Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Alexanders Wunderwelt: Eine Märchenreportage
Alexanders Wunderwelt: Eine Märchenreportage
Alexanders Wunderwelt: Eine Märchenreportage
eBook254 Seiten3 Stunden

Alexanders Wunderwelt: Eine Märchenreportage

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Reinhard Ost legt mit seinem Roman "Alexanders Wunderwelt" eine besondere Form der Märchenreportage vor.
Im Fortgang der Lebensgeschichte von Alexander Kappel werden 61 alte und neue Märchen erzählt.
Was Märchen sind, was sie sein sollen, was sie bedeuten, wie sie uns bezaubern und wie sie uns nützen können, sind Teil von Alexanders eigener Wunderwelt und sein Lebens- und Sprachstil geworden.
Er ist Ganymed, Rübezahl, Hänsel, Gretel oder auch Cornelia Funke, je nachdem, wie er sich gerade fühlt und mit wem er sich gerade einlässt. Immer ist er derjenige, den er sich ausmalt, den er als Schriftsteller bearbeitet, den er verwandelt.
Warum haben Kinder so viel mehr Phantasie als Erwachsene? Haben Kinder mehr Phantasie als Erwachsene? Wolf, der kleine Sohn seiner Lebenspartnerin Erika, ist ihm behilflich dabei, die richtigen Fragen zu stellen und gelegentlich auch zu beantworten.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum18. Okt. 2015
ISBN9783737567190
Alexanders Wunderwelt: Eine Märchenreportage

Mehr von Reinhard Ost lesen

Ähnlich wie Alexanders Wunderwelt

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Alexanders Wunderwelt

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Alexanders Wunderwelt - Reinhard Ost

    Alexanders Wunderwelt

    Eine Märchenreportage

    Roman

    Impressum

    Copyright: @ 2015 Reinhard Ost

    Published by: epubli GmbH, Berlin www.epubli.com

    ISBN 978-3-7375-6719-0

    für Carlotta, Michel und Mathilda

    Inhalt

    Geburt und Kindheit

    Jugendzeit

    Arbeitswelt

    Glauben

    Wissenschaft

    Altern

    Ich und Ich

    Index der Märchen, Erzählungen und Geschichten

    Über den Autor

    Geburt und Kindheit

    Das hat man nun davon, wenn man sich mit Literatur, Musik oder Malerei einlässt. Man ist nicht mehr Herr seiner selbst. Wahrnehmungen, Gedanken, Ideen und Phantasien machen sich selbstständig und fortwährend an dem fest, was es bereits schon in ästhetisch ansprechender Form gibt. Das Leben scheint wie verdoppelt und bildhaft vorgezeichnet zu sein.

    Der Schriftsteller Alexander Kappel macht sich auf den morgendlichen Weg zu seinem Schreibtisch. Es ist die Strecke  von der Küche über den langen Flur bis ins Arbeitszimmer, wo seine vielen Bücherregale stehen. Das Arbeitszimmer ist verqualmt, wie immer eigentlich. Fenster zu öffnen und zu lüften nutzt nicht mehr viel, weil der süßliche Geruchsgeschmack schon in alle Bücher und Manuskripte eingezogen ist. Selbst die leichte Gardine flattert nicht mehr im Wind. Er kann einfach nicht auf das Rauchen verzichten. Das würde seine Konzentrationsfähigkeit vermindern, sagt er. Hoffnung allerdings besteht. Immerhin hat der Maler Emil Nolde am Ende seines Lebens gesagt, er habe es über 2000 Mal geschafft, „endlich" mit dem Rauchen aufzuhören.

    Alexander ist immer wie derjenige, den er sich gerade ausmalt, den er bearbeitet, den er verwandelt. Er ist sozusagen alle in einer Person. Im Augenblick ist er Emil Nolde aus Schleswig-Holstein, der im Jahr 1867 geboren und im Jahr 1956  verstorben ist, einer der führenden Maler und Aquarellisten des deutschen Expressionismus. Wie man allerdings einen Roman als Aquarell schreiben könnte, weiß er noch nicht genau. So etwas Kompliziertes ergibt sich für ihn immer erst ganz von allein, wenn er es ausprobiert und herumexperimentiert. Gestern war er der Philosoph Arthur Schopenhauer, vorgestern Cornelia Funke, und heute ist er eben Emil Nolde. So geht das fortwährend, Tag für Tag, rückwärtsgewandt, in die Vergangenheit zurück, weil er natürlich auch diejenigen Künstler ausprobiert, die schon lange verstorben sind. Alles was geschrieben und komponiert wird, ist für ihn Vor- und Nachzeichnung. Sein Ich ist vielfältig und buntfarbig, eben nicht nur an eine einzelne Person gebunden oder gar nur an ihn selbst. Oft fragt er sich, ob er möglicherweise zu häufig den Sender Arte im Deutschen Fernsehen einschaltet, die Folgen von „1000 Meisterwerke" zum Beispiel. Und immer sucht er dann die Meisterschaft auch bei sich selbst. Er scheitert natürlich unaufhörlich. Das produktive Scheitern ist gewissermaßen schon sein Lebensmotto geworden. Darin fühlt er sich inzwischen wohl, wie in einer warmen Badewanne, in der das Wasser über den Rand läuft, weil unterhalb der Wannenkante kein vernünftiges Überlaufventil existiert.

    Er wohnt schon eine ganze Weile mit Erika Schmitz zusammen. Erika hat ihren kleinen Sohn Wolf mit in die Beziehungsgemeinschaft gebracht. Und dieser Wolf ist inzwischen sein „Ein und Alles" geworden. Mit ihm versteht er sich fabelhaft. Vor allem versteht Wolf umgekehrt auch ihn sehr gut. Wolfs Aufmerksamkeit und seine Phantasie sind einzigartig. Sieben Jahre alt ist er. Alles, was Alexander ihm erzählt, kann der Junge in eine neue Wundergeschichte verwandeln und allem eine besondere Wendung geben. Das hilft ihm bei seiner Schriftstellerarbeit in hohem Maße. Manchmal schreibt er sich Wolfs Erzählungen wortwörtlich auf und versucht sie hinterher literarisch zu verarbeiten, ein Roman als direkte Nacherzählung gewissermaßen. Wolf ist sein Medium, nicht ein andere oder gar x-beliebige Person, sondern im Grunde auch er selbst.

    Haben Kinder mehr Phantasie als Erwachsene? Warum haben Kinder so viel mehr Phantasie als Erwachsene? Sie haben doch viel weniger erlebt, fragt er sich. Sie besitzen doch wesentlich weniger Anhaltspunkte, an denen ihre Gedanken- und Gefühlswelt anknüpfen kann. Alexander ist zum Resultat gekommen, dass Kinder sich im Regelfall sehr viel mehr zutrauen als Erwachsene, weil sie noch nicht so stark domestiziert sind und noch jenen Mut besitzen, den ein erwachsener Mensch längst verloren zu haben glaubt.

    Er seinerseits möchte eigentlich immer kindlich bleiben, hofft er, denn sonst könnte er niemals ein guter Schriftsteller sein, der etwas Vernünftiges über die Geheimnisse der Kindheit zu schreiben vermag. So banal es klingt, die ständige Entwicklung und Verwandlung sind seine feste Überzeugung. Deswegen kann er sich, tagtäglich immer wieder neu, in einen anderen Menschen hineinversetzen. Jeden Tag möglichst nur einer oder maximal zwei, so plant er, was ihm aber nicht gelingt.

    Alexander ist darüber hinaus auch deshalb wie ein Kind geblieben, weil er fest daran glaubt, seine Kindheit, seine Jugendjahre, seine Bildungs- und Ausbildungszeit und vor allem die ersten zwei Jahre im Job gut überstanden zu haben, als er noch Lektor in einem großen Belletristik-Verlag war. Erst als man dort glaubte, man würde keine Lektoren mehr, sondern nur noch Entscheider, benötigen, reifte der Entschluss, seine eigenen „Geschäfte" machen zu wollen. Das Eigene, so nennt er seinen derzeitigen Zustand, in welchem die Anderen und das Andere in ihn hineingespeist werden. Er kann selbst bestimmen, wie viel er davon benötigt, verdaut und wieder ausscheidet. Das ist sein Ich-Gefühl. Sein Leben ist diesbezüglich eine streng körperliche Angelegenheit, insbesondere sein Verdauungsprozess und auch seine Sexualität. Sein Verdauen ist das Vertrauen in die Naturgegebenheit und Richtigkeit der Aufbewahrung der Dinge in seinem Körper und in seinem Kopf, welche Partnerin oder welcher Partner ihm zum Beispiel gefällt und welches Buch er gerade liest, was man vergessen kann. Was allerdings die Sexualität im Allgemeinen für ein merkwürdiges Phänomen ist, hat er im Grunde noch nie richtig verstanden. Nur dass sie sich körperlich stark bemerkbar machen und sich furchtbar in den Vordergrund schieben kann, das weiß er genau.

    Die Dinge, die Wolf ihm erzählt, woher der Junge sie auch immer herhaben mag, von den Gebrüdern Grimm vielleicht, von Hans Christian Andersen, von Wilhelm Busch oder aus Fantasy-Filmen, alle ist auch schon Teil seines Ichs geworden, kleine Bausteine, die er niemals freiwillig wieder herausrücken würde. Erst, wenn er alles verdaut und sozusagen preisgegeben hat, wird er zufrieden sein können. Gestalten aus vielen Märchen und Sagen sind in ihm drin, ein Teil seines Ichs. Speziell mit Rübezahl hat er keine Probleme. Das ist er selbst. Mit dem kann er Nützliches verbinden. Er ist Rübezahl, weil er die Königstochter Erika eines Tages heiraten und sie dann endgültig in sein unterirdisches Reich entführen wird. Mit Hilfe von Rüben kann er sie schon jetzt in jede gewünschte Gestalt verwandeln und zum Beispiel die Sehnsucht nach einem gemütlichen Zuhause stillen. Wie ein Berggeist macht er sich tagtäglich an die Arbeit, damit die Anzahl der Rüben stimmt. Er zählt mindestens zwei Mal. Und jedes Mal kommt ein anderes Ergebnis heraus. Macht nichts. Immer wieder versucht Erika, seine freiwillige „Gefangene", in seiner eigenen Imagination wie ein Zuckerrübenpferd zu entfliehen. Manchmal verspottet sie ihn sogar, wenn sie ihn mit seinem Märchennamen Rübezahl anredet. Er wird nicht zornig, nein, auch wenn er Märchennamen als Spottnamen überhaupt nicht mag. Als Rübezahl ist er schließlich nur ein geschwänzter Dämon, der aus dem Riesengebirge stammt, wobei die Schneekoppe auch eine botanische Rarität aus der Apotheke sein kann. So ist er der Geist des Widersprüchlichen, der in einem Moment gerecht und hilfsbereit, im nächsten allerdings auch arglistig und launenhaft sein kann. Alexander Rübezahl ist eben launisch, ungestüm, sonderbar, roh, unbescheiden, stolz, eitel, schalkhaft, bieder, störrisch, wankelmütig. Der wärmste Freund und ein eiskalter Bengel kann er sein. Wenn nicht im alltäglichen Leben, so dann doch wenigstens in seinen Romanen. Wolf hat einmal gesagt, dass er ihn als Mönch mit grauer Kutte am allerbesten findet, wenn er unerwartet Blitze und Donner abschießt und danach großzügig die armen Leute beschenkt. Aber, dass er aus Äpfeln oder gar Laub Gold machen könne, wird leider das Wunder in einem Märchenbuch bleiben müssen. Allerdings, umgekehrt betrachtet, geht es schon ganz gut. Alexander kann Geld auf unspektakuläre Weise in eine wertlose Währung verwandeln. Er kann es vor Wolfs Augen  demonstrativ in den Papierkorb werfen. Er weiß allerdings, dass Wolf  das Geld dann hinter seinem Rücken wieder herausrausholt, wenn er auf die Toilette muss. Eine Stunde später ist durch Wolf das Geld dann wieder rückrückverwandelt.

    Für Alexander Kappel gibt es einen ganz bestimmten Autor, den er über alle Maßen bewusst missverstehen will. Warum das so ist, wird er vielleicht noch genauer herausbekommen. Bruno Bettelheim heißt der Wissenschaftler. Er hat ein weithin berühmtes Buch geschrieben, welches „Kinder brauchen Märchen" heißt. Das Buch ist für ihn das spektakuläre Anti-Antimärchenbuch. Es stört ihn wahnsinnig, wenn der bekannteste Märchenerzähler Oberösterreichs, Helmut Wittmann, in den Oberösterreichischen Nachrichten schreibt, dass Bruno Bettelheims Klassiker bis heute nichts von seiner Aktualität verloren habe. Bis 1973 lehrte Bettelheim übrigens als Professor in Chicago, wo denn auch sonst.

    Weil Märchen grausam und Instrumente bürgerlicher Repression seien, müsse man sie aus der Kindererziehung verbannen, erklärten noch vor wenigen Jahrzehnten die ganz fortschrittlichen deutschen Pädagogen, zum Beispiel während der Heidelberger Märchentage im Jahr 1972. Die entgegengesetzte Ansicht vertritt nun der amerikanische Psychoanalytiker Bettelheim. Um Therapieerfolge bei seelisch schwer gestörten Kindern zu erzielen, würden Märchen sehr gut weiterhelfen. Das Chaos in ihrem Unbewussten könne bewältigt werden. Realistisch betrachtet, seien die Geschichten zwar manchmal grausamer, als der Reporter des Satans sie ersinnen könnte, aber dennoch therapeutisch wichtig. Zwei Jungen werden zur Strafe für ihre Naschhaftigkeit geschrotet und gebacken. Ein kleines Mädchen wird lebendigen Leibes von einem wilden Tier verschlungen, ein anderes sogar von einem Schwein begattet. Eine böse Frau will unentwegt ihr Stiefkind vergiften. Ein alter Mann beschläft jede Nacht eine neue Jungfrau und lässt sie im Morgengrauen töten. Verbrechen, Sadismus, Neid, Hass, Kannibalismus und Sodomie gehören zum gefährlichen Repertoire in den Wunderwelten der Märchen, in denen viele Helden auf grausame Weise den Sieg erkämpfen. Soll das etwa pädagogisch wertvoll sein?

    Bettelheim hat an autistische Kinder und geisteskranke Erwachsene gedacht, als er über Märchen im Allgemeinen, aber im Grunde speziell über die Märchenhasser schrieb, findet Alexander. So fällt dann Bettelheims Urteil für ihn auch sehr drastisch aus. Die Märchenwelt entspräche dem kindlichem Erleben und Denken. Dabei, so argumentiert er, seien die Strukturen von Märchen mit kindlichem Denken, die Märcheninhalte mit Entwicklungsaufgaben und die Märchenthemen mit kindlichen Entwicklungskrisen verbunden. Vergiftete Stiefkinder? Getötete Jungfrauen? Geschrotete Knaben? Eingesperrte Prinzessinnen? Eigenartig findet Alexander auch den zweiten Teil in Bettelheims Märchenbuch, wenn er Märchen aus psychoanalytischer Sicht deutet, wenn Märchen und Wunder bei ihm entwicklungsfördernde Projektionshilfen werden, die Erkenntnisse des Lebens von innen her böten. Am meisten stört Alexander, dass er selbst nun beileibe kein Kind mehr ist, weder autistisch noch geisteskrank, aber gerade ihm helfen die Märchen voranzukommen. Alle Märchen und auch Bettelheims Märcheninterpretationen haben in seinem Kopf einen festen Platz gefunden. Wie er meint, kommen Märchen in seiner eigenen Märchenwelt sogar in Gestalt täglicher Nachrichten für Erwachsene daher. Tagtäglich werden in immer neuen Formen und Variationen Märchenstunden erfunden und Märchen nacherzählt. Schließlich sind es Erwachsene, wie er, die im Regelfall Märchen sammeln, aufschreiben, erzählen und auch darüber berichten.

    Was hatte Bruno Bettelheim für ein Bild von der Kindheit? Ist es das Bild von Kindheit in einem psychoanalytischen Gruselgemälde, in dem autistische, „behinderte", therapier- und resozialisierbare Kinder gemalt werden? Weit gefehlt wahrscheinlich, aber irgendwie doch auch zutreffend, wie Alexander meint.

    Für ihn sind Wunder, Kinder und Märchenwelt lediglich die Wirklichkeit selbst, wie man sie sieht und für sich sowie den eigenen Gebrauch entsprechend zubereitet, um mit dem eigenen Leben besser klarzukommen. Der Wissenschaftler Bruno Bettelheim wollte jedenfalls realitätsnah und empirisch forschen. So entstand dann seine eigene verwandelte Wirklichkeit.

    Kappel als Mensch und Autor unterscheidet grundsätzlich nicht zwischen Kinder-, Erwachsenen- und anderen Märchengeschichten. Warum sollte man das auch tun? Erwachsene spielen unentwegt ihre Kindheit aus, und Kinder leben in der Welt ihrer Eltern und Lehrer. Hänsel hält der blinden Hexenlehrerin statt seines Fingers nur ein kahles Stöckchen hin, um ihr zu zeigen, dass er immer noch viel zu mager zum Verspeisen sei.

    Für Alexander wollen Kinder niemals Grausamkeiten erleben, sondern nur wie Odysseus durch die weite Welt reisen. Sie wollen Abenteurer sein, um Jason zu treffen, der seine Argonauten, die besten Spezialisten aus allen wichtigen Fachgebieten, um sich schart, um für alle Eventualitäten des Lebens gerüstet zu sein.

    Wahrscheinlich haben die meisten Menschen noch nie ernsthaft daran geglaubt, Märchen, Sagen und Legenden wären wirklich frei erfunden. Die phantastische Form entspricht der Phantasie des Erzählers, der Geschichten aus der Wirklichkeit erzählt. Die guten Autoren und Erzähler erfinden noch zusätzlich klug handelnde Tiere und die Zauberwelt von Riesen, Zwergen, Geistern, Einhörnern oder Drachen mit dazu. Diese zauberhaften Wunderweltautoren gab es natürlich schon immer, von der Antike bis in die Gegenwart und weit in die Zukunft hinein vorausgedacht. Nicht erst seit der Zeit, in der wir ordentlich schreiben und drucken gelernt haben, existieren diese wundervollen Geschichten. Schon der Steinzeitmensch konnte Phantasie an die Felswand malen.

    Die „Rettung" der Märchen durch die Brüder Grimm ist für Alexander ein wissenschaftliches Zivilisierungsmärchen, welches vor allem an die Entwicklung der Schriftsprache geknüpft ist, aber auch an die Erfindung der Germanistik und die Sammelleidenschaft der Bibliothekare in der Berliner Universität. Ein jähes Ende, wie das der Gegner des kleinen Hobbit, kann er allerdings all den Versuchen, Märchen wirklich zivilisieren zu wollen, schon voraussagen. Sein Verstehen von Märchen und Märchenwelten ist eine reine Welt der Kunst und der Phantasie, jene Welt, die prinzipiell nur aus einzelnen kleinen Schöpfungen besteht. Es sind die Schöpfungen aller Menschen, die tagtäglich fantastische Wundergeschichten vom Unwirklichen und der Realität, von verschiedenen Weltanschauungen und der Romantik hören, erfinden und erzählen. Das, was Interesse weckt und weiterhilft, ist für Alexander ein bedeutender Teil des Wesens der Märchen. Die koboldhaften Gestalten sind die Märchenschreiber, Erzähler und Leser, die wie Märchenfiguren verzaubern, wobei der Märchenton und auch die Märchenlautstärke den wertvollen Gehalt einer einzelnen Geschichte ausmachen können.

    „Peterchens Mondfahrt" ist das Abenteuer des Maikäfers Sumsemann, der mit Peter und Anneliese zum Mond fliegt, um von dort sein verlorengegangenes sechstes Beinchen wieder zu holen. Der Autor und seine Figuren sind Schöpfung und Schöpfer zugleich. Gerdt von Bassewitz hatte sich als Vorbild die Geschwister Peter und Anneliese genommen, jene gleichnamigen Kinder vom Ärzteehepaar Eva und Oskar Kohnstamm, denen er 1911 im Sanatorium, wo er sich zur Kur aufhielt, begegnete. Wer ist Schöpfer? Wer ist Schöpfung? Entscheidend ist, was Bassewitz aus Peter und Anneliese geformt hat, wie er sie kunstvoll umgestaltet und verwandelt hat.  

    „Die Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen", von der die schwedische Schriftstellerin Selma Lagerlöf erzählt, ist ein gutes Lesebuch für die Schule, um nicht nur den schwedischen Schulkindern die Heimatkunde nahezubringen. Aber nicht nur deshalb gibt es die bösen Streiche des Wichtelmännchens und den zahmen Gänserich, der über die Ostsee herüberkommt und nach Lappland fliegen will. Nils sitzt auf dem Gänserücken in Freiheit und will lieber mit den Wildgänsen durch Schweden ziehen, als dass er als kleiner Mensch auf der Schulbank sitzt. Er erlebt gefährliche Abenteuer, wobei er oft über moralische Fragen zu entscheiden hat und sich bewähren muss, so als säße er in der Schule. Als Nils mit den Wildgänsen aus Lappland zurückkehrt, bevor sie dann über die Ostsee nach Pommern weiterfliegen wollen, schleichen sich Nils und sein Gänserich auf den Hof von Nils’ Eltern. Nils kann auf keinen Fall zulassen, dass seine Eltern den Gänserich töten. Warum sollten die eigenen Eltern sie so etwas Schreckliches tun? Allerdings erst nachdem er seine Schamhaftigkeit besiegt hat, weil er so winzig klein ist, wird er schließlich ein größerer Mensch. Was ist das Wunder, das Märchenhafte? Es ist die schlichte alltägliche Verwandlungsmöglichkeit, die jeder Mensch nun einmal hat und von der man wundersam erzählen kann. Größer werden und sich kleiner fühlen ist die alltäglichste Sache der Welt. Zum allergrößten Glück haben gerade Schulkinder diese fabelhafte Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln, Wandlungen und verschiedene Größen auszuprobieren.

    Über Märchenparodien kann sich Alexander Kappel furchtbar aufregen. Was hatte der Politikwissenschaftler Iring Fetscher eigentlich davon ein „Märchen-Verwirrbuch zu schreiben und sich zu fragen, wer denn das reale „Dornröschen wachgeküsst habe? Was bewegte Mary M. Kaye dazu, unbedingt eine ganz gewöhnliche Prinzessin konstruieren zu müssen? Welche Erkenntnis will Peter Rühmkorf übermitteln, wenn er sich als „Hüter des Misthaufens" sieht? Was hat man überhaupt davon, Märchen als aufgeklärt oder weniger aufgeklärt darzustellen?

    Schlimm verbogen ist für Alexander ein computer-animierter, amerikanischer Familienfilm aus dem Jahr 2005 mit dem Namen „Die Rotkäppchen-Verschwörung. Ein Märchen in einen Krimi umgemünzt. Den hätte ein frecher Regisseur auch schon nach der Veröffentlichung von Bettelheims psychoanalytischem Märchenbuch drehen können. Könnte es sein, dass Parodien grundsätzlich auch am Elend und den vielen Übeln in der Welt beteiligt sind? Niemals würde Alexander Kappel als Autor ein Parodist sein wollen, wie Charlie Chaplin, der verkleidet als deutscher Reichskanzler „Der große Diktator Adolf Hitler ist. Eine Hollywoodfigur brüllt vor sich hin und spielt mit der Erdkugel als Luftballon herum. Oder wie jener Schulaufführer, dem die Aufführung seiner anvertrauten Schülerinnen und Schüler immer wieder misslingt, weil die Schüler den Text ironisch empfinden, ihn nicht ernst genug nehmen und das Leben überhaupt so furchtbar komisch sei. In echten Märchen gibt es dagegen kaum diese Beziehungsfalle Ironie, nur wenn man Märchen möglicherweise falsch erzählt.

    Die modernen digitalen Formen der vielen Fantasy-Spiele in Film, Funk, Fernsehen und Computer sind besser als nichts, sagt sich Alexander, aber häufig genug bleibt die Phantasie auf jener Strecke, die man zurücklegen müsste, weil man sie nicht nur beiläufig mitnehmen kann. Wenn er intensiv über Parodien nachdenkt, fragt er sich, gibt es sogar einen Parodismus. Zwei Filme scheinen ihm dann doch sehr gut gelungen zu sein. Der eine ist „Spaceballs von Mel Brooks, der ein anderes Film-Epos auf den Arm nimmt. Der andere Film heißt „Das Leben des Brian von Monty Python, die sich erfolgreich an Jesus und den Bibelgeschichten zu schaffen machen. Sie schaffen jene steile Gradwanderung über die Gebirgskette der ironisierenden Phantasie hinweg, weil sie die richtige, versöhnliche Form finden, wie man eben das Kind auf den Arm nimmt, welches man nicht so

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1