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Wie ich in China ein Kind bekam: Geschichten und Berichte aus dem Reich der Mitte
Wie ich in China ein Kind bekam: Geschichten und Berichte aus dem Reich der Mitte
Wie ich in China ein Kind bekam: Geschichten und Berichte aus dem Reich der Mitte
eBook440 Seiten6 Stunden

Wie ich in China ein Kind bekam: Geschichten und Berichte aus dem Reich der Mitte

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Über dieses E-Book

Wer nach China kommt staunt: Alles ist irgendwie vertraut und gleichzeitig total fremd und anders, als ob zwei Bilder übereinander geschoben worden seien, die vertraute westliche Welt und ein seltsames, irgendwie unheimliches, uraltes China.
Der Drache hat sich ein Auto gekauft, sitzt verwundert am Steuer und drückt aufs Gas. Niemand weiss jetzt so genau, wohin die Reise geht. Es könnte durchaus zu Unfällen kommen...
Es gibt viele Berichte aus China, aber wenige, die von so einem intimen Kenner des Landes stammen. Der Autor Ulrich Wessinger war sechs Jahre lang in China, hat die Sprache gelernt, eine chinesische Frau, ihre Familie und Verwandtschaft kennengelernt, sie geheiratet, mit ihr gefiebert, als sie ihr gemeinsames Kind gebar in einem chinesischen Krankenhaus in Shanghai. Er hat viele junge Leute kennengelernt bei seinen Deutschkursen an verschiedenen Universitäten in Shanghai, hat einen Deutsch-chinesischen Gesprächskreis geleitet im Goethe-Institut in Shanghai, hat an illegalen Hauskreisen junger Christen teilgenommen, mit Künstlern gesprochen, ist viel im Lande gereist, hat die Werke alter Philosophen studiert....
Das Buch verknüpft humorvolle Betrachtungen chinesischen Alltags mit fundiertem Hintergrundwissen zu Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur.

Ulrich Wessinger war 12 Jahre lang Berichtserstatter für das Kulturmagazin Fazit des Deutschlandradios, von 2008 bis 2014 Dozent für deutsche Sprache und Kultur an der Shanghai Dianji University und der East China University of Science and Technology in Shanghai.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum25. März 2015
ISBN9783738021189
Wie ich in China ein Kind bekam: Geschichten und Berichte aus dem Reich der Mitte

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    Buchvorschau

    Wie ich in China ein Kind bekam - Ulrich Wessinger

    Das schwere Herz der Sun Lei

    Sun Lei ist eine lebenslustige junge Frau von 26 Jahren, beschäftigt in der IT- Branche in Shanghai. Sie trägt gerne sexy Sachen, kurze Röcke und schicke, leicht hochhackige Schuhe oder legere, lockere, einfache Kleidung, jedenfalls nach der Arbeit. Sie ist laut, übersprudelnd vor Energie, lacht viel und niemand würde auf den ersten Blick vermuten, dass sie einen tiefen Schmerz mit sich herum trägt.

    In ihrem Job macht sie die ersten Kundenkontakte für eine Firma, die Software-Unterstützung für Marketing, Vertrieb und Management verkauft. Ihr Boss ist amerikanischer Chinese, der vor zehn Jahren nach China kam und inzwischen seine Firma in China von 10 auf 100 Angestellte emporgezogen hat mit Niederlassungen in Beijing und Shanghai, außerdem noch mit Zweigstellen in Indien, Taiwan und Los Angeles.

    Sie arbeitet in einem Team von zehn Leuten. Während ihre Kollegen die Lage ihrer Kunden recherchieren, Kundenpräsentationen und Lösungsangebote für mögliche Probleme vorbereiten und Termine machen, ist es ihre Aufgabe, zum ersten Mal persönlich beim potentiellen Kunden zu erscheinen und wenn möglich das Servicepaket zu verkaufen. Es geht dabei um die Einführung der Software und die Begleitung der Arbeit mit ihr über einen Zeitraum von einem Jahr. Ziel ist es natürlich, ständig die Firmen zu betreuen, und mit einigen großen Firmen ist das auch schon gelungen, darunter ist sogar ein weltweit bekannter Konzern. Die Betreuung über einen Zeitraum von einem Jahr kostet zwischen 200 000 und 3 Millionen Yuan, ( zwischen 25 000 und 350 000 Euro ) je nach Größe der Firma und Umfang des Angebots. Sun Lei ist ziemlich erfolgreich mit Vertragsabschlüssen. „In kleineren Firmen läuft das meistens über Bestechung. Wir machen das nicht. Deswegen bekommen wir bei kleineren Firmen öfters Absagen. Aber das spielt auch keine Rolle. Die großen sind für uns wichtig und dass wir diesen großen Konzern als Kunden haben, macht es natürlich leichter" sagt sie. Sie arbeitet gerne in der Firma, obwohl ihr Gehalt ein bisschen besser sein könnte. Um die 8000 Yuan im Monat verdient sie, (knapp 1000 Euro ) damit ist sie allerdings weit über dem Durchschnittseinkommen in China, das in den Städten bei 2000 Yuan und in Shanghai bei 4000 Yuan liegt, aber wenn man bedenkt, welche Summen in ihrer Firma umgesetzt werden und wie wichtig ihre Arbeit dabei ist. Sie macht die ersten Verträge vor Ort …..Aber sie will nicht klagen. Manchmal leidet sie unter dem Druck, der auf ihr lastet, schließlich hängt von ihrem Erfolg eine Menge ab für ihre Firma.

    Wenn sie einem gegenübersitzt in einem legeren leichten Sommerkleid, das eher so etwas wie ein zu lang geratenes T-Shirt ist, im Sommer ist es in Shanghai sehr heiß, sieht sie aus wie eine Studentin, aber zu den Kunden geht sie natürlich wie eine Businessfrau gekleidet nach internationaler Norm, mit schwarzem Rock und Kleid oder Jackett, schwarzen hochhackigen Schuhen.

    Sie mag ihre Kollegen, Es geht lustig zu, sagt sie, „Wir verstehen uns gut, ein paar Kolleginnen sind sogar meine Freundinnen geworden". Wenn sie im Büro ist, hat sie Arbeitszeiten von 9 Uhr morgens bis um fünf, eine Mittagspause von einer halben Stunde. Seit einem halben Jahr ist jetzt in Shanghai, lebt in der Wohnung einer Freundin im Stadtzentrum, will sich aber jetzt ein eigenes Apartment suchen, weil es ein bisschen eng ist bei ihrer Freundin.

    Vorher hat sie fast zwei Jahre lang in Guangzhou, im Süden, versucht, neue Kunden zu gewinnen. Aber sie fühlte sich ziemlich einsam, weil sie ganz ohne Team auskommen musste und ganz auf sich selbst gestellt war.

    Obwohl sie jeden Monat eine ordentliche Summe ihres Gehaltes auf die Seite legen kann, bleibt nichts davon übrig, denn sie schickt alles, was übrig bleibt, nach Hause, zu ihren Eltern und ihrer Familie. Die sind um die fünfzig und stecken das Geld in eine Lebens- und eine Rentenversicherung und die Aufstockung ihres Hauses. Die Eltern zu unterstützen ist in China normal, das gehört sich so.

    Sie ist aufgewachsen in einem kleinen Dorf in der ProvinzHunan, im Süden Chinas.Das Dorf hatte 1000 Einwohner und lebte von der Landwirtschaft. Baumwolle und Reis wurden vor allem angebaut. Die Erde ist fruchtbar, das Klima günstig für tropische Früchte, Orangenbäume stehen im Garten ihrer Familie.Ein breites Lächeln erstrahlt in ihrem Gesicht und ihre Augen leuchten, wenn sie von ihrer Kindheit erzählt, wie sie mit den Eltern und ihrem Bruder zusammen die Baumwolle ernteten,danach mit einem Karren zur nächsten Sammelstelle zogen. Der Vater zog das schwere Gefährt und sie saß oben auf dem großen Haufen, Mama ging neben her und schaute, dass nichts runter fiel und dann kauften sie von dem Geld auf dem Markt ein paar Süßigkeiten.Es ist ein hügliges Land. Vor ihrem flachen einstöckigen Haus erstreckte sich ihr eignes Land leicht abfallend bis zur Dorfstraße, die einen kleinen Fluss entlangführte. Das Haus war aus Backsteinen gebaut, innen die Wände aus Holz. Hinter ihrem Haus erheben sich die Berge sanft gewellt und bewaldet. Eine hervorragende, geradezu ideale Lage des Hauses, würde ein Fengshui-Meister sagen: Geschützt von den Bergen im Rücken und vor sich der belebende Fluss.

    Dort lebten sie zusammen mit ihren Großeltern. Während die Mutter auf dem Feld arbeitete, machte der Vater kleine und größere Geschäfte. Manchmal kaufte er Kühe und führte sie mit dem Strick an der Hand in die Stadt, die eine Stunde zu Fuß entfernt lag und verkaufte sie dort auf dem Viehmarkt. Oder er handelte mit Lebensmitteln, Reis, Öl, Sojasauce…. Er muss ein geradezu genial vielseitiger Mensch gewesen sein, denn er stellte auch noch T-Shirts, Hemden und Hosen in eigener Werkstatt her. Die Familie war nicht reich, aber auch nicht arm, irgendwo dazwischen, ganz normal, wie die anderen Familien im Dorf auch.

    Im Jahre 1990 warSun Leivier Jahre alt und ging in den Kindergarten, der hinter ihrem Haus lag.Am Anfang rannte sie öfters weinend nach Hause, aber mit der Zeit gewöhnte sie sich daran.

    Die Familie hatte einen Fernseher und abends versammelten sich die Nachbarn im Haus zum Fernsehgucken. Zwölf Jahre zuvor hatteDeng Xiao Ping, der Nachfolger Maos auf dem roten Thron, seine Reform- und Öffnungspolitik durchgesetzt, die auf dem Land begann. Die Kommunen wurden aufgelöst, die Bauern bekamen Land zugeteilt, allerdings nicht zu ihrem Privatbesitz, sondern nur zur Pacht. Was sich heute als Goldgrube erweist für die Beamten in den jeweiligen Stadt-und Gemeindeverwaltungen, die das Landnutzungsrecht billig und meist mit sanftem oder grobem Druck von den Bauern aufkaufen und an Investoren verkaufen zu riesigen Gewinnspannen, in denen die Korruption blüht. Diese Immobiliengeschäfte sind die Haupteinnahmequelle der Kommunen. Dennoch war dieser Schritt wirtschaftlich ein voller Erfolg. In weniger als acht Jahren verdreifachte sich das Einkommen der Landbevölkerung. Als dann auch in den Küstenprovinzen Sonderwirtschaftszonen eingerichtet wurden, begann das chinesische Wirtschaftswunder. Man erlaubte nicht nur die Gründung privater Betriebe, sondern auch Joint Ventures mit ausländischen Firmen. Kapital und Knowhow aus aller Welt kam ins Land.

    Vor der Reform hatte vor allem die Landbevölkerung unter Hunger zu leiden, nicht die Städter. Und das nicht nur zu den fürchterlichen Hungerperioden am Ende der fünfziger Jahre, bei denen Millionen von Menschen starben, Schätzungen liegen bei 10 bis 40 Millionen Menschen.

    Bei dieser großen Hungersnot sorgte die Partei mit gewalttätigen Mitteln dafür, dass die Städter versorgt blieben und überließ die Landbewohner dem Hunger und zu einer großen Zahl auch dem Hungertod. Das hatte auch mit dem Provinzfürsten zu tun, die, um sich wichtig zu machen, immer neue Rekordernten voraus sagten und nach Beijing meldeten und die dann diese Zahlen auch einhalten mussten, wenn sie nicht ihr Gesicht verlieren wollten. Dazu kamen die Umbrüche des sozialen Zusammenhalts durch die Kollektivierung, die Abwanderung zu den Fabriken in den Städten und die Anweisung von oben, große Teile der ländlichen Bevölkerung für den Aufbau von Industrie und Verkehrswegen einzusetzen. Außerdem wurden zu Zeiten der größten Hungerkrise von der Regierung Millionen Tonnen von Getreide exportiert, bis zum Ende des Jahres 1959 waren es 4,3 Millionen Tonnen. Zum großen Teil, um damit Rüstungsgüter und Atomwaffentechnologie von der Sowjetunion einzukaufen. Dazu wird von manchen Historikern heute beschwichtigend gesagt, das seien nur etwa 2,3 Prozent der gesamten jährlichen Ernte gewesen. Aber andererseits: Wie viele Menschen hätte man mit vier Millionen Tonnen Getreide retten können?

    Jun Chang, eine der schärfsten Kritiker Maos, sagt in ihrer Biografrie des roten Kaisers, er habe aus größenwahnsinniger Geltungssucht die Industrialierung und Aufrüstung Chinas vorangepeitscht auf Kosten und auf den Knochen der Landbevölkerung, die zermahlen wurde unter den Rädern dieses „Fortschritts" .

    China hatte allerdings schon seit dem 18.Jahrhundert ständig Probleme mit der Nahrungsversorgung. Durch eine Verdoppelung der Bevölkerung schon im 18. Jahrhundert gab es einfach zu wenig bebaubares Land für zu viele Menschen. Selbst heute ist diese Lage eine ständige Gefahr. Laut Berichten der „China Daily", also einer offiziell staatlich kontrollierten Zeitung, ist auch heute noch fast ein Drittel der Kinder unter fünf Jahren in Chinas Armutsgebieten unterernährt. Das betrifft die Provinzen Guizhou, Yunnan und Qinghai, die sich im Süden und Westen befinden.

    Auch Sun Lei berichtet, dass ihre Eltern und die Leute im Dorf schon von früher Kindheit an, also seit Gründung der Volksrepublik, mit Hunger leben mussten. Manchmal mehr, manchmal weniger, aber der nagende Hunger war immer präsent. Erst in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren, also nach Maos Tod, hat sich das gebessert. Die Bevorzugung der Städte war von Anfang an eine klare politische Entscheidung der kommnistischen Führung. Da die Industrie vor allem in den Städten angesiedelt war, bekam die materielle Versorgung der Städter absolute Priorität. Diese Entscheidung hat Nachwirkungen bis heute: Ein durchschnittlicher Landmensch verdient viermal so wenig wie ein durchschnittlicher Städter. Die Armut ist auf dem Land zu Hause.

    Nach dem Kindergarten ging Sun Lei in die Dorfschule, die sich im Nachbardorf befand. Erst zu Fuß, später mit dem Fahrrad. Dort wurde noch geschlagen, ein oder zwei Mal in der Woche wurde ein Schüler mit einem Stock auf die Hand oder auf den Hintern geschlagen, Ohrfeigen gab es öfters. Manchmal auch einfach, wenn der Lehrer schlechte Laune hatte.

    Danach wechselte sie in eine höhere Schule in die Stadt. Dort wurde in den ersten Jahren noch geschlagen, zum Glück wurden die Mädchen nur angeschrien, wenn sie nicht parierten, die Jungs aber wurden auch getreten oder geohrfeigt.Je älter sie wurde, desto mehr entwickelte sie den brennenden Ehrgeiz, gute Noten zu schaffen, denn sie hatte jetzt ganz klar als Ziel vor Augen, das Dorf zu verlassen, zu studieren und sich einen guten Job in einer Großstadt im Osten, an der Küste zu besorgen, Shanghai vielleicht…Der Traum von Millionen aus den armen Gebieten im Süden und Westen des Landes. An der Küste, wo die großen Häfen sind, hatten sich die westlichen Konzerne niedergelassen, dort boomte die Industrie, dort war Wachstum, Entwicklung, dort waren glitzernde Großstädte und neue Möglichkeiten, dort war Aufstieg möglich, lockte ein freieres Leben, warteten Kinos, schicke Kleider, reiche Männer…

    Ihre Eltern unterstützten sie. Auch sie hatten diesen Traum, zumindest ihre Kinder sollten ihn erleben. Ihr Bruder ging schon mit 13 Jahren zur Armee. Das ist sehr ungewöhnlich, denn normalerweise kann man nicht vor 18 Jahren zur Armee. Aber da ihr Onkel ein hochrangiger Offizier ist, ließ sich das irgendwie arrangieren. Dort war er gut versorgt und konnte langsam die Karriereleiter empor klettern.

    Zu Hause gab es öfters Krach. Ihr Vater fuhr leicht aus der Haut, rastete aus, schrie herum, drohte mit Scheidung, wie auch ihre Mutter immer wieder an Scheidung dachte. Aber auf dem Land ließ man sich nicht so leicht scheiden. Das war eine zu ernsthafte und einschneidende Sache. Man machte so etwas einfach nicht. Sun Lei glaubt, dass ihr Vater auch deswegen so oft ausrastete, weil er sich unter Druck fühlte. Weil die Familie ihrer Mutter nur Töchter hatte, musste eine Tochter zu Hause bleiben, um sich um die Eltern zu kümmern. Diese Tochter war ihre Mutter und ein Mann, der in die Familie seiner Frau einheiratete, war in der Dorfgemeinschaft unten durch. Normalerweise zog die Frau nach der Heirat in das Haus und zur Familie ihres Mannes.

    Aber vielleicht hatten seine Krisen auch mit dem neuen Haus zu tun, das die Eltern jetzt hochzogen. Wie die anderen im Dorf mussten auch sie jetzt ein neues Haus haben. Die Lebensmittelpreise zogen an, Vaters Geschäfte liefen besser, es kam mehr Geld ins Haus. Drei Stockwerke hoch ist das Haus, das die Eltern vor zehn Jahren bauten. Die meisten alten Häuser im Dorf wurden durch drei bis vierstöckige neue ersetzt. „Das Dorf ist heute nicht mehr wieder zu erkennen sagt Sun Lei. „Vor zehn Jahren waren solche Häuser noch billig. 30 bis 40 000 Yuan (um die vier- bis fünftausend Euro ) heute kosten sie mindestens zehn Mal so viel

    Alles in China´s höheren Schulen strebt gegen Ende dem „Gaokao" zu, der landesweiten dreitägigen Prüfung, die darüber entscheidet, in welche Universität ein Schüler zugelassen werden kann. Die Universitäten unterscheiden sich in ihrem Rang, ihrer Ausstattung und ihrem Lehrangebot erheblich. Es gibt Elite-Universitäten und einen breiten Mittelbau, darunter Hochschulen, die mit deutschen Fachhochschulen oder gar Berufsschulen vergleichbar sind.

    Sie schaffte es in eine Universität, die im mittleren Bereich liegt, angesiedelt in einer großen Stadt ihrer Provinz. Dort war sie gar nicht fleißig, wie sie heute mit Bedauern gesteht. Stattdessen verbrachte sie viele Stunden mit Chatten und Computerspielen und wenn sie nicht chattete im Internet dann schwätzte sie mit ihren Freundinnen oder ging einkaufen und Federballspielen. Ihr Schwerpunkt war Tourismus-Management.Sie genoss es, weg von zu Hause zu sein, in der Stadt herum zu streichen, und neue Freundinnen zu gewinnen. Das Leben war aufregend und alle Türen schienen offen. Für die Familie war es nicht leicht, die Studiengebühren für sie aufzubringen und ihren Lebensunterhalt zu bezahlen, aber wie die meisten Familien in China alles für die Karriere ihrer Kinder tun, taten auch sie alles, um ihrer Tochter den Aufstieg zu ermöglichen. Nach vier Jahren Studium und einem Bachelor-Abschluss schnupperte sie in die Berufswelt und landete nach mehreren Versuchen bei verschiedenen Firmen in anderen Städten in Shanghai, bei ihrer heutigen Firma.

    Den Mann, der ihr das Herz brach, lernt sie vor drei Jahren im Internet kennen. Sie dachte, er ist der richtige, natürlich zum Heiraten. Er dachte es auch. Sie wollten heiraten. Er war fünf Jahre älter als sie und arbeitete in einer Regierungsabteilung, war ehrgeizig, gerade dabei, seinen Doktor zu machen. Aber dann rieten ihm seine Eltern ab, diese Frau zu heiraten. Sie hatten einen Astrologen konsultiert, der überprüfen sollte, ob sie beide entsprechend der Geburtstage zusammen passten.

    Ganz und gar nicht. Er würde sterben, sollte er diese Frau heiraten, sagten die Eltern dem geschockten Sohn. Sun Lei glaubt, dass das aber nur vorgeschoben war. In Wirklichkeit seien die Eltern nicht zufrieden gewesen mit ihrer sozialen Herkunft, ihrem bäuerlichen provinziellen Hintergrund. Die Eltern waren in den letzten Jahren zu großem Reichtum gekommen und erwarteten jetzt eine standesgemäße Tochter. Vermutlich liegt sie richtig mit ihrer Vermutung.

    Natürlich wollte der Sohn das Urteil eines zweiten Astrologen. Insgesamt sechs wurden befragt. Alle hätten dasselbe gesagt. Davon erfuhr Sun Lei aber leider erst, als sie entdeckte, dass ihr Freund und zukünftiger Ehemann eine zweite Freundin hatte. Der hatte sich nämlich schon auf Brautschau begeben, als er von den schlechten Zukunftsaussichten einer Ehe mit Sun Lei gehört hatte, ohne es ihr mitzuteilen.

    Natürlich war sie geschockt, wütend, verletzt, verwirrt, hielt aber verzweifelt fest an ihrer Beziehung. Und dann wurde sie schwanger. Auf den Knien liegend und heulend sei ihr Freund auf sie eingedrungen, das Kind abtreiben zu lassen.

    „ Manchmal vermisse ich das Kind sagt Sun Lei und muss mit den Tränen kämpfen. „Es war eine dunkle und schwere Zeit. Ein Jahr lang habe ich jede Nacht geweint. Ich habe meine große Liebe verloren, ich habe mein Kind verloren, ich war allein in Shanghai und meine Eltern weit weg, ….aber die hätten mich sicher nicht unterstützt, ein Kind ohne Mann groß zu ziehen, gilt als Schande. Das ist jetzt ein Jahr her. Der Verlust ihres Kindes und dieses Mannes, den sie schon als ihren Ehemann gesehen hatte, hat eine tiefe Wunde in ihr hinterlassen.

    Manchmal chattet sie schon wieder mit möglichen Ehekandidaten, aber sie weiß, dass sie noch mehr Zeit braucht, um die Wunde zu heilen und alles zu verarbeiten.

    „Aber in einem Jahr vielleicht sagt sie und lächelt wieder tapfer „In einem Jahr vielleicht ist es soweit, dass ich wieder heirate. Ja, in einem Jahr will ich den neuen Mann gefunden haben.

    Und wie sie das so sagt, mit dieser Zuversicht in ihrem Blick, glaubt man ihr wirklich, dass sie das auch schafft.

    Wenn man sie fragt, was sie vom politischen System und den gesellschaftlichen Verhältnissen in China hält, platzt es aus ihr heraus: „Ich hasse das System! Korruption! Ungerechtigkeit! Eine kleine Schicht von schwerreichen Bonzen und massenhaft arme Leute. Unfreiheit! Alles wird zensiert. Keine freie Presse! Sogar im Internet verschwinden ständig Informationen, man traut sich nicht, offen zu sprechen. Unterdrückung! Wenn einer den Mund aufmacht in der Öffentlichkeit, verschwindet er im Knast. Vor allem die Korruption, als in unserem Dorf ein Junge zum Militär wollte, wurde er abgelehnt, ein Kumpel von ihm, der reichere Eltern hatte, wurde angenommen, er hat ordentlich bezahlt. ( Ein Job in der Armee ist bei vielen jungen Leuten sehr begeht, besonders bei armen Leuten in der westlichen Provinzen, weil er ein festes Einkommen, eine gute Ausbildung und gute Aufstiegschancen bietet )

    Im Internet kursiert ein Witz: „Früher habe ich Tschiang Kai Scheck gehasst, weil er die Kommunisten bekämpfte, heute hasse ich Tschiang Kai Scheck, weil er Mao nicht besiegt hat.....Wenn Tschiang Kai Scheck gewonnen hätte, dann wäre China heute wie Taiwan, das wäre doch viel besser. Tschiang Kai Scheck war der große Gegenspieler Maos aus dem bürgerlichen Lager, der erst nach einem langen blutigen Bürgerkrieg von Mao besiegt wurde und dann mit seiner Armee nach Taiwan floh.

    Wie viele junge Leute, ist sie aufgebracht und verärgert über die allgemeine Unterdrückung, die die ganze Gesellschaft durchdringt. Aber man muss sie schon sehr gut kennen, damit sie das einem Fremden auch mitteilen. Trotz der Unterdrückung und wegen ihr gärt es überall im ganzen Volk. In den letzten Jahren ist es zunehmend zu Protesten, Demonstrationen und lokalen Aufständen gekommen, es wird von tausenden jährlich in ganz China berichtet. Es geht um Korruption, Betrug, Löhne, Umweltverschmutzung und Arbeitsbedingungen.

    China investiert Milliarden in Universitäten und Forschungseinrichtungen, immer breitere Schichten der Bevölkerung werden immer besser ausgebildet.Immer mehr Fremde, westliche Ideen, westliches Knowhow kommen ins Land, immer mehr junge Chinesen studieren im Ausland oder arbeiten im Ausland, Auslandschinesen kommen nach China zurück, über das Internet sind viel mehr Informationen zugänglich als der Regierung lieb sein kann, die verzweifelt immer neue Dämme baut gegen die Flut. Aber wie lange können die Dämme noch halten?

    Mao Tse Dong hatte in den sechziger Jahren die Kampagne „Lasst 1000 Blumen blühen ins Leben gerufen und öffentlich lautstark die Menschen im Land zur Kritik an der Partei, an der Staatsführung, am Gesellschaftssystem, an den allgemeinen Zuständen aufgerufen, um Verbesserungen herbeizuführen und diejenigen, die dann mit Kritik sich meldeten, wurden wenig später hart bestraft. Bis die Menschen begriffen, dass sie in eine Falle geraten waren, die ihnen bewusst gestellt worden war. „Wir locken die Schlangen aus ihren Löchern heraus, wir bieten ihnen eine Beute und schlagen dann zu soll Mao in kleinem Kreis gesagt haben. Vielleicht 5 bis 10 Prozent der Bevölkerung sei Revolutionsfeindlich, würde sich aber verstecken, diese Leute müssten ausgemerzt werden. Die Angst vor Repressalien steckt den Menschen in China tief in den Knochen und sie wissen noch nicht, ob die jetzige Blüte der relativen Freiheit eine Öffnung ist hin zu einer immer größeren Sicherheit in der Freiheit oder nur eine Scheinblüte, eine Falle, die jederzeit zuschnappen kann.

    So lange der Staat materiellen Wohlstand versprechen kann, Aufstieg und wirtschaftliches Wachstum, ist der schwelende Volkszorn zu kanalisieren und wird in Arbeit umgewandelt. Ganz China scheint zurzeit den Gott des Gelds und des materiellen Wohlstands anzubeten, dem alles geopfert wird. Und das ist zum Teil auch ganz wörtlich zu verstehen, denn viele Chinesen haben eine Statue des Geld-Gottes zu Hause oder in ihrem Geschäft. Aber wehe, der Wachstums-Motor gerät ins Stocken, eine wirtschaftliche Krise erfasst das Land. Dann hängt die Herrschaft der jetzigen Elite am seidenen Faden. Heute, 2014 deuten einige Indikatoren darauf hin, dass der heisslaufende Motor der chinesischen Wirtschaft in Turbulenzen gerät.

    In der Welt-Wirtschaftskrise 2008 hat der chinesische Staat und vor allem auch die Kommunen massiv in Infrastruktur investiert, um die chinesische Wirtschaft, die extrem exportabhängig ist, vom Absturz zu retten. Erfolgreich, aber zu einem hohen Preis: Staatlicher und kommunaler Verschuldung. Zweit Drittel der komunalen Einnahmen stammen aus dem Immobilienmarkt, denn alles Grundeigentum gehört dem Staat, der Land nicht verkauft, sondern nur die Nutzungsrechte auf Zeit verpachtet. Auf Grund der überhitzten Immobilienpreise könnte ein Absturz der Preise eine ähnlich heftige Krise auslösen wie der Absturz der überhöhten Immobilien-Preise dies in den USA getan hat 2008. Schon jetzt befinden sich einige chinesischen Kommunen am Rande der Pleite.

    Wuxi

    Als ich in China ankam, war es Winter und Schnee lag auf den kleinen, grauen, in einander verschachtelten Häusern entlang der neu gebauten breiten Hochstraße, die sich über den Kanal schwang. Die Brücke war für den öffentlichen Verkehr noch gesperrt, aber Fußgänger und Roller waren schon unterwegs auf der breiten Beton-piste. Auf der linken Seite der Trasse hatten hohe Wohnblocks schon die alten Siedlungen ersetzt, aber auf der rechten standen noch die kleinen zweistöckigen Häuschen, die in den fünfziger Jahren gebaut worden waren. Auf den Balkonen hing die Wäsche, es sah armselig und düster aus, dunkle enge Gassen verliefen zwischen den graubraunen Beton-Wänden. Die neue Straße sah aus, als habe sie eine Schneise in die Siedlung geschlagen, so dicht an ihr ragten die Mauern der alten Häuser empor. Alles machte einen etwas tristen Eindruck. Vielleicht lag es auch an dem trüben Winterwetter

    Der Himmel war milchig grau, es war kalt, ein paar Grad unter Null, die Luft roch manchmal schweflig verdorben, über dem Fluss in der Ferne lag Nebel, oder waren es Schwaden von Abgasen? Trotzdem, ich fühlte mich wohl unter meiner warmen Mütze. Auf dem Kanal unten war reger Verkehr, Kohlenschlepper zogen auf und ab in großer Zahl… Ich strich an der Straße entlang, in der ich wohnte. Ganz besonders zog mich ein Laden an, der voll war mit kleinen Backwaren, verpackt in kleine Tütchen und allerlei Naschwerk, Bonbons und Süßigkeiten. Ich staunte, keine einzige dieser vielen kleinen Kostbarkeiten hatte ich je zuvor gesehen. Wie ich überhaupt die ersten Wochen immer nur am Staunen war.

    Die Leute sahen meinen staunenden Blick und auch sie staunten, mich hier zu sehen. Weit und breit sah ich keinen anderen Menschen aus westlichen Ländern, in Wuxi waren Neuankömmlinge aus dem Westen noch eine echte Sensation und die Leute blieben stehen und schauten mich an und mir nach.Ich konnte kein Wort Chinesisch. Also schauten wir uns nur staunend an. Es waren freundliche Blicke. Ich hatte noch nie etwas davon gehört, dass Fremde in China überfallen, ausgeraubt oder betrogen worden wären. Ich erwartete nur das Beste.

    Meine Augen waren offen und vertrauensvoll. Und die Gesichter, die ich sah, flößten mir auch Vertrauen ein. Einfach, naiv, unschuldig kamen sie mir vor, offen und zugetan. Manchmal schienen sie verhärtet und verhärmt von einem harten Leben und mein staunender freundlicher Blick schien wie ein Strahl Sonne ihre Züge zu erwärmen, so dass sie lächelten und sich aufgeregt über mich unterhielten.

    Ich wohnte in einem Hochhaus im 13. Stock. Man konnte sogar die Fenster öffnen und weil die Chinesen in der Regel etwas kleiner sind als die westlichen Menschen, war auch die Brüstung ziemlich niedrig, so dass ich mich, wenn ich mich hinauslehnte, etwas schwindlig fühlte und so, als könne ich gleich hinüberkippen und hinausfallen. Unter mir dehnte sich eine Stadt aus, die ich nie zuvor gesehen hatte: Wuxi. ( Wird „U-Schi" ausgesprochen ) Kein Mensch kennt Wuxi, jedenfalls hat kein Mensch in Deutschland von Wuxi jemals etwas gehört. Und doch sollte diese Stadt ungefähr fünf bis sechs Millionen Einwohner haben, also grösser sein als die größte deutsche Stadt Berlin. Heute, sechs Jahre später, 2014, hat die Stadt sieben Millionen Einwohner, ist also in den letzten Jahren rasant gewachsen. Die Stadt liegt ungefähr 100 km westlich von Shanghai, 100 km vom Meer entfernt.

    Unter mir reihte sich ein Wohnblock an den anderen, ein riesiges Viertel war bedeckt mit dieser Reihung eines und desselben Typs von Wohnblock, der ungefähr 5 Stock hoch war. Weiter hinten stand ein mächtiger grauer Hochhausgeselle, der an russische Stalin-Architektur erinnerte, trutzig hochgereckt mit Erkern und Türmchen und einem spitzen Dach, wahrscheinlich aus der Zeit, als China rege Kontakte zur Sowjetunion pflegte. Rechterhand jenseits einer breiten vierspurigen Straße breitete sich ein altes Stadtviertel aus, kleine graue Häuschen dicht zusammen geschart und am Horizont eine Skyline von Wolkenkratzern in verschiedensten Formen silbrig glitzernd, etwas verschwommen im Dunst. Auch weiter rechts in der Ferne sah man Hochhäuser stehen, die Stadt breitete sich aus soweit das Auge reichte, ein Ende war nicht in Sicht….

    Ich fühlte mich sehr fremd und sehr weit weg von der Heimat. 12 Stunden dauert der Flug Non-stop von Frankfurt nach Shanghai. Ich war auf der anderen Seite der Erdkugel angekommen. Schon immer hatte ich mich danach gesehnt, dieses Land kennen zu lernen, seitdem ich die ersten Zeichnungen und Skulpturen aus China gesehen hatte und Schriften von Lao Zu, ganz abgesehen davon, dass mich die zunehmend aufregender werdenden Nachrichten vom wirtschaftlichen Aufstieg des alten verschlafenen Riesen neugierig machten.

    Außerdem fand ich es sehr spannend, mich so fremd zu fühlen. Nichts ist langweiliger als das Altvertraute. „Verfremdungseffekt" wird in der Literatur eine erzählerische Technik genannt, die es schafft, das Altbekannte so zu beschreiben, dass es uns sehr sonderbar, ja fremdartig vorkommt. Vieles, was uns als selbstverständlich erscheint und was wir deshalb schon völlig übersehen und gar nicht mehr wahrnehmen, wird dadurch erst bewusst gemacht. Am besten gelingt dieser Effekt natürlich, wenn der Beobachter und Berichterstatter gar nicht altvertraut ist mit seiner Umgebung, sondern völlig fremd.

    Die Grundschule

    Ich unterrichtete in einer kleinen deutschen internationalen Grund-Schule, die einmal eine große werden und dann bis zum Abitur führen sollte. Als ich den Leiter der Schule, Professor S., noch in Deutschland bei einem Vorstellungsgespräch kennenlernte, stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass erstens der Mann kein richtiger Professor war sondern nur ein „chinesischer" , d.h. er hatte den Titel sich zukommen lassen bei Geschäften mit einer chinesischen Hochschule und zweitens die Schule nur 12 Kinder hatte. Die Schule war erst vor einem Jahr gegründet worden und außerdem gab es nicht so viele Deutsche in Wuxi mit Kindern, und die meisten, so stelle ich später fest, hielten nicht so viel von der kleinen Schule und schickten ihre Kinder lieber in eine große etablierte internationale Schule in Wuxi. Weil jeder Zögling in der deutschen Schule um die 1000 Euro im Monat zu bezahlen hatte und die wenigen Lehrer mit bescheidenen chinesischen Gehältern abgespeist wurden, war das gar kein schlechtes Geschäft. Neben der kleinen Schule hatte Herr S.auch Ausbildungsprogramme an mehreren chinesischen, technisch ausgerichteten Hochschulen eingerichtet, die Abschlüsse in Fächern wie Betriebswirtschaft und Marketing anboten und von deutschen Lehrern betreut wurden. Er verkaufte das deutsche duale Ausbildungssystem, eigentlich eine gute Idee weil es so etwas in China noch gar nicht gab, also die systematische Verbindung von Schule und Ausbildungspraxis in Betrieben. Das Problem bei seinem Geschäft war allerdings die chinesische Bürokratie und die damit verbundene Korruption...

    Meine Bezahlung war mager und betrug umgerechnet ungefähr 500 E, aber ich hatte einen Rückflugticket bekommen und ein kleines Apartment frei und meine Begierde, nach China zu kommen, war einfach zu groß, weshalb ich klaglos akzeptierte und außerdem waren diese 5000 Yuan eine ganze Menge Geld. Zum Lebensunterhalt brauchte ich nur um die 2000, meine Miete war ja schon bezahlt. Mein Vertrag erstreckte sich über ein halbes Jahr. Es sollte ein kurzer Besuch werden. Mein Job war nicht nur das Unterrichten, sondern als Journalist auch Öffentlichkeitsarbeit. Deshalb nahm mich der Professor schon am dritten Tag meines Aufenthaltes mit zu einem wichtigen Essen mit Vertretern der hiesigen Erziehungsbehörde. Es ging um die Lizenz und die Mietkosten für die Räume der Schule. Sie war in einer neugebauten chinesischen Grundschule untergebracht und lag am Rande der Stadt, jedenfalls weit entfernt vom Zentrum. Ein Stadtrand war allerdings wie bei allen Städten in China nicht so klar festzustellen, die Stadt wucherte in alle Richtungen hin ins Land hinaus aus.

    Das Essen fand Sonntagabend in einem etwas schmuddelig wirkenden koreanischen Restaurant jenseits der großen neugebauten Brücke statt. Eine ganze Reihe von Chinesen saßen mir gegenüber, darunter auch ein paar Frauen mittleren Alters. Wir hatten einen eigenen Raum für uns und saßen am Boden, was in vielen koreanischen Restaurants üblich ist. In dem fensterlosen Raum war es dunkel und roch leicht modrig. Professor S. saß dem ranghöchsten der chinesischen Delegation gegenüber, neben ihm seine chinesische Assistentin, eine junge hübsche Frau, die für ihn übersetzte. Der ganze Tisch war voll mit kleinen Schüsseln, großen Platten und Töpfen mit allerlei Fleisch-sorten, Gemüse, Suppen, Nudeln, Reis und deren Gemisch und immer wieder wurden neue Gerichte hereingetragen. Wichtig schien das sich Zu-Prosten zu sein, denn immer wieder wurde angestoßen, man erhob sich dazu manchmal freudig, manchmal wurden kurze Reden gehalten von Prof. S. und dem Leiter der Behörde, von Freundschaft und deutsch-chinesischer Zusammenarbeit war die Rede, man rief „Gambei!" aus, stieß an und trank. In kleinen Gläschen füllte man sich immer wieder Reisschnaps ein, aber auch Wein war im Angebot und Bier. Das Essen war vom Professor bezahlt und natürlich war es üppig. Geradezu böse wurden die Chinesen, als sie feststellten, dass ich nach dem Anstoßen mein Gläschen nicht auf einen Zug austrank. Sie machten mir ernsthaft deutlich, dass das aber gar nicht erlaubt sei und kontrollierten daraufhin bei jedem weiteren Anstoßen meinen Getränkepegel im Gläschen.

    Der Reisschnaps, den ich nie zuvor getrunken hatte, schmeckte faulig bitter, leicht süßlich und da ich normalerweise überhaupt keinen Alkohol trinke, war er mir gerade zu zuwider, aber um meinen Mitessern eine Freude zu machen, trank ich ein paar der Gläser leer, bevor ich wieder dazu überging, nur am Gläschen zu nippen. Das wurde aber sofort als übles Vergehen moniert und reihum heftig laut beanstandet. Ich ließ mich davon aber nicht beirren und blieb dabei, was man schließlich wiederwillig und mit ständigem Meckern durchgehen ließ. Der Reisschnaps ist in der Regel ziemlich hochprozentig im Alkoholgehalt, um die 30 bis 40 Prozent. Nach ein bis zwei Stunden waren alle mehr oder weniger betrunken. Besonders der Professor trompetete immer lauter herum und schien ganz überschwänglich in der lautstark gefeierten und mit Bier und Wein begossenen Freundschaft mit dem Leiter der Behörde. Etwas später wankte der Professor zur Toilette und kam kreidebleich wieder zurück, vermutlich hatte er sich übergeben.

    Die Frau mir gegenüber war recht hübsch und ich fragte mich manchmal, ob ihr offenes Lachen und der funkelnde Blick, mit dem sie mich des öfteren ansah, eine Einladung war, aber ich sprach kein Chinesisch und sie nur wenig Englisch, so dass wir uns wenig verständigen konnten.

    Später gegen Abend sagte der Professor, dass jetzt alle nach Hause gehen sollten, bis auf ein paar der wichtigsten Männer der Behörde und mir, denn jetzt, so hatte er es vorher angedeutet, stand der zweite Teil der Zeremonie auf dem Plan: Käufliche Mädchen sollten kommen. Also erhoben sich die anderen Chinesen und Chinesinnen und entfernten sich recht schnell und ohne Murren und der Professor schaute etwas ungehalten und verdutzt auf Frau Büttel aus Bremen, meine künftige Kollegin, die ebenfalls blieb, obwohl sie jetzt eigentlich nicht mehr erwünscht war. Aber sie wusste, was jetzt auf dem Plan stand, sie war schon über zwei Jahre in China und kannte die Gepflogenheiten und gerade deswegen, um ihrem Boss die Suppe zu versalzen und weil sie das Ganze unmoralisch und widerlich fand, blieb sie sitzen. Frau Büttel blieb und das Gespräch zwischen den noch verbliebenen Männern schleppte sich dahin, nicht nur der Professor, auch der Behördenleiter, ein ziemlich junger Mann, hatte des öfteren die Toilette aufgesucht und war aschfahl im Gesicht, es wurde noch mehr

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