Die Zuckerdose: Phantastische Erzählungen
Von Reinhard Ost
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Über dieses E-Book
2. Luise, das Angler Sattelschwein, ist die Philosophin des "Schweinesystems".
3. Durch einen Hypertext wird Herbert Grone "Gott".
4. Eine Biologin macht mit Hilfe von Flugsalbe eine Zeitreise in die Vergangenheit.
5. Eine Bestseller-Autorin wird zum Opfer der Werbekampagne für ihren Roman.
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Buchvorschau
Die Zuckerdose - Reinhard Ost
Reinhard Ost
Die Zuckerdose
Phantastische Erzählungen
Impressum
Copyright: @ 2015 Reinhard Ost
Published by: epubli GmbH, Berlin www.epubli.com
ISBN 978-3-7375-5234-9
Inhalt
Impressum
Die Zuckerdose
100 Kilo Schweinefett
Der Hyperlink
Flugsalbe
Der Bestseller
Über den Autor
Die Zuckerdose
Meine Frau Susanne hat eine originelle Zuckerdose mitgebracht. Ihre Großmutter hat ihr das gute Stück überlassen, also eine vorzeitige Erbschaft gewissermaßen, ein Vorlass, wenn man das so bezeichnen möchte. „Die Dose sieht alt aus, eigentlich gar nicht wie eine Zuckerdose, sage ich, als sie damit stolz in unsere Küche tritt. „Sie sieht eher wie eine Blumenvase aus, der man einen originellen Deckel verpasst hat
, füge ich hinzu. Also jedenfalls ist sie durch einen sehr merkwürdigen Deckel verschlossen. Der Deckel sieht eigentlich auch nicht wie ein richtiger Deckel aus, sondern eher wie ein kleines kugelförmiges Gewölbe, das sich über den Rand der Blumenvasendose stülpt oder wie eine Art von Pudelmütze, die geringelt ist und oben sich zur Seite neigt, ohne Bommel allerdings, aber dafür mit einer kleinen Öffnung, die aber nicht tief hinein geht. Wenn man den Finger hineinsteckt, kann man das leicht ertasten. Es ist natürlich auch keine Dose im modernen Sinne, kein in der Fabrik geschweißter Blechbehälter für Getränke oder etwas Ähnliches. Eine Schmuckdose und eine Tabaktiere oder gar eine Spieldose ist es auch nicht. Ein Behälter, den man gut herumtragen kann, sieht ebenfalls anders aus. Einen Henkel gibt es nicht.
„Großmutter hat wohl über viele Jahre hinweg Zucker darin aufbewahrt, sagt meine Frau, „und danach auch irgendwelche anderen Dinge. Was aber nun darin enthalten ist, weiß sie nicht mehr genau, weil sie das Ding nicht mehr aufkriegt. Auch ihre Erinnerungen sind wie eingeschweißt. Ursprünglich wäre es aber eine Zuckerdose gewesen, sagt Eli. Nun könne sie die Dose aber nicht mehr gebrauchen, denn sie würde inzwischen schon viele solche Gefäße besitzen, in denen man seine Vergangenheit aufbewahren kann.
Elisabeth, meine angeheiratete Großmutter, ist inzwischen 84 Jahre alt. Sie hat schon seit über zwei Jahrzehnten Diabetes, deshalb verwendet sie nur noch Süßstoffpillen aus den viereckigen Plastikschächtelchen. Durch die Apparatur des Spenders zum Portionieren kann man jede einzelne Süßstofftablette, Stück für Stück, sauber abzählen und den Tee nach dem Tagesgeschmack süßen, allerdings eben normiert durch die genaue Menge des Süßstoffs, der in jeder einzelnen Tablette enthalten ist. Mit gewöhnlichem, weißem oder braunem Industriezucker geht das nicht. Es wird niemandem gelingen, die einzelnen klitzekleinen Zuckerkristalle abzuzählen.
Wie nun sieht die Zuckerdose farblich aus? Wie groß ist sie? Aus welchem Material besteht sie?
Sie ist zirka 30 Zentimeter groß und aus ockergelbem Ton gefertigt. Sie hat ein Blumendekor mit dunkelroten Blüten auf der Vorderseite. Jedenfalls waren sie mal dunkelrot. Jetzt sind sie verblasst. Sie ist geschwungen wie eine bauchige Vase und hat einen eleganten Fuß, der wie aus Tonwürsten gefertigt aussieht. Leider sieht alles ein wenig schmuddelig aus, weil schon der Staub von Jahrzehnten in den Ton und in das Blumendekor eingezogen zu sein scheint. Man kann nicht erkennen, was es ursprünglich mal für eine Blumensorte gewesen ist, die man auf die Oberfläche des Gefäßes, wie ein nachträglich angemaltes Stück Stuck, aufbrachte. Es ist ein Sonntag im Hochsommer. Die Zuckerdosenvase steht auf unserem Esstisch genau in der Mitte. Und nun passiert etwas nicht so Ungewöhnliches. Mir gelingt es auch nach vielen Versuchen nicht, die Dose zu öffnen. Der kugelförmige Verschlussdeckel ist verrottet und wie mit Sekundenkleber festgeklebt. Nicht einmal der kleinste Spalt ist zu erkennen, in den man vielleicht ein Messer stecken könnte, um eventuell durch die Hebelwirkung die Dose auf zu bekommen. Es gibt auch keinen Trick, wie man das Ding öffnen kann. Ich drehe die rundliche Dosenvase nach allen Seiten und in alle Richtungen. Ich schüttle sie. „Irgendetwas ist da drin. Zucker ist es jedenfalls nicht, sagt Susanne. „Es ist schon etwas sehr Altes, denn wenn Eli die Dose schon lange Zeit nicht mehr geöffnet hat, dann kann nichts Neues darin enthalten sein. Wenn sie Diabetes hat, wird sie niemals Zucker darin aufbewahren. Was soll man denn eigentlich überhaupt mit einer Dose, die man nicht aufbekommt?
, sage und frage ich. „Es wird vielen alten Leute so gehen, wenn sie dir etwas vererben. Sie wissen kaum noch richtig, was drin steckt, antwortet Susanne. In der Folgezeit entwickelt sich bei meiner Frau und mir ein fast schmerzliches Gefühl wegen der Unmöglichkeit in die Dose hineinschauen zu können. Schon lassen wir von der Zuckerdose ab, so wie Oma Elisabeth es getan hat. „Lass uns morgen noch einmal in Ruhe überlegen, wie wir das Ding aufkriegen. Eine Bombe mit Zeitzünder wird es ja nicht sein, schließlich lebt Eli ja noch
, sagt Susanne schließlich. Mit einem etwas mulmigen Gefühl stimme ich zu und lasse die Dose in Ruhe.
Es ist Montag. Wir beide müssen an diesem Tag nicht, wie sonst, früh aufstehen, weil wir heute nicht zur Arbeit gehen. Es ist unser erster Urlaubstag, und morgen wollen wir für zwei Wochen ins Land unserer Träume, nach Vietnam, fliegen. Die Koffer sind schon fertig gepackt und stehen im Flur. Alles ist, wie immer eigentlich bei uns, recht gut vorausgeplant. Ich habe in der letzten Nacht sehr schlecht geschlafen, nicht etwa wegen unserer bevorstehenden Reise nach Vietnam oder gar wegen der Amerikaner und Franzosen, die dort so viel Elend und Zerstörung hinterlassen haben, sondern wegen unserer neuen Zuckerdose. Am gestrigen Abend während des Einschlafens habe ich intensiv gegrübelt, was die Dose enthalten könnte. Die ganze Biografie von Oma Elisabeth, soweit ich sie kenne, ist mir durch den Kopf gegangen. Sind es vielleicht Hitlerbilder oder andere Hochglanzfotos der Nazis, wie etwa die Propagandafotos über den „Raubstaat England", mit auf Räder gespannten und gefolterten Indern zum Beispiel, die damals in Millionenauflage unter den Deutschen Bürgern verteilt wurden. Eli steht nicht den Nazis nahe. Einige solcher Bilder hatte ich aber bei Elisabeth schon einmal gesehen. Beim Schütteln der Dose kann man erahnen, dass es Papier- oder Papp-Stückchen sein könnten, die die Dose verbirgt. Selbst Gedanken über die Büchse der Pandora schossen mir noch am späten Abend durch den Kopf. Epimetheus, der Bruder von Prometheus, hatte Pandora geheiratet. Und Zeus wies Pandora an, den Menschen eine Büchse zu schenken. Er hatte ihnen durch Pandora mitteilen lassen, dass sie unter keinen Umständen geöffnet werden dürfe. Doch sogleich nach ihrer Heirat öffnete Pandora selbst die Büchse. Daraufhin entwichen aus ihr alle Laster und Untugenden. Als einzig Positives enthielt die Büchse aber zum Glück auch die Hoffnung. Bevor diese aber entweichen konnte, wurde die Büchse zuvor wieder geschlossen. So wurde die Welt der trostlose Ort, der sie war und ist, bis Pandora die Büchse erneut öffnete und so die Hoffnung in die Welt kam. Nietzsche allerdings war ganz anderer Auffassung, wäre doch seiner Meinung nach die Hoffnung in Wahrheit das größte Übel von allen und der Fluch aller in der Büchse befindlichen Dinge gewesen, weil Zeus nämlich wollte, dass der Mensch fortfahre, sich immer von neuem durch Qualen quälen zu lassen. Diese Qualen der Menschen seien also unendlich, wie das Stiften von Unheil, welches sich nicht wiedergutmachen lässt. Aus meinem Grübeln ist schließlich am frühen Morgen ein echter Albtraum geworden, an den ich mich aber zum Glück nicht mehr genau erinnern kann. Ich weiß nur noch, dass der Albtraum etwas mit dem Öffnen von Dosen und dem Entweichen von Übeln zu tun hatte. Susanne hat, wie sie mir sagt, einen ganz ähnlichen Traum gehabt, der aber sei gar nicht gruselig gewesen. Wir beide haben sozusagen parallel geträumt.
Als wir an unserem runden Frühstückstisch sitzen, steht nun wieder diese neue Zuckerdose genau in der Mitte vor uns. Sofort ist wieder dieses mulmige Gefühl bei mir vorhanden. Ist es überhaupt eine Zuckerdose? Nein es ist keine Zuckerdose, denn nur weil ein Gefäß einen Deckel hat, muss es noch lange keine Dose sein. Man könnte davon ausgehen, dass Oma Eli sie nur als eine solche ansah, weil sie vielleicht irgendwann einmal Zucker hinein füllte, es dann aber wieder verdrängte. Vielleicht ist das Gefäß noch niemals geöffnet worden, und Elisabeth kann sich deshalb daran nicht mehr richtig erinnern. Möglicherweise kann sie sich gar nicht vernünftig an ihre Erinnerungen erinnern.
Beim nochmaligen Schütten der Dose fällt mir wieder auf, dass der Deckel gar kein Deckel sein kann, weil ich keine Möglichkeit entdecke, wie man ihn abkriegt. „Das Tongefäß muss wahrscheinlich schon verschlossen hergestellt worden sein, so dass man also gar keine Erinnerungsstücke hineinpacken kann, erzähle ich. Susanne nickt und sagt: „Es ist eine sehr alte Vase, eine griechische Antiquität vielleicht, die Eli nur irgendwo aufgegabelt hat.
Mir schießt wieder diese Pandora durch den Kopf. Nirgends ist ein Hinweis zu finden, kein Zeichen, kein Aufdruck oder so etwas, was auf das Alter oder den Hersteller schließen ließe.
Meine Frau hält die Zuckerdose inzwischen für Aladins Wunderlampe. Nur dass wir leider den Zauberspruch für das Öffnen nicht kennen. Ich reibe tatsächlich an der Lampe und sage: „Sesam öffne dich. Nichts geschieht. Die Dose beginnt sich in unseren Gedanken ständig zu verformen und zu verändern. Nicht in Wirklichkeit, aber zwischen Lampe, Vase und Dose geht es immer hin und her. Immer mysteriöser wird die Angelegenheit. „Wir könnten sie einfach auf den Boden werfen und zerschlagen
, sage ich. „Das werden wir nicht tun, antwortet Susanne, „denn wenn es unserer Oma gelang, das Ding über eine so lange Zeit aufzubewahren, dann werden wir es nicht gleich am ersten Tag kaputt machen.
Ich überlege mir, ob man vielleicht tatsächlich Gegenstände fabriziert, in die man etwas hinein töpfert, weil man es gar nicht herausbekommen soll. Was sollte das für einen Sinn machen, wenn man ein Gefäß zerstören muss, nur um an den Inhalt heran zu kommen? Bei Sparschweinen ist das allerdings so, fällt mir ein. Nur wenn ein guter oder böser Dschinn entsteigen würde, den man nicht wieder einsperren soll, würde es einen gewissen Sinn machen. Wir beschließen, die „Wunderlampe" in Ruhe stehen zu lassen und zu Ende zu frühstücken.
Unsere Phantasien allerdings gehen weiter. „Ist eventuell das Original der Unabhängigkeitserklärung der USA darin verborgen? Das wäre doch toll und ausgesprochen wertvoll, kommt mir in den Sinn. „Vielleicht ist es auch die Kapitulationsurkunde, die die Deutschen und die Siegermächte nach dem Zweiten Weltkrieg unterzeichnet haben
, antwortet Susanne. „Vielleicht sind es aber auch wirklich nur alte Postkarten, wie sie Eli über viele Jahre gesammelt hat, so meine Frau. „Ich werde sie vorsichthalber mal fragen, ob sie noch alle ihre Urkunden beisammen hat, zum Beispiel ihre eigene Geburtsurkunde, ihre Heiratsurkunde oder auch die Geburtsurkunde von mir.
Sie ruft wieder unsere Großmutter an. Elisabeth ist inzwischen völlig verwirrt, als Susanne nach den Urkunden fragt. Sie sagt, dass sie überhaupt nichts mehr wisse, wenn sie so direkt angesprochen werde. Sie wisse lediglich noch, dass die Dose immer irgendwo in der Gegend herumstand und sie sie regelmäßig abgestaubt habe.
Ich denke nicht mehr, wie so häufig in den letzten Tagen, an unseren Vietnam-Urlaub, sondern nur noch an das merkwürdige Gefäß. Unvorstellbar, dass wir fröhlich in den Urlaub fahren und das Ding hier in unserer Wohnung herumsteht, grüble ich. Mein Urlaub scheint inzwischen so in meinem Kopf verdrängt zu sein, dass er gewissermaßen schon auf dem Spiel zu stehen scheint. Kann man denn überhaupt fröhlich in Urlaub fahren, wenn man ein solches Problem hat?
Es klingelt. Unsere Kinder Anne und Helge, 23 und 26 Jahre alt, stehen vor der Tür und wollen sich, wegen unserer Urlaubsreise, verabschieden. Mein Sohn Helge arbeitet in einer kleinen Firma für Edelhölzer und Furniere. Meine Schwiegertochter Anne ist Sozialarbeiterin und kümmert sich im Berliner Stadtteil Moabit um verhaltensauffällige Jugendliche. Beide haben sich für zwei Stunden auf ihren Arbeitsstellen frei genommen, und so stehen sie nun bei uns