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Die Wiege der Damaszener
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eBook309 Seiten4 Stunden

Die Wiege der Damaszener

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Über dieses E-Book

Der Roman "Die Wiege der Damaszener" erzählt die wundervolle aber auch dramatische Lebensgeschichte von zwei Familien verschiedener Herkunft in New York City und Leningrad des 20. Jahrhunderts, eingebettet in wahre geschichtliche Ereignisse des russischen und amerikanischen Seins jener Zeit. Zwei Familien, die in gegensätzliche Lebens- und Denkweisen geboren wurden und deshalb unterschiedlicher nicht leben und lieben können. Die durch ihren Glauben, ihre Treue und ihren Mut sich allen Hürden des Lebens entgegenzustellen zueinander finden und über Grenzen hinaus enger miteinander verbunden sind, als sie sich es je hätten vorstellen können. Aus deren wundervollen und dennoch tragischen Vereinigung ein wohlbehütetes zartes Mädchen heranreift, welches an jenen unterschiedlichen Lebens- und Denkweisen zu zerbrechen scheint. In fortlaufenden Zeitabständen zwischen 5 und 7 Jahren führt der Roman parallel abwechselnd in das russische und amerikanische Leben. Auch lässt das erste Kapitel scheinbar das Ende des Romans erahnen. Dennoch bleiben alle Möglichkeiten offen. Erst nachdem sich das Netz der gesamten Handlung am Ende des Romans zusammengezogen hat, erhält der Leser die Antwort auf seine Frage. Bewusst beginnt die eigentliche Geschichte des Romans erst mit dem zweiten Kapitel im Jahr 1930. Von da aus nimmt uns die Geschichte inmitten von tiefster Armut und absoluten Reichtum in das beeindruckende New York City, in das atemberaubende Leningrad, auf beeindruckende Reisen durch Zeit und Raum und lässt uns die unabdingbare Rückkehr jedes einzelnen Protagonisten zu seinen Wurzeln erleben.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum11. Nov. 2012
ISBN9783847622888
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    Buchvorschau

    Die Wiege der Damaszener - Frankae M.G.

    Vorwort

    Wir versuchen die Wege,

    die wir gehen,

    selbst zu bestimmen

    und doch

    wird es so geschehen,

    wie es geschehen muss!

    .

    Francesca

    New York City, Sommer 1993

    „Schließen sie den Vorhang!" rief Oberärztin Claire der Notaufnahme des St. Michael Hospital in Greenwich Village Schwester Kathleen zu, die für einige Tage von Station Vier, dem Therapiezentrum für Suchtprobleme, in die Unfalleingänge versetz wurde. Der Anweisung folgend trat Kathleen an Bett Nummer Zwei und schloss den Plastikvorhang des Neuzugangs.

    „Was kann ich tun?", fragte sie die Oberärztin.

    „Säubern sie das Gesicht der Kleinen, es sieht furchtbar aus!"

    Wie angeordnet nahm Kathleen ein mit Desinfektionslösung getränktes Reinigungstuch und strich eine von Speichel verklebte Haarsträhne aus dem Gesicht der scheinbar jungen Frau. Gerade, als sie behutsam die Wangen säubern wollte, wich sie einen Schritt zurück.

    „Oh mein Gott…, stotterte sie, „…das ist Francesca!

    Oberärztin Claire, die angefangen hatte die Aufnahmepapiere zu studieren, blickte auf. „Sie kennen sie?"

    „Sie wollte heute heiraten!" Kathleen schien sichtlich irritiert.

    „Nun, ich denke heiraten wird sie heute nicht mehr", antwortete die Oberärztin kühl und gab Kathleen das Aufnahmeformular.

    „Geben sie mir die Fakten", forderte sie Kathleen routiniert auf. Kathleen bemühte sich um Fassung und las die notierten Daten der Aufnahmeärzte vor.

    „Weibliche Weiße, zirka fünfundzwanzig Jahre alt, aufgenommen mit Atemnot, Bewusstseins- und Herzkreislaufstörung, Hautirritationen um Mund und Nase, Geruch nach Lösungsmittel, Reanimation durch Intubation bei Atmung. Die Patientin befindet sich im Tiefschlaf mit sich wiederholenden kurzzeitigen Wachzuständen."

    „Wo fand man sie?", fragte die Oberärztin weiter und leuchtete in Francescas scheinbar leblose Augen.

    „Man fand sie im Washington Square Park", antwortete Kathleen, während die Oberärztin die Hautirritationen um Mund und Nase begutachtete.

    „Sie riecht sehr stark nach Lösungsmittel. Wurde irgendetwas bei ihr gefunden?"

    „Nein! Doch ich bin überzeugt das es Klebstoff war."

    Kathleen studierte noch ein zweites Mal die Aufzeichnungen.

    „Klebstoff?" Oberärztin Claire schaute auf.

    „Also gut! Sie kennen das Mädchen? Dann erzählen sie! Aber bitte nur die Fakten!" Noch immer sprach Oberärztin Claire in einem sehr kühlen Tonfall. Kathleen begann zu erklären.

    „Francesca ist seit fast zwei Jahren Patientin auf Station Vier. Sie schnüffelte regelmäßig Klebstoff. Seit ihrem vierwöchigen Entzug begleiten wir sie in einer Therapie, die erfolgreich und fast zu Ende ist. Zudem hat sie sich gerade erst verlobt. Ich verstehe nicht, was passiert ist."

    „Gab es denn keinen Anhaltspunkt, dass sie eventuell rückfällig werden könnte?", fragte Oberärztin Claire etwas nachdenklich.

    „Nein! Sie war voller Vorfreude auf ihre Hochzeit."

    „Und warum hat sie geschnüffelt?", fragte Oberärztin Claire weiter. Kathleen schaute einen Augenblick lang auf Francesca, dann begann sie zu erzählen.

    „Wissen sie Claire, in all den Sitzungen mit ihr und auch in den Gesprächen mit ihrem Verlobten kristallisierte sich heraus, dass Francescas immer stärker werdendes depressives Verhalten daraus resultierte, dass sie unter den verschiedenen kulturellen Einflüssen ihrer Familie litt. Ihre Mutter und sie selbst wurden in der Sowjetunion geboren. Ihr Vater kam ums Leben, als sie noch ein Kind war. Dann verliebte sich ihre Mutter erneut in einen Freund der Familie, einen Amerikaner hier aus New York City. Für Francesca brachte das Bündnis dieser völlig unterschiedlichen Welten große Probleme mit sich. Der Umzug von Leningrad nach New York City und das sich Zurechtfinden in einem neuen System. Darüber hinaus verbrachte sie die letzten Jahre alleine, denn ihre Mutter folgte ihrem Mann für einen Job nach Frankreich. Sie blieb mit ihren Zweifeln und Ängsten hier in New York City zurück. Eines führte zum anderen und letztendlich ins Drogenmilieu. Francesca sprach oft davon, dass sie hoffte, in ihren Rauschzuständen ein Gefühl von Heimat und Liebe zu bekommen. Ich bin auch nicht sicher, ob ihre Eltern wussten, wie es um sie stand. Und dennoch, sie hatte das alles letztendlich hinter sich gelassen. Sie war clean und blickte nach vorne!"

    Kathleen hielt kurz inne, dann fügte sie leise hinzu: „Sie wollte heute heiraten!"

    Kathleen und Oberärztin Claire schwiegen für eine paar Sekunden, dann fuhr Oberärztin Claire fort.

    „Bevorzugte sie eine bestimmte Sorte von Klebstoff?"

    „Ich weiß es nicht!", antwortete Kathleen fast unhörbar.

    „Danke Schwester! Dann entfernen sie das Kleid und bringen sie es ins Labor, ich will schnellsten die Analyse! Ich schicke ihnen eine Pflegerin", wies Oberärztin Claire Kathleen scheinbar doch mitfühlend an, unterschrieb das Aufnahmeformular und verschwand hinter dem Plastikvorhang.

    Kathleen sah Francesca mit traurigen Blicken an, wie sie dalag, in ihrem wunderschönen Brautkleid aus champagnerfarbenem Seidenchiffon mit Hunderten von funkelnden Steinen wie Diamanten, die sie erstrahlen ließen. Das Kleid war ein Kunstwerk aus Meisterhand.

    Kathleen erinnerte sich, wie stolz Francesca es ihr noch vor ein paar Tagen in der Therapiestunde zeigte.

    „Schwester Kathleen? Entschuldigung! Ich soll ihnen hier helfen?" Eine Pflegerin riss Kathleen aus ihren Gedanken.

    „Oh, ja danke! Kommen sie her! Wir müssen ihr das Kleid ausziehen. Ich werde sie herumdrehen und sie öffnen das Kleid. Aber bitte vorsichtig! Wir wollen es nicht zerreisen!"

    Die beiden Frauen arbeiteten so behutsam wie möglich und noch während sie Francescas Körper von einer Seite auf die andere drehten, erwachte sie kaum spürbar. Sie erlebte jede Berührung der Schwestern in vollem Bewusstsein. Sie wollte sich mitteilen, doch ihre Zunge bewegte sich nicht. Es fühlte sich an, als säße sie in einem Karussell, das sie geradewegs durch ihre Erinnerungen drehte.

    „Nein! Nicht mein Kleid!", stammelte Francesca nun leise.

    „Hat sie etwas gesagt?" Kathleen schaute die Pflegerin fragend an.

    „Ich habe nichts gehört", antwortete diese.

    „Wir müssen sie warm halten! Schnell, holen sie ein paar Decken!" flüsterte Kathleen leise.

    Francesca lag in Trance und es war als höre sie von weitem die Stimme ihrer Mutter. Sie wollte zu ihr laufen, doch ihre nackten Füße bewegten sich nicht. Sie spürte die aufsteigende Kälte, die sich langsam ihres Körpers bemächtigte, es schmerzte. Auf einmal wurde es dunkel, dichter Nebel umhüllte sie. Sie hatte große Angst. Sie öffnete weit ihre Augen und versuchte zu deuten. Dann plötzlich sah sie einen goldenen Schimmer, einen Sonnenstrahl, eine Brücke, die über einen tiefen Abgrund führte und sie hörte eine sanfte Stimme, die rief:

    „Francesca, komm zu uns, komm in die Sonne!"

    Sie sah ihre wunderschöne Mutter, Katharina Petrovic Price und ihren geliebten Stiefvater Richard Price. Sie sah ihr Zuhause, sie sah ihre Vergangenheit und dann erinnerte sie sich, wie alles begann…

    Katharina

    Leningrad, Winter 1934

    „Karl, es bittet jemand um Einlass. Würdest du die Tür öffnen."

    Doktor Karl von Stein öffnete die schwere Eingangstür und der eisige Wind fegte Tausende von Schneeflocken in das Portal. Ein bärtiger Mann im dicken Mantel aus Schafsfell und einer tief ins Gesicht gezogenen Schápka erschien im Licht der Kerzen. Seine Augenbrauen und Barthaare waren vor Kälte gefroren. In seiner Hand hielt er einen versiegelten Brief.

    „Sdráwstwuíte, Doktor von Stein!", grüßte er freundlich.

    „Wassily Petrovic? Wieso sind sie bei diesem Schneesturm unterwegs und noch dazu um diese Uhrzeit? Schnell treten sie ein!"

    „Danke, Herr Doktor! Ein Brief aus Deutschland traf für sie ein. Ich dachte, sie würden ihn so schnell als möglich haben wollen."

    „Ein Brief aus Deutschland?" Auch Anna von Stein kam zur Tür geeilt.

    „Karl? Hörte ich richtig? Ein Brief von zu Hause ist angekommen?"

    Anna von Stein war eine unscheinbare Frau, die sich über jede Nachricht aus ihrer Heimat freute, denn sie hatte oft Sehnsucht nach ihrer Familie. Schweren Herzens war sie ihrem Mann vor über drei Jahren nach Leningrad gefolgt und nur allmählich konnte sie sich an das neue Leben in einem unruhigen Land gewöhnen. Karl von Stein nahm den Brief entgegen.

    „Danke, Wassily! Anna möchtest du ihn öffnen? Hier bitte! Wer schreibt uns?"

    „Er ist von meiner Schwester", lächelte Anna.

    „Ich hoffe, es sind keine schlechten Nachrichten!" Karl schaute skeptisch.

    „Auf Wiedersehen, Doktor von Stein! Ich werde mich wieder auf den Weg machen." Wassily zog seine dicken Fausthandschuhe an und beugte seinen Kopf nach unten als Geste des Abschiedes.

    „Wassily, mein Freund! Sie sollten wenigstens warten, bis sich der Schneesturm ein wenig gelegt hat. Bleiben sie und trinken sie einen Tee mit uns! Der Samowar ist noch heiß."

    „Danke! Aber, ich möchte sie nicht stören!", lehnte Wassily höflich ab.

    „Unsinn! Es ist uns eine Freude!" Karl von Stein zeigte auf das anliegende Zimmer und Wassily nahm die Gastfreundschaft an.

    „Würdest du uns den Tee zubereiten?", bat Karl seine Frau, die den noch ungeöffneten Brief bei Seite legte und ihrem Mann in die Teestube folgte, einem großen warmen Raum, in dessen Mitte ein Eichentisch mit sechs reich verzierten und mit schwerem Brokat bezogenen Essstühlen stand. Auf dem Tisch dampfte der heiße Samowar und neben ihm blinkte eine Schale aus Silber mit bunter Emailmalerei und Filigran, gefüllt mit gebackenen figürlichen Lebkuchen, nach altem russischem Rezept. An der linken Wandseite stand ein kleiner Sekretär, an dem Karl von Stein Abend für Abend seine Studien niederschrieb. Ein Ofen, auf dessen Keramikkacheln in bunten Farben ein Sommerpalast zu sehen war, spendete dem Esszimmer wohltuende Wärme. An den Wänden hingen alte russische Gemälde, die unter dem Licht der Kerzen wie lebendig erschienen. Ein großer Wandbehang aus naturfarbener Baumwolle mit schwarzrotblauer Seidenstickerei gab dem Raum seine Gemütlichkeit. Trotz der prunkvollen Eichenmöbel, war die Villa in der vornehmsten Straße Leningrads, die Doktor von Stein und seiner Gemahlin zur Verfügung gestellt wurde, sonst nur spärlich eingerichtet und entgegen den meisten Herrenhäusern nahe dem Verfall. Die Figuren im Eingang waren beschädigt und die Bemalungen kaum noch zu sehen. Die Machtkämpfe, die Revolutionen und die politischen Veränderungen hatten auch hier ihre Spuren hinterlassen.

    „Mein Mann und ich freuen uns sehr, sie wieder zu sehen. Wie geht es ihrer Frau Natascha? Sie war doch Hebamme nicht wahr?" fragte Anna von Stein, während sie die Teeschalen füllte.

    „Das ist richtig! Natascha hilft noch immer bei zahlreichen Geburten, aber die Zeiten sind nach wie vor hart. Hunger und Armut sind Schuld an vielen Totgeburten." Wassilys Stimme klang traurig.

    „Ich weiß! Bitte, trinken sie den heißen Tee! Er wird ihnen gut tun. Der Weg hierher war sicher anstrengend."

    Anna sprach mit leiser Stimme, in der Hoffnung, dem Gespräch eine andere Richtung geben zu können. Sie sah die Armut jeden Tag, sie wollte nichts darüber hören. Doch Wassily sprach weiter.

    „Natascha tut was sie kann. Doch dieser strenge Winter wird wieder sehr viele Schicksale fordern. Hinzu kommen die noch immer anhaltenden politischen Säuberungen. Auch, wenn ich meinem Land treu ergeben bin, wünschte ich, ich könnte meiner Frau das Leben bieten, was wir einmal hatten. Damals, als meine Familie noch sorglos in Krasnoje Selo lebte, bevor man uns alles nahm und meine Eltern starben." In Wassilys Worten lag ein bitterer Unterton.

    „Sie waren ein Kulak, ein Kapitalist!", scherzte Karl von Stein mit einem Lächeln, der Annas Unbehagen bemerkte.

    „Oh, Doktor von Stein! Sie sollten darüber nicht lachen! Unsere Familie hat unser Land über Generationen fruchtbar gemacht. Wir waren keine Kapitalisten, wir waren Bauern, die von ihrer Ernte lebten. Wir lebten von unserer Arbeit und auch wir wollten die Veränderungen!" Wassily schaute nach unten und seine Fäuste ballten sich.

    „Sie haben Recht, Wassily! All die Enteignungen waren und sind schrecklich und ich weiß, das Leningrad noch immer voller Wut, Armut und Tod ist. Doch versuchen sie auch die guten Seiten zu sehen. Sie leben jetzt in einer Stadt mit großer Zukunft. Einer Stadt mit Schulen, Krankenhäusern und Kindergärten und vergessen sie nicht die Museen, Gärten und Parks, die für alle Menschen geöffnet wurden. Auch wenn viele Menschen dafür Opfer brachten, ist es dennoch ein enormer Schritt in der Geschichte dieses Landes."

    „Doktor von Stein, bei meinem größten Respekt ihnen gegenüber, aber was wissen sie schon über unsere Geschichte. Solange ich denken kann, floss Blut auf den Straßen. Menschen wurden deportiert oder starben. Familien wurden auseinander gerissen oder ausgelöscht. Es gab immer nur Kampf und Trauer, verstehen sie! Und es ist noch nicht zu Ende!" Es schien, als wäre Wassily wütend. Karl von Stein kannte diese Wut von vielen, in dieser Stadt lebenden Menschen, die eine bessere Zukunft wollten, aber sie nicht fanden.

    „Sie haben Recht! Wir wissen nur sehr wenig über ihre Geschichte, dennoch ist sie auch sehr beeindruckend." Karl von Stein versuchte zu schlichten.

    „Ich habe erst kürzlich gehört, dass Peter der Große Leningrad einst liebevoll den Namen Pieterburgh gab. Wie ich hörte, nach holländischer Gepflogenheit."

    „Ja, Doktor! Mein Bruder Sergej pflegte stets zu sagen, dass Leningrad ein Symbol für den Bruch althergebrachter Traditionen sei. Und so trägt sie jetzt einen neuen Namen, den eines großen Revolutionärs". Wassily hielt inne und trank von seinem Tee, der unterdessen kalt geworden war. Anna, die besorgt über Wassilys Gemütszustand war, übernahm das Gespräch.

    „Oh, ja! Wir hörten von dieser großen, das Land verändernden Revolution, die unter der Führung des berühmten Lenins stattfand. Nicht nur das Leningrad nach ihm benannt wurde, sondern auch, dass man für ihn eine außergewöhnliche Grabstätte in Moskau schuf."

    „Das ist richtig, Anna. Sie bauten ihm ein Denkmal!", antwortete Wassily wieder ruhiger.

    „Natascha und ich waren vor einiger Zeit dort."

    „Sie waren in Moskau?" Anna, die froh über den gelungenen Gesprächsumschwung war, rückte näher an Wassily heran. Karl und sie hatten schon viel über die besondere Grabstätte erfahren und doch war es für sie immer noch unvorstellbar, wie man einem Menschen auf diese Art das ewige Leben schenkte.

    „Sie waren in der Grabstätte? Wie sah sie aus?" Gespannt wartete sie auf Wassilys Beschreibung.

    „Der Monumentalbau ist kaum zu beschreiben. Es ist ein Mausoleum, dunkelrot und schwarz verkleidet und es steigt stufenförmig empor, gekrönt von einem tempelartigen Aufbau. Vor den Bronzetüren halten zwei Soldaten Ehrenwache. Lenin selbst ist aufgebahrt in einem gläsernen Sarg und dieser wiederum steht in einer Grabkammer aus roten, schwarzen und grauen Steinen. Vor dem Grabmal standen Tausende Menschen, um den Begründer ihres neuen Landes sehen zu können und ihm die letzte Ehre zu erweisen. Viele von ihnen weinten, sie schrieen und beteten für seine Seele, es war wirklich sehr beeindruckend!"

    „Wie sah er aus?", drängte Anna weiterzuerzählen.

    „Es war, als ob er schliefe. Es war, als würde er jeden Moment erwachen und sein Werk fortführen, ein wirklich großer Mann!" Wassily sah in seine Teeschale und im Raum wurde es still.

    „Ich danke ihnen für den Tee! Er war sehr wohltuend. Jetzt muss ich mich jedoch wieder auf den Weg machen."

    Wassily zog seinen Mantel an, streifte seine Handschuhe über und verabschiedete sich in aller Höflichkeit.

    Inzwischen war die Nacht hereingebrochen und der Wind peitschte an die Scheiben, auf denen Eiskristalle wundervolle Blumenmuster malten.

    „Sieh nur, Karl, Eisblumen! Ich bewundere die Kunst der Natur jedes Jahr aufs Neue. Sind die Formen nicht wunderschön?"

    „Ja, mein Liebling, sie sind wunderschön. Aber sie sind es nur, weil unser Heim warm ist." Karl von Stein war nachdenklich.

    „Ja! Wir können uns sehr glücklich schätzen, dass es uns an nichts fehlt. All die Armut ist erschreckend. Dieses Land ist noch weit entfernt von einem sorglosen und guten Leben!"

    „Denkst du oft an Deutschland zurück?", fragte Karl seine Frau.

    „Karl! Ich weiß, wie wichtig dir deine Arbeit hier in Leningrad ist. Dennoch gibt es Zeiten, in denen ich mir wünsche, zurückzukehren. Obgleich ich es dann auch wieder nicht will." Anna hielt kurz inne, denn sie erinnerte sich an den Brief aus Deutschland. Sie lief in die Teestube, öffnete hastig das Siegel und las laut vor.

    Meine liebe Anna, lieber Karl! München, 30.August 1934

    Nach langer Zeit des Schweigens, möchte ich Euch Nachrichten aus der Heimat senden. Wie geht es Euch? Uns allen geht es den Umständen entsprechend gut. Mutter hat sich gerade von einer leichten Erkältung erholt. Vater arbeitet Tag und Nacht in der Bank. Auch für uns wird es jetzt schwerer. Vater musste seinen Kunden alle kurzfristigen Kredite kündigen, schuld ist noch immer die Wirtschaftskrise, sagt er. Leider weiß ich nicht viel von diesen Dingen. Es gibt keine Arbeit und die Angst vor Zwangsversteigerungen und Zwangsräumungen überschattet die Familien. Überfälle und politische Morde machen uns große Angst. Fabriken und Betriebe werden geschlossen und Vater sagt, die Steuern werden erhöht. Wir leben in einer sehr schwierigen Zeit.

    Vater will Karl das große Zille Album mit Zeichnungen aus dem Arbeiterviertel Berlins und Grüßen aus der Heimat schicken und ich sende dir Anna die Vogue, eine kleine Ablenkung von deinem Alltag.

    Liebe Anna, lieber Karl! Leider muss ich Euch auch eine sehr traurige Mitteilung machen. Unser geliebter Bruder ist tot. Vor zwei Monaten bekam er leichte Fieberanfälle. Er aß nicht mehr, war matt und hatte oft Kopfschmerzen. Wir alle dachten, es sei nur eine Magenverstimmung, doch es ging ihm Tag für Tag schlechter. Seine Fieberanfälle wurden immer schwerer. Der Doktor kam und er stellte Diphtherie fest, eine sehr heimtückische Krankheit, sagte er. Der Doktor versuchte jede Medizin, doch er konnte ihm nicht mehr helfen, es war zu spät und so starb er am 23.August. Wir alle trauern sehr um ihn. Es ist für uns alle unfassbar, doch sein Wunsch war es, das wir unseren Mut nicht verlieren. Er wird immer in unseren Herzen weiterleben. Verzweifle bitte nicht, Anna! Gott nahm Peter zu sich und ich bin sicher, er hatte seine Gründe.

    Bis bald Eure Magdalena.

    Anna konnte nicht glauben, was sie las. Karl hatte Recht, es waren schlechte Nachrichten. Anna wollte weinen, sie wollte schreien. Der Schmerz, die Sehnsucht und die Wut stauten sich in ihrem Herzen auf und entfachten einen inneren Orkan, der alles mit sich riss.

    Richard

    New York City, Frühling 1935

    Ein wunderschöner Tag war angebrochen. Die Vögel zwitscherten und durch die zarten langen Gardinen wehte der kühle Morgenwind. Die erwachende Sonne ließ das im edlen Weiß, Gold und Perlmutt gehaltene Schlafzimmer von Elisabeth Price wie einen orientalischen Traum erscheinen. Elisabeth liebte die Nichtfarben, weil sie Reinheit und Klarheit bedeuteten und das Sonnenlicht am hellsten wiedergaben. Und sie liebte Perlmutt, die für sie größte Faszination der Natur, die in allen Möbeln ihres Zimmers erstrahlte, kostbar und rein.

    Elisabeth Price war bekannt für diese Vorliebe und ihre daraus resultierende Sammlung von geschmackvollem Perlenschmuck, mit der sie begann, als sie vor vielen Jahren in der Femina ein Foto von Misses George Franklin, einer Dame der New Yorker Gesellschaft sah, deren Kleid scheinbar aus unzähligen weißen Perlentropfen bestand. Eine Frau, die sehr elegant durch den Glanz und die Pracht erschien. Eine Eleganz, die auch Elisabeth ausstrahlte und die die Damen der feinen Gesellschaft ihr insgeheim neideten, denn Elisabeth folgte nicht den Reglements der oberen Schicht oder den Reglements der Mode, sie folgte ihrem eigenen Stil.

    Es schlug acht Uhr, als Elisabeth erwachte. Sie roch den wundervollen Morgen, stieg aus ihrer elfenbeinfarbenen Seidenbettwäsche, streifte sich den Morgenrock von Bloomingdale über, öffnete weit ihre Balkontüren und lief hinaus in den Garten, wo ihre purpurroten Rosen erblühten, die sie umhegte und pflegte und von denen sie jeden Tag liebevoll nur eine Einzige abschnitt. Als sie zurückkehrte, klopfte es an ihrer Schlafzimmertür, die sich kurz daraufhin öffnete.

    „Guten Morgen, Darling!" George Price betrat das Schlafzimmer seiner Frau.

    „George! Ich habe dein Klopfen gar nicht gehört", begrüßte Elisabeth ihren Mann freudig und knöpfte etwas errötet ihren Morgenmantel zu.

    „Entschuldige! Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen." Ein Schmunzeln überzog Georges Gesicht.

    „Du bringst mich nicht in Verlegenheit! Komm herein und gib mir einen Kuss!" Elisabeth sah ihren Mann mit einem verführerischen Lächeln an, der sie sogleich in den Arm nahm. Elisabeth stellte sich auf die Zehenspitzen und schüttelte ihren, in Wasserwellen gelegten rabenschwarzen Pagenschnitt sanft nach hinten.

    „Darling, es ist bereits acht Uhr und Maria lässt fragen, ob du einen besonderen Wunsch hast, was das Frühstück betrifft." George löste sanft die Umarmung.

    „Sie ist wirklich eine Seele von einem Mensch. Ich wüsste gar nicht, was ich ohne sie tun würde."

    Elisabeth ging weg, steckte die Rose in eine kostbare Vase, setzte sich vor ihren ovalen goldenen Spiegel und begann ihr Gesicht zu pudern.

    „Nun, hegst du einen besonderen Wunsch?", fragte George noch einmal.

    „Ich möchte Spanisch frühstücken!", scherzte Elisabeth.

    „Du bist wieder einmal unerbittlich! Ich werde Maria sagen, dass du dich nicht entscheiden konntest und warte im Salon auf dich."

    „Danke! Sage ihr bitte auch, dass ich auf der Terrasse frühstücken möchte!"

    Elisabeth ging ins Badezimmer, während George ihr nachsah. Er liebte sie einfach über alles.

    George war ein angesehener Architekt mit Aufträgen der oberen Zehntausend New York Citys, den wenigen Wohlhabenden, die den Börsenkrach überstanden hatten. Und er war sehr stolz, eine so schöne und kluge Frau an seiner Seite zu wissen.

    Im Portal angekommen informierte er Maria, das spanische Hausmädchen, über den Wunsch seiner Frau, setzte sich in den Salon mit Blick auf die Terrasse und beobachtete, wie Maria den Tisch mit sehr viel Sorgfalt und Liebe deckte.

    Maria war in der Tat eine Seele von einem Mensch, denn sie freute sich über jede Arbeit, die ihr aufgetragen wurde. Und als George Maria so sah, da kamen sie wieder, die Erinnerungen an sein Elternhaus. Ein reiches Elternhaus, in dem man ihm Ignoranz gegenüber der unteren Schicht, den Immigranten und Hungernden gelehrt hatte. Er konnte und wollte das Elend in den Strassen nicht sehen, er wollte nichts hören von den Familien in den Elendsquartieren, dessen Kindern die Würmer aus der Nase krochen. Er wollte nichts hören, von all den Hungernden und Sterbenden und er wollte nichts wissen von den Menschen, die nur gebrochen seine Sprache sprachen.

    George lebte unbeschwert in der Welt der Reichen bis zu jenem Abend, als Maria unerwartet in seiner Haustür stand, mit einem Zettel in der Hand. Bis zu jenem Abend, der alles veränderte:

    Es war bereits dunkel und der vom Hudson River in die Stadt ziehende Nebel trübte die Sicht, als George die Hausglocke hörte.

    „George! Es hat geläutet! Würdest du bitte die Tür öffnen!", rief Elisabeth aus dem Salon.

    George öffnete die Haustür und sah den Umriss einer Frau. Sie war sehr klein und auffällig dick. Sie trug ein buntes Kopftuch und einen viel zu großen alten Mantel. Im Licht der Eingangsbeleuchtung konnte George erkennen, dass die Frau eine etwas dunklere Hautfarbe hatte. Erschrocken trat er einen Schritt zurück.

    „Wir

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