. Jack mochte kleine Blumen suchen, aber wir hatten das große Los gezogen. An diesem Abend gönnten wir uns ein Festmahl, ohne zu übertreiben; das meiste, was wir geerntet hatten, verstauten wir in der Speisekammer. Wir wussten, dass das Meer launisch war und unergründliche Rätsel barg. Es konnte einem genauso viel nehmen wie geben. Der Hauch vom Pfeifentabak eines Ausreißers erinnerte uns beständig daran.

    Nach dem Essen lasen mein Vater und ich uns gegenseitig aus Büchern vor, wie immer. Mein Vater liebte die naturwissenschaftlichen Bücher und unterrichtete mich in Wetter- oder Sternenkunde oder brachte mir die Namen der Bäume in unserer Umgebung bei. Stundenlang schauten wir uns Zeichnungen von eigentümlichen Meerestieren, Blumen und Tieren an, die aus einer anderen Welt zu stammen schienen.

    »Was ist das da?«, fragte ich und zeigte auf das Bild eines braunen Tiers mit dünnen Beinen und kleinem Bart am länglichen Maul.

    »Eine Ziege«, sagte mein Vater.

    »Sind Ziegen echte Tiere?«

    Er nickte.

    »Könnten die Meerjungfrauen mir eine bringen?« Die Ziege sah gewitzt und clever aus, vielleicht war sie sogar lustig. Eine Ziege könnte ein guter Freund sein, dachte ich.

    Mein Vater überlegte einen Moment und sagte dann: »Man kann nie wissen, was Meerjungfrauen so vorhaben.«

    »Können wir sie darum bitten?« Wir brachten die leeren Kisten immer zum Strand zurück. Sei nett zu ihnen, pflegte mein Vater zu sagen, und wir schrieben ihnen Dankesbriefe und legten sie in die Kisten.

    »Du kannst es ja versuchen«, sagte er und zuckte mit den Schultern. »Man kann nie wissen.« Damit schien das Thema beendet zu sein. So war es oft bei meinem Vater. Stundenlang konnte er darüber sprechen, was alles in einem Baum vor sich ging oder wie das Wetter funktionierte, und manchmal hörte er einfach auf zu sprechen.

    »Wie wäre es mit einer Geschichte?«, fragte ich und nutzte sein Schweigen, um das naturwissenschaftliche Buch gegen ein großes, dickes Märchenbuch zu tauschen, das ich aus dem Regal zog. Der Titel war in goldenen Buchstaben gedruckt, und darunter war das Bild einer Prinzessin und eines verschrumpelten kleinen Männchens, das mich faszinierte. Zwischen den Buchdeckeln standen fantastisch komplexe Geschichten von Mädchen, die in einen ewigen Schlaf gefallen waren, und Häusern, die aus Süßigkeiten und Lügen bestanden.

    Mein Vater hatte mir gesagt, dass in Märchen viele Dinge nicht real waren, aber mein Problem war, dass ich nicht wusste, um welche es sich dabei handelte. Ich wusste natürlich, dass es die Wälder wirklich gab, aber da ich mit meinem Vater ganz allein auf unserer Insel lebte, waren zwei Kinder, die sich bei den Händen hielten, nicht weniger außergewöhnlich als jemand, der Stroh zu Gold spinnen konnte. Ich fragte mich, wie es sich wohl anfühlte, eine Hand zu halten, die genauso klein war wie meine, und jemanden zu kennen, der – genau wie ich – mehr Fragen als Antworten hatte. Damals habe ich mir viele Fragen gestellt.

    »Warum habe ich keine Mutter?«, fragte ich meinen Vater, als ich auf das Bild einer Frau mit langen blonden Haaren schaute, die ein Kind auf dem Schoß hatte.

    »Weil du mich hast«, sagte er, schlug die Seite um, und ich sah eine böse Frau mit bleicher Haut und dunklen Haaren, die in einen Spiegel starrte. Mein Vater hatte meine Frage nicht wirklich beantwortet, bot mir aber einen – wie ich fand, akzeptablen – Ersatz an, denn in Märchen mit Müttern kamen immer auch Hexen vor.

    Ich blätterte durch die Seiten, und der Luftzug, der beim Blättern entstand, verwehte die Frauen. Ungefähr in der Mitte des Buchs fehlte ein Stück, als wäre dort etwas herausgefallen wie ein Zahn. Jedes Mal zog mich diese Stelle magisch an, denn ich konnte die Lücke fühlen, wenn ich mit dem Finger über den geriffelten Buchrücken strich.

    »Stand hier auch mal eine Geschichte?«, fragte ich meinen Vater.

    »Es war keine gute«, sagte er.

    Ich sah zu ihm auf, eine Frage in den Augen, aber er küsste mich nur auf die Stirn.

    »Für heute Abend ist es genug, Emmeline. Um diese Zeit gehen Lerchen zu Bett.«

    Ich kletterte in mein Dachbodenzimmer, und als ich zwischen den Laken lag, dachte ich über Meerjungfrauen, Ziegen und Mütter, fehlende Seiten und Hexen nach. Über Väter, die einem nicht alles erklärten, was man wissen wollte. Aber es war ein langer Tag gewesen, die Kisten schwer, und die Liebe meines Vaters war beständig und beherrschte das Zimmer unter mir, also fragte ich nicht weiter. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich es getan hätte.

    Der Apparat

    Noch mysteriöser als Meerjungfrauen oder Ziegen war der Apparat meines Vaters. Einmal pro Jahreszeit benutzte er ihn, um ein neues Duftpapier herzustellen. In den langen Monaten dazwischen wartete ich auf das nächste Mal und wurde immer aufgeregter. Endlich öffnete mein Vater dann irgendwann die Speisekammer, holte den Apparat vom obersten Regal und wickelte ihn aus dem weichen grauen Tuch, das ihn schützte. Unter dem Tuch befand sich eine glatte silberne Schachtel, so groß wie ein halbes Brot, mit einem aufklappbaren Deckel, und darin lag eine Platte mit unzähligen Löchern.

    Mein Vater hob den Apparat an, hielt ihn in Richtung des Holzofens und drückte auf den schwarzen Knopf an seiner Seite. Ich hörte dann, wie die Luft durch die Löcher zog, und es klang, als atmete der Apparat. Danach klickte es mehrfach. Und zum Schluss rauschte und surrte ein Papierquadrat aus einem Schlitz an der Unterseite des Apparats.

    »Lass mich riechen«, sagte ich und rannte zu dem Blatt Papier, bevor es in einer Flasche landete. Jedes Mal hoffte ich auf ein Wunder – eine neue Welt, einen vollkommen neuartigen Duft, wie an den Blättern in den oberen Reihen. Ich atmete ein, so begierig, als entfaltete sich die Knospe einer unbekannten Blume oder der rätselhafte Duft eines neuen Gewürzes. Vielleicht wäre es dieses Mal ja ein so überraschender Duft, dass ich ihn nur als eine Farbe oder ein Gefühl erfassen könnte. Ein wisperndes Blau. Ein tanzendes Orange. Wut. Freude.

    Aber jedes Mal wurde ich enttäuscht. Das neue Papier roch nach gar nichts.

    »Warum duftet es nicht?«, fragte ich meinen Vater.

    Er sah mich überrascht an. »Aber das tut es doch!« war alles, was er sagte, während er mehrere Zahlen auf die Rückseite des Papiers schrieb. Dann rollte er es auf und steckte es in eine Flasche, versiegelte sie mit grünem Wachs und legte sie in eine Schublade der unteren Reihen.

    Es war keine befriedigende Antwort, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass mein Vater Duftpapier herstellte, das nicht duftete. Wie aber verwandelte sich dieses nichtduftende Stück Papier in eine so fantastische Kreation wie die anderen? Ich spürte, wie die mit rotem Wachs versiegelten in den oberen Reihen warteten, glitzernd und unerreichbar. Verbreiteten sie ihre Magie in die anderen Reihen und veränderten die Papiere in den Flaschen dort durch ihre bloße Nähe? Das kam mir nicht sehr wahrscheinlich vor. Vielleicht waren die neuen Papierstückchen wie Raupen, deren matschige Körper in einem Kokon verschwanden, um dann als etwas ganz anderes herauszukommen. Vielleicht war es aber auch nur die Zeit, die die Papierstückchen veränderte, wenn sie nur lange genug warteten, wie eine Blume, die nur im Dunkeln blüht. Alles war möglich.

    * * *

    Ich war zehn, als ich beschloss, mein eigenes Duftpapier herzustellen, eins, das ich behalten und beobachten konnte. Aber mein Vater schonte seinen Apparat. Ein Papier pro Jahreszeit, pflegte er zu sagen und hielt sich an seinen Zeitplan. Manchmal schaute ich abends jedoch vom Dachboden hinab und sah ihn über den Tisch gebeugt die Maschine reinigen und mit ihren kleinen, glänzenden Teilen herumhantieren. Jemand anderem wäre sein Verhalten vielleicht obsessiv erschienen, aber wenn man auf einer Insel wohnt, auf der man sich sein Essen und sein Wasser selbst besorgen muss, einer Insel, wo das Wetter dein Freund oder Feind sein kann und sich täglich ändert, ist es sehr sinnvoll, seine Sachen zu schonen und in gutem Zustand zu halten.

    Also stellte ich den Umgang meines Vaters mit seinem Apparat niemals infrage; ich wartete nur mit wachsender Ungeduld auf die beste Gelegenheit, meine Bitte vorzutragen. Der Herbst ging langsam in den Winter über. Ich konnte die kommende Kälte schon in der Luft spüren. Ich spürte auch, dass sich mein Vater in sich zurückzog, wie ein Eichhörnchen, das sich in sein Nest verkriecht. Und dann schaute ich eines Morgens in eine Welt, die der Frost gestaltet hatte.

    »Heute?«, fragte ich meinen Vater, und er verstand, was ich meinte. Es war ja auch nicht schwer zu begreifen: Meine Ungeduld war durch fünf Tage Regen hindurch gewachsen, der das Licht aus den Bäumen gespült und uns eingesperrt hatte. An diesem Tag war der Himmel aber klar, der Frost schrieb seine Nachricht dem gefallenen Laub in die Blattadern und in die steifen Grashalme. Die Nachricht lautete: Es ist Zeit.

    Mein Vater holte den Apparat aus der Speisekammer.

    »Bitte«, sagte ich. »Machst du dieses Mal eins für mich?«

    »Es ist doch kein Spielzeug, kleine Lerche«, sagte er.

    »Es könnte mein Geburtstagsgeschenk sein.«

    »Du hast doch noch längst nicht Geburtstag.« Aber ich konnte beinahe ein Lächeln in seiner Stimme hören. Ich wusste, dass ich ganz nah dran war.

    »Wir könnten ja

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