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Das Spiel
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eBook328 Seiten5 Stunden

Das Spiel

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Über dieses E-Book

"Du denkst, du weißt alles. Doch dann musst du erkenne, dass du gar nichts weißt. Nichts über die Welt, nichts über dich selbst, nichts über diesen Fall. Und am wenigsten weißt du über die unendlichen Tiefen des Bösen."

Shane und sein Team werden zu einem Fall mit mehreren vermissten Mädchen hinzugezogen. Kurz darauf taucht die erste Leiche auf. Shane muss herausfinden, dass er Teil eines grausamen Spieles auf Leben und Tod ist. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, denn nur einer kann dieses Spiel gewinnen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum7. Aug. 2018
ISBN9783742726605
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    Buchvorschau

    Das Spiel - I.M.M McCorn

    1.

    Das Spiel

    Unerwartet trifft das Böse ein

    Lässt dich bangen, weinen, schreien

    Lässt dich zittern, beten, flehen

    Umklammert dich,

    Und will nicht gehen

    Er entdeckt sie, als er zufällig die Straße entlangfuhr. Mit dem Schulranzen am Rücken geht sie mit ihrer Mutter den Weg entlang. Eine blonde Haarsträhne hat sich aus ihrem Zopf gelöst und wippt bei jedem Schritt auf und ab. Automatisch tritt er sofort auf die Bremse. Langsam rollt er an ihnen vorbei, gerade in dem Moment, als sie zu einem Haus abbiegen. Heute muss sein Glückstag sein. Da entdeckt er dieses hübsche Ding und ohne sie lange beobachten zu müssen, findet er gleich heraus, wo sie wohnt. Und wie um die Perfektion noch abzurunden, befindet sich das Haus in der Perfekten Lagen. Ein langer Vorgarten bringt die richtige Entfernung zu den Nachbarn. Die Bäume, die man hinter dem Haus erkennen kann, lassen ihn darauf hoffen, dass sich hinter dem Haus nur ein kleiner Wald befinden und das nächste Haus erst in einem größeren Abstand. Er wendet an der nächsten Straßenecke, und fährt noch einmal langsam zurück, um sich die Hausnummer einzuprägen. Er würde später wieder zurückkehren, um den idealen Platz zu suchen. Dann würde er sehen, ob sie wirklich so perfekt ist, wie es auf den ersten Blick erscheint.

    Als er am späten Abend wiederkommt, lässt er das Auto ein paar Straßen weiter stehen. Er trägt einen bodenlangen schwarzen Mantel, einen dunklen Hut und schwarze Lederhandschuhe. Am Weg zum Haus achtet er darauf, dass er immer im Schatten der Straßenlaterne geht. Der Mond scheint nicht, es ist also eine sehr gute Nacht für sein Vorhaben. Er entdeckt, dass er sich leicht durch die Hecke zur hinteren Seite des Hauses schleichen kann. Dort findet er einen guten Platz, von wo aus er direkt ins Wohnzimmer der ausgewählten Familie blicken kann. Rund um das Haus sind einige hohe Bäume, wie er erfreut feststellt. Sie würden sich für sein Vorhaben hervorragend eignen. Er zieht ein Fernglas aus seiner Tasche, um besser sehen zu können, was im Wohnzimmer passiert. Zwei Kinder sitzen auf der Couch, die schräg zum Fenster steht. Es ist das blonde Mädchen, dass er heute entdeckt hat und, wie er annimmt, ihre ältere Schwester. Das ältere Mädchen geht hinaus und kommt kurz darauf mit einer Schüssel in der Hand, gefolgt von ihrer Mutter, wieder herein. Mit freudiger Erregung schnappt er nach Luft. Wie konnte er denken, dass ihre jüngere Schwester perfekt sei? Jetzt, wo er das ältere Mädchen mit ihrer Mutter sieht, kann er diesen Gedanken nicht mehr nachvollziehen. Sie sieht aus wie ein Engel, das perfekte Ebenbild ihrer Mutter. Die blonden Locken noch schöner, das Gesicht noch reiner, noch zarter, als das ihrer Schwester. Vorsichtig zieht er eine Kamera hervor, die er unter seiner Jacke versteckt hat. Er macht einige Fotos, bevor er sich zurückzieht. Er muss sich zwingen wegzugehen. Am liebsten würde er sie noch heute Nacht holen. Einfach aus dem Bett stehlen. Aber das passt nicht zu seinen Plänen. Er hatte einiges vor und mit diesem Mädchen würde es ein großer Spaß werden. Auf dem Weg zurück zu seinem Auto lächelt er verträumt vor sich hin. Er würde sammeln müssen. Andere Mädchen. Dinge, die er für sein Spiel brauchte. Er würde alles vorbereiten. Aber schon bald, ganz bald würde er zurückkehren und sie holen. Und dann endlich konnte er sein Spiel beginnen. Ein neues Spiel, ein besseres Spiel.

    „Shane? Marten steckt den Kopf herein. „Wir haben einen Fall. Vermisste Mädchen, alle blond und dasselbe Entführungsmuster.

    „Sag den Anderen Bescheid. Besprechung in fünf Minuten", murmelt Shane, ohne den Kopf zu heben. Erst als Marten die Tür wieder geschlossen hat, legt er das Diktiergerät, das er in der Hand hält, zur Seite. Die Stimme eines Monsters, das er gestern mit McGee befragt hatte, ist darauf zu hören. Eigentlich eine schöne Stimme, die so ruhig spricht, als würde sie eine Gute-Nacht –Geschichte erzählen. Wenn man nur auf den Klang der Stimme hört, würde man nicht vermuten, dass er erzählt, wie erregend er es fand, drei Menschen zu töten. Shane blickt auf das weggelegte Tonband und atmet tief ein. Nun ist es also soweit. Die Befragungen in geschlossenen, gesicherten Räumen sind vorbei. Er muss wieder auf die Jagd gehen, um ein weiteres Monster zu finden. Das erste Mal, seit seiner Auszeit. Das erste Mal, seit der Katastrophe, die ihn zu Fall brachte. Doch er ist wieder aufgestanden, auch wenn es ihn viel Mühe gekostet hat. Eine Auszeit, fernab von all den grausamen Mördern. Er ist wieder zu Kräften gekommen, doch erst mit dem neuen Fall wird feststellen, ob er wirklich stark genug ist. Wird er wieder fallen? Eine Frage, die er sich nicht erlauben darf. Eine Frage, die auch die Anderen nicht stellen, auch wenn ihre Blicke oft besorgt wirken. Er blickt auf die Uhr und klopft nervös mit den Fingern auf die Akte, die vor ihm liegt. Eine detaillierte Beschreibung all der Grausamkeiten, die das Monster angestellt hat, bevor es gefasst wurde. Daneben liegt das Tonband, auf dem er alles geschildert hatte. Nun soll er ein Gutachten darüber erstellen, seine Psyche erforschen, herausfinden, wie man das nächste Monster schneller fassen kann. Er atmet tief durch, wirft einen letzten Blick auf die geschlossene Akte, bevor er sie endgültig zur Seite legt. Dieser Fall muss warten, das Monster ist bereits hinter Gitter, die Menschen vor ihm sicher. Nun muss er sich wieder jenen zuwenden, die noch da draußen sind. Langsam steht er auf und begibt sich in den kleinen Seminarraum, indem sie ihre Besprechungen abhalten. Macey, Marten und Carol sind bereits da. Marten lehnt lässig im Sessel, die Beine überschlagen, als würde er auf ein gemütliches Kaffeekränzchen warten. Carol und Macey sitzen hingegen kerzengerade und sehr angespannt am Tisch. Carol und Macey, zwei Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Carol mit ihrem langen, perfekt geföhnten blonden Haar, immer sehr bedacht auf ihr Äußeres. Macey trägt ihr schwarzes Haar in einem Kurzhaarschnitt. Make-up verwendet sie so gut wie nie. Trotzdem verstehen sich die zwei gut und unterhalten sich auch jetzt in einem leisen Flüsterton.

    „Der Neue und Sanders kommen gleich, klärt Marten Shane auf, der sich ebenfalls auf einen Sessel setzt. Shane hebt eine Augenbraue und wirft Marten einen missbilligenden Blick zu. Obwohl McGee seit einem halben Jahr dabei ist, wird er immer noch „der Neue genannt, wenn von ihm gesprochen wird. Eine Eigenheit des Teams, die Shane nicht schätzt. Erneut kehrt Stille ein. Die Anspannung ist deutlich spürbar, keiner weiß, was sie erwarten wird. Wie schlimm es dieses Mal sein wird. Mit Schwung wir die Tür aufgerissen und Sanders betritt mit McGee den Raum. McGee setzt sich, Sanders bleibt vor der Leinwand stehen. Er tippt am Laptop, schon werden die Bilder der Mädchen auf die Leinwand projiziert.

    „Wir haben drei vermisste Mädchen, alle blond. Alle Entführungen weisen dasselbe Muster. Die Mädchen wurden immer am Heimweg entführt und jedes Mal wurde ein Schuh zurückgelassen. Außer den Schuhen gibt es bisher keinerlei Hinweise. Keine Erpressung, keine Drohbriefe, keine Lösegeld Forderung und auch keine Leichen."

    „Danke Sanders. Ohne Bestätigung des Gegenteiles, gehen wir davon, aus, dass die Mädchen leben. Umso dringender ist es, dass wir sie finden. Abreise in 30 Minuten."

    Ohne weitere Erklärungen steht Shane auf und verlässt den Raum. Die Lippen fest aufeinander gepresst steuert er sein Büro an. Es sind Kinder. Wieder. Fälle mit Kindern sind die schlimmste. Jeder ihrer Fälle ist schlimm, jeder grausam, aber wenn Kinder die Opfer sind, sind es die Schlimmsten. Shane hofft, das ihm niemand etwas angesehen hat. Aber er ist bei den Fotos innerlich zusammengezuckt. Vielleicht, weil er jugendliche Mädchen erwartet hatte, vielleicht aber auch, weil er noch nicht so weit ist. Vielleicht ist es aber auch wegen seinem Bauchgefühl, diese ungute Vorahnung, dass er erneut an seine Grenzen stoßen wird.

    Wenn eine Frage im Raum steht und diese heißt, was ist wirklich wichtig? Wie wirst du sie beantworten? Und wie schnell wirst du diese Antwort finden? Wird die Antwort lauten Gesundheit, Liebe, Glück oder gar Geld? Manche wissen die Antwort schneller, manche langsamer, und die meisten zögern. Sie müssen erst nachdenken. Es ist schon eine komische Eigenschaft des Menschen, dass er die Frage mit absoluter Sicherheit und mit großer Geschwindigkeit so oft erst dann beantworten kann, wenn er im Begriff ist, das Wichtigste zu verlieren.

    Anne stellt sich an jedem heißen Sommertag diese Frage. Ist es ein Zufall oder doch eine innere Vorahnung, dass ausgerechtet an diesem Sommertag diese Frage durch ihren Kopf huscht, beinahe so, als würde sie jemand anderer stellen. Sie hatte sich noch nie irgendwelche Gedanken über ihr Leben gemacht. Noch nie gedacht, dass sie Glück hätte. Bis jetzt war einfach alles selbstverständlich. Alles lief genauso ab, wie es sich gehörte. Schule, Universität, Hochzeit, Kinder. Sie hatte eigentlich keine Kinder in ihrem Leben geplant, aber es gehörte sich nun mal, also ließ sie sich von ihrem Mann zu zwei überreden. Obwohl ihre beiden Mädchen nicht zu ihrer ursprünglichen Lebensplanung gehörten, liebt sie sie heiß und innig. Sie spricht zwar nie darüber, aber tief in ihrem Inneren ist sie ihrem Mann dankbar für seinen Kinderwunsch. Trotzdem schwanken an diesem Tag, als diese eine Frage leise durch ihren Kopf huscht, ihre Gedanken als erstes in Richtung Beruf. Was sollte sie bloß ohne ihre Arbeit anfangen? Den ganzen Tag Hausfrau sein? Das wäre ganz bestimmt nichts für sie.

    Man könnte es Ironie des Schicksals nennen, dass sie sich zwar vorstellen kann, ihre Arbeit zu verlieren und sie der Gedanke so fesselt, dass sie nicht ein einziges Mal daran denkt, dass ihr weitaus Schlimmeres widerfahren könnte. Aber an das Schlimmste will niemand denken, das Schlimmste sind immer nur Dinge, die Anderen passieren, und so schickt sie ihre Tochter Sarah zu ihrer Freundin. Sie ruft ihr noch einmal nach, dass sie um 19 Uhr wieder zuhause sein muss und schließt dann aufatmend die Tür. Debbie wurde bereits von ihrer Patentante abgeholt, ihr Mann ist am frühen Morgen zur Arbeit gefahren, und sie, Anne, würde nun einen wunderbaren freien Tag genießen. Wieder schleicht sich die leise Frage ein, was wirklich wichtig ist, doch Anne schiebt den Gedanken beiseite. Wer will sich schon mit philosophischem Kram beschäftigen, wenn man diesen wundervollen Tag genießen kann. Vielleicht hätte sie sich damit beschäftigt, wenn sie gewusst hätte, dass das Wichtigste gerade durch diese Tür gegangen ist, und sie sich schon bald fragen muss, ob es wieder zurückkehren wird. Doch Anne ahnt nichts Schlimmes. Da ist keine Vorahnung, kein Instinkt. Sie will sich einfach nur im Garten entspannen, sich von der Sonne bescheinen lassen, lesen und wenn es ihr zu heiß wird, in den Pool hüpfen. In diesem Moment zählt einfach nur das, weil Wichtiges beiseitegeschoben wird. Wer will schon an Schlimmes denken, wenn der Tag so schön ist? Alles Schlechte ist weit fern, und doch ist es, ohne dass es bemerkt wurde, schon so nah. So zieht ihr freier Nachmittag an Anne vorbei, ohne dass sie sich noch einmal Gedanken über irgendetwas macht, das wichtig sein soll. Als sie um 18 Uhr auf die Uhr blickt, gönnt sie sich noch eine kurze Abkühlung im Pool, bevor sie sich ihre nassen Badesachen auszieht und in trockene Kleidung schlüpft. Kaum hat sie den Gürtel ihres gelben Sommerkleides geschlossen, kommt ihr Mann zur Tür herein. Er begrüßt sie mit einem Kuss auf den Mund und fragt: Wie war dein freier Tag?

    „ Nicht besonders aufregend. Ich hatte endlich mal wieder Zeit für ein gutes Buch. Du glaubst ja gar nicht, wie ruhig es hier ist, wenn die Kinder nicht da sind. Du kannst die Ruhe noch kurz genießen, sie kommen beide gegen sieben nachhause."

    Neckisch legt Adam die Arme um seine Frau und flüstert: Ich wüsste etwas, womit wir die Ruhe stören könnten.

    Doch Anne stößt ihn zur Seite und meint abweisend: Nicht jetzt Adam, ich muss noch kochen. Außerdem wäre meine Schwester kaum erfreut, wenn sie hereinkommt, und wir sind hier nackt.

    „Das würde sie schon überleben."

    „Und deine Tochter?"

    „Also gut, du hast gewonnen, wir verschieben das auf später."

    Lächelnd küsst Anne ihn auf den Mund und lockert seine Krawatte. „Dann freu dich auf später. Jetzt kannst du ja zur Abkühlung noch in den Pool springen. Ich mach mich mal an das Abendessen. Ich habe Sarah gesagt, wir essen um sieben. Ich hoffe wirklich, sie kommt nicht wieder zu spät."

    Kaum fünf Minuten später stürmt Debbie gefolgt von ihrer Tante herein. Anne nimmt die beiden in Empfang und wirft Adam, der gerade mit nasser Badehose durch die Terrassentür tritt, einen „Ich-habs-dir-doch-gesagt-Blick zu. Marry entgeht der Blick keineswegs und sie flüstert ihrer Schwester leise zu: Bitte sag mir, dass hier nichts Schweinisches gelaufen ist. Und falls doch, sag mir wo, damit ich mich auf keinen Fall dorthin setze."

    „Er ist erst seit fünf Minuten zuhause, also keine Sorge. Adam, trockne dich doch ab, du tropfst hier alles voll! Bleibst du zum Essen, Marry?"

    „Kommt darauf an, was es gibt?"

    „Immer noch die Vorsichtige? Keine Sorge, keine Tomaten und keinen Kürbis. Also nichts allzu gesundes und den Salat musst du ja nicht essen."

    „Dann würde ich sagen, ich riskier es und bleibe zum Essen."

    Das fröhliche hin und her Geplänkel läuft weiter. Eine ganz normale Familie, die noch nicht ahnt, dass das Grauen schon vor der Tür steht und in nur wenigen Minuten das ganze Haus verseuchen wird. Könnte man die Zeit anhalten, hätte sie jemand gestoppt? Genau in diesem Moment? Obwohl die Familie noch nicht vollständig ist? Obwohl bereits eine Person fehlt, ohne dass es bemerkt wurde?

    Ohne auf die Zeit zu achten, wird fertig gekocht, der Tisch gedeckt und sich immer wieder geneckt. Bis Anne aufblickt und es bereits 15 Minuten nach sieben ist. Ärgerlich schüttelt sie den Kopf und murmelt: Also, das wird wohl nichts mit dem Badeausflug nächste Woche.

    Adam will sie beruhigen: Ach, sei doch nicht so streng, bestimmt hat sie nur die Zeit übersehen.

    „Ja, und beim nächsten Mal kommt sie um acht Uhr und dann es ist nur eine Stunde, und in ihrer Jugend kommt sie nur ein bisschen betrunken nachhause und hat die Drogen nur ein bisschen probiert. Und im besten Fall wird sie noch ein bisschen schwanger. Nein, es wird Zeit, dass sie lernt, sich an die Regeln zu halten. Sieh mich nicht so an, Adam, du weißt, dass ich Recht habe. Cindy wohnt nur fünf Minuten entfernt, da kann man erwarten, dass sie pünktlich ist."

    Adam und Marry werfen sich wissende Blicke zu. Anne regt sich immer schnell auf, lässt sich aber meistens genauso schnell wieder beruhigen und minimiert die Strafe meist auf Geschirrspüler ein- oder ausräumen. Fröhlich geht das familiäre Treiben weiter. Bis fünf Minuten später Anne ärgerlich aufsteht und meint: So, das reicht, ich rufe jetzt Sandra an, sie soll sie sofort nachhause schicken. Sie geht aus dem Zimmer, um zu telefonieren. Sie ist ungewohnt nervös. Ihr Mutterinstinkt flüstert ihr zu, dass da etwas nicht stimmt. Doch sie schiebt ihn beiseite. Sie will auf Sarah wütend sein und sie schimpfen. Daran zu denken ist viel einfacher, ist um so vieles weniger schmerzhaft, als der Gedanke daran, dass etwas passiert sein könnte.

    Es klingelt nur zweimal am anderen Ende, da hebt auch schon Cindys Mutter Sandra ab.

    „Hallo Anne, hat Sarah wieder etwas vergessen?" , erklingt die fröhliche Stimme von Sandra

    „Hallo Sandra, nein, ich wollte dich gerade bitten, sie nachhause zu schicken. Sie ist schon 20 Minuten zu spät und wir wollen endlich essen," meint Anne mit einer leicht genervten Stimme.

    Dann sagt Sandra diesen Satz, der alles Verdrängen und ein Beiseiteschieben dieses einen Mutterinstinktes, dieser kleinen Stimme, die flüstert, dass da etwas nicht stimmt, nicht mehr möglich macht.

    „Sie ist bereits vor fast einer Stunde weggegangen."

    Anne stockt der Atem. Ihr Herz wird so schnell von der eisernen Faust der Angst umklammert, dass sie es nicht mehr schafft ordentlich Luft zu holen. „Sie ist…sie ist…was?", stottert sie, nicht fähig, einen vollständigen Satz zu sprechen.

    „Sie ist schon um halb sieben losgegangen. Sie wollte unbedingt noch ihre Tante treffen, um ihr irgendetwas zu erzählen. Ist sie denn noch nicht bei euch?"

    „Nein, sie ist….nein..."

    „Bist du dir ganz sicher? Hat sie sich auch nicht heimlich in ihr Zimmer geschlichen?", fragt Sandra.

    „Ich merke doch, ob meine Tochter zuhause ist!", ruft Anne aufgebracht.

    „Natürlich. Hör mal, atme erst mal tief durch. Das lässt sich bestimmt leicht aufklären. Ich frag Cindy, ob sie vielleicht noch irgendwo anders hin wollte. Ich ruf dich dann zurück."

    Anne legt ihr Handy zur Seite. Kurz starrt sie darauf, dann dreht sie sich mit einem Ruck um und läuft nach oben. Vielleicht ist sie wirklich in ihrem Zimmer. Hat sich heimlich hineingeschlichen, während Anne im Garten lag. Es wäre eine so leichte, so wunderbare Erklärung für alles. Es würde die Angst die sich langsam in Annes Herz schleicht, wieder auslöschen. Doch das Zimmer ist leer. Und die Angst, die so leise schleicht, beginnt in immer schnellerem Tempo zu wachsen. Nach einem kurzen Blick rennt Anne wieder nach unten zu den Anderen. Sie sitzen alle am Esstisch. Sie sind noch so frei, so fröhlich. Sie haben noch keine Ahnung, von der Angst, die sie gleich empfinden werden. Und wie groß diese Angst noch werden würde, liegt außerhalb ihrer Vorstellungskraft und auch noch in weiter Ferne von Annes Vorstellung. Es ist eine eiserne Faust die sie bereits jetzt umfangen hält, aber sie hat keine Ahnung, wie fest diese Faust zupacken wird. Sie hat noch keine Vorstellung davon, wie weit eine Angst wachsen kann. Anne will Adam packen, ihn anschreien, mit ihm losstürmen, um ihre Tochter zu suchen. Doch Debbie ist auch im Raum. Vor ihr kann sie die Angst nicht zeigen. Ein Kind kann diese Angst nicht ertragen und sie würde sie von ihr fernhalten. Ein mutiger Vorsatz einer liebenden Mutter, der sich nicht erfüllen lässt. Niemand kann das Grauen namens Angst fernhalten, wenn es alles verseucht und alles mit ihren schwarzen Klauen packt. Nicht einmal eine Mutter vor ihrem Kind.

    Sie gibt ihrem Mann ein Zeichen, dass er ihr folgen soll. Adam blickt etwas verwirrt, steht jedoch auf und folgt ihr. Als er den Raum verlässt, hört er noch Debbie ihrer Tante zuflüstern: „ Oh je, dass sieht aber mächtig nach Ärger aus."

    Adam überlegt kurz, was Sarah wohl angestellt haben muss, wenn Anne ihn aus dem Zimmer holt, um darüber zu sprechen. Doch dann blickt er in Annes Augen, die ihn voller Angst ansehen. Sie hat eine ganz intensive blaue Augenfarbe, die immer voller Leben funkeln, ihn immer freudig anstrahlen. Heute jedoch sind sie, als hätte sie jemand erstarren lassen. Sie funkeln nicht, sie glänzen nicht, sie sind einfach nur voller Angst auf ihn gerichtet.

    „Anne?", flüstert er fragend.

    „Sie ist nicht dort, ", antwortet sie leise. Hätte Adam nicht gesehen, dass sie ihren Mund bewegt, würde er denken, dass jemand anders gesprochen hat. Diese verzerrte Stimme konnte unmöglich von seiner Frau stammen.

    „Wie meinst du da? Sie ist nicht dort?" Adam will eine Antwort, die ihm sagt, dass seine Tochter gleich heimkommt. Die ihm sagt, dass sie irgendetwas angestellt hat. Er will, dass seine Frau wütend ist. Er will, dass sie schimpft, und ihn nicht mit diesen erstarrten Augen anblickt und mit dieser angstverzerrten Stimme spricht.

    „Bei Cindy, sie ist nicht dort."

    „Dann ist sie auf dem Weg?" Eine einfache Frage, die einen Ausweg bietet. Eine einfache Erklärung, die diese groteske Situation, in der sie sich befinden, wieder auflösen wird. Die Adam daran hindert, an etwas Schlimmes zu denken. Doch Anne macht diesen Hoffnungsschimmer zunichte.

    „Sie ist schon seit fast einer Stunde nicht mehr bei Cindy. Adam, wir müssen sie suchen! Was, wenn sie hingefallen ist? Vielleicht hat sie sich verletzt." Anne umklammert verzweifelt Adams Arm. Sie spricht mit leiser Stimme, und doch ist es als würde sie schreien. Jedes einzelne Wort schneidet sich in Adams Herz. Die Tür hinter ihnen wird geöffnet und Marry betritt den Raum.

    „Sagt mal, was ist eigentlich los?"

    Doch bevor ihr jemand antworten kann, zerreißt das Schrillen von Annes Handy die kurze Stille. Als Anne rangeht erklingt sofort Sandras aufgeregte Stimme: Cindy sagt, dass Sarah nachhause wollte. Sie wollte unbedingt mit Marry etwas wegen einem Jungen besprechen. Sie kann sich nicht vorstellen, dass sie irgendwo anders hin ist. Wir haben überlegt, ob sie vielleicht einen Umweg über den Spielplatz gemacht hat, und dort jemanden getroffen hat. Sam ist gleich los gegangen, um nachzusehen. Ich lasse Cindy bei ihrer Oma, und gehe auch gleich los, auf dem direkten Weg zu euch. Wir treffen uns dann bei euch.

    Anne schafft es nicht zu antworten. Sie öffnet den Mund, aber es kommen keine Laute heraus. Die eiserne Faust um ihr Herz wird immer fester.

    „Anne? Bist du noch dran?"

    Anne räuspert sich und endlich kommt ein leises, beinahe gehauchtes „Ja" aus ihrem Mund.

    „Hör mir gut zu. Versuch ruhig zu bleibe. Ich bin mir ganz sicher, dass sich das alles aufklären wird. Wir werden sie ganz bestimmt finden. Du wirst kurz mit ihr schimpfen und morgen schon lachen wir darüber."

    Schimpfen? Sie würde ihre Tochter doch nicht schimpfen! Sie würde sie einfach nur festhalten und nie wieder loslassen.

    Anne stammelt noch ein paar Worte, dann nimmt ihr Adam das Handy aus der Hand und lässt sich von Sandra noch mal alles sagen. Marry, die inzwischen von Adam über die Situation aufgeklärt wurde, legt ihren Arm um Anne. Adam legt das Handy zur Seite und dreht sich wieder zu ihrnen um Mit leiser, zitternder Stimme sagt er: „Sam und Sandra suchen von ihrer Seite, ich gehe von hier los und wir treffen uns in der Mitte. Du bleibst am besten hier und wartest, ob sie zurückkommt."

    „Hier bleiben? Ich kann doch nicht hierbleiben! Mein Kind braucht mich!", ruft Anne aufgebracht und schüttelt Marrys Hand von ihren Schultern.

    „Jemand muss aber hier sein, falls sie zurückkommt. Wenn wir draußen suchen und sie kommt nachhause und keiner ist da. Außerdem können wir Debbie nicht alleine hierlassen."

    „Ich bin ja da, unterbricht Marry die beiden, die anscheinend vergessen haben, dass auch sie hier ist. Jetzt geht schon und sucht Sarah."

    Marry drückt Anne ihr Handy in die Hand, erinnert Adam an seines, schon sind die beiden zur Tür hinaus. Sie sind lange verheiratet, sie verstehen sich ohne Worte. So müssen sie nicht absprechen, welchen Weg sie nehmen. Anne nimmt automatisch die direkte Strecke, während Adam die längere Strecke abgeht, die am Spielplatz vorbeiführt. Immer wieder rufen beide Sarahs Namen. Sie hören manchmal das Echo des Anderen, doch dieses verstummt mit der Zeit, je weiter sie sich voneinander entfernen. Adam läuft den ganzen Weg. Er ist zu aufgeregt, um ruhig zu gehen. Irgendwo ist seine Tochter und braucht ihn. Immer wieder redet er sich ein, dass sie hinter dem nächsten Baum hervorspringt oder hinter der nächsten Hausecke steht. Ist wirklich erst so wenig Zeit vergangen? Sind es nicht Stunden oder gar Jahre, die zwischen dem Gespräch im Wohnzimmer und jetzt liegen? Die Zeit rinnt dahin und bleibt doch stehen. In seinem Kopf hört Adam die Zeit laufen. „Tik tak, tik tak, tik tak." Und trotzdem zieht sich jede Sekunde, als wären es Tage.

    In der Ferne erblickt er Sam, der ebenfalls laut nach Sarah ruft. Er möchte ihm gerade zurufen, als er den kleinen Gegenstand erblickt, der ihm die Hoffnung, dass sich alles im Guten auflösen wird mit einem Schlag raubt. Sam beginnt sofort zu Adam zu laufen. Will Adam fragen, was los. Doch Adam hört ihn nicht. Er muss einen Schrei ausgestoßen haben, ohne es zu bemerken. Ein Schrei, der nicht nur der Ruf nach seinem Kind ist, sondern das Entsetzen über den entdeckten Gegenstand ausdrückt. Wieso sonst wäre Sam plötzlich zu ihm gerannt, wieso sonst würde er fragen was los ist? Sam schüttelt Adam, um ihn auf sich aufmerksam zu machen.

    „Was ist los Adam? Adam? Jetzt sag doch etwas!"

    Adam starrt ihn an, als hätte er gerade erst wahrgenommen, dass Sam bei ihm steht. Leise flüstert er: Das da, das ist ihr Schuh. Das ist der Schuh meiner Kleinen.

    Sam lenkt seinen Blick in die Richtung in die Adam zeigt. Ein pinker Schuh, mit weißen Schnürsenkel und einem kleinen Schmetterlingsanhänger, liegt auf einem Grasstück neben dem Weg. Er liegt einfach so da, als hätte ihn jemand zufällig dorthin gelegt, und doch erkennt man, dass er etwas Schlimmes verbirgt. „Bist du dir sicher? Könnte es nicht von jemand anderem sein?", fragt er zaghaft nach.

    „Sie hat sie ganz neu. Erst letzte Woche hat sie sie bekommen. Und den kleinen Schmetterling, der da am Schnürsenkel hängt, habe ich ihr geschenkt." Keiner von ihnen traut sich zu bewegen oder gar den Schuh zu berühren. Nach dem Schrei scheint Adam verstummt zu sein. Die kalte eiserne Faust die ihn festhält, umklammert ihn immer mehr. Die Angst zieht sich von seinen Zehen bis in die Haarspitze und wächst darüber hinaus. Es gibt keine Möglichkeit mehr wütend zu sein. Es gibt keine Hoffnung mehr, dass sein Kind irgendwo hinter der nächsten Hausecke steht. Es gibt nur noch die Angst. Und die erdrückende Gewissheit, dass etwas Schreckliches passiert sein muss.

    Anne geht zur gleichen Zeit nach ihrer Tochter rufend die andere Wegstrecke ab. Gerade erst hat sie Sandra getroffen, die vorschlug, zu Annes Haus zurückzugehen. Anne jedoch möchte zuerst den ganzen Weg selbst abgehen. Ein Klingeln reißt sie aus den Gedanken. Es ist dieses eine Klingeln, auf das man so sehr wartet, und das man doch nicht hören möchte, weil eine innere Stimme einem zuflüstert, dass es schlechte Nachrichten sind. Es ist dieser eine Zwiespalt zwischen der Hoffnung, etwas Gutes zu hören, und der Angst vor etwas Schlechtem. Anne zieht ihr Handy heraus und blickt auf das Display. Das Gesicht von Adam leuchtet ihr entgegen. Fröhlich lächelnd. Hat er wirklich so gelächelt? Wie ist es möglich, in so kurzer Zeit zu vergessen, dass man jemals glücklich war? Wie soll man diese eine Stimme ertragen, die fragt, ob er jemals wieder so lächeln wird?

    Leise, kaum hörbar, meldet sich Anne.

    „Adam?"

    Adams Stimme klingt eigenartig. Sie ist ruhig, zugleich aufgewühlt, laut und doch leise.

    „Ist Sandra schon bei dir?"

    „Sie steht neben mir."

    „Gut. Versuch, dich nicht allzu sehr aufzuregen. Aber Sam holt gerade die Polizei, wir haben…."

    „Ihr tut was?", unterbricht ihn Anne aufgeregt.

    „Wir holen die Polizei. Anne, Liebling,

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