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Der Buchhalter: Eine Geschichte aus der Wendezeit
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eBook288 Seiten3 Stunden

Der Buchhalter: Eine Geschichte aus der Wendezeit

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Über dieses E-Book

Ein ehemals "volkseigener" Betrieb, eine große Schraubenfabrik, soll privatisiert werden. Ein Schweizer Unternehmensberater bewirbt sich bei der Treuhananstalt und erreicht durch diverse Tricks, dass ihm das große Unternehmen übereignet wird.Dann fliessen die riesigen Fördergelder, mit deren Hilfe das in 40 Jahren sozialistischer Planwirtschaft völlig heruntergewirtschaftete Werk saniert und wettbewerbsfähig gemacht werden soll. Der "Privatisierer" aber hat es von Anfang an darauf abgesehen, einen großen Teil der staatlichen Subventionen für sich privat abzuzweigen. Er bereichert sich durch betrügerische Scheingeschäfte und überhöhte Abrechnungen auf skrupellose Weise.
Der ehemalige stellvertretende Hauptbuchhalter, der den vielen Entlassungen bisher entgangen ist, entdeckt die betrügerischen Manipulationen und beschließt, die vielen unterschlagenen Millionen dem Betrüger wieder abzunehmen. Dabei beschreitet er abenteuerliche Wege und kommt selbst auf die schiefe Bahn.
Die spannende Handlung entwickelt sich bis zum zwangsläufigen Höhepunkt.DDR-Nostalgie steht westlicher Geschäftemacherei gegenüber.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum22. Nov. 2012
ISBN9783844239294
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    Buchvorschau

    Der Buchhalter - Gerhard Haustein

    Impressum

    Der Buchhalter - Eine Geschichte aus der Wendezeit

    Gerhard Haustein

    Published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

    Copyright: © 2012 Gerhard Haustein

    ISBN: 978-3-8442-3929-4

    Vorbemerkung

    Selten in der Geschichte Deutschlands gab es Gelegenheiten wie diese, schnell und fast risikolos, große Vermögen zu machen.

    Eine der reichsten Nationen der Erde sah sich vor der Aufgabe, eine nach 40 Jahren sozialistischer Planwirtschaft wirtschaftlich zurückgebliebene Region, die ihr nach vierzigjähriger Trennung wieder zugefallen war, zu integrieren und ihre etwa 12000 Betriebe auf den neuesten Stand westlicher Technik und Betriebswirtschaft zu bringen. Alles musste aus politischen Gründen, nach Ansicht der herrschenden Regierung, so schnell wie möglich gehen. Jährlich wurden für die Sanierung der maroden Betriebe bis zu 150 Milliarden ausgegeben. Zunächst hatte man die Hoffnung, dass mit dieser überaus großzügigen Anschubfinanzierung nach den Gesetzen der Marktwirtschaft sehr schnell moderne, konkurrenzfähige Unternehmen entstehen würden. Im Laufe des Jahres 1990 stellte sich jedoch bald heraus, dass die Betriebe alle in einem viel katastrophaleren Zustand waren, als es sich irgendjemand in Westdeutschland vorstellen konnte.

    Dennoch wurden die Milliarden weiter ausgeschüttet, in der puren Verzweiflung, dass man keinen besseren Weg wusste. Für eine vernünftige Planung der Aufwendungen und Investitionen sowie für die normalerweise übliche Prüfung und Kontrolle war kaum Zeit. Die Milliarden wurden quasi nach dem Gießkannenprinzip über die Region ausgegossen. Aktionismus war die Parole.

    Kein Wunder, dass viele Milliarden auf unfruchtbaren Boden fielen oder von trickreichen Geschäftemachern oder Betrügern abgefangen wurden, bevor sie den Boden, für den sie bestimmt waren, überhaupt erreichten.

    Erstes Hauptstück : Der Buchhalter

    Selbstmord

    Die Revolution in der DDR war unblutig verlaufen. Ein Wunder! Niemand innerhalb der Staatsführung, der Parteiführung und des Staatssicherheits-dienstes hatte es gewagt, den Schießbefehl zu geben. Natürlich hatte man sich mit den Genossen in der Sowjetunion abgestimmt. Dort herrschten Glasnost und Perestroika, man wusste dort, dass der Sozialismus gescheitert war. Gorbatschow hatte bei seinem letzten Besuch in Berlin gesagt: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.

    Wenn die Revolution auch ohne Gewalt und öffentliches Blutvergießen abgelaufen war, so spielten sich doch im persönlichen und privaten Bereich viele Dramen ab. Viele Funktionäre des Regimes sahen für sich keine Zukunft mehr oder hatten Angst vor Rache oder waren einfach verzweifelt wegen des Zusammenbruchs ihres Lebensgebäudes und brachten sich um. Aber auch einfache Menschen, die keinerlei Schuld auf sich geladen hatten, verzweifelten und machten ihrem Leben ein Ende.

    Bruno Handtke stand in seinem Keller auf dem Werkstattisch. Er hatte eine Schlinge um den Hals. Es war eine Ziehschlinge und das andere Ende des starken Seils war mit doppeltem Knoten über ihm an dem Eisenträger, der unterhalb der Kellerdecke verlief, festgebunden. Er hatte sich so weit an den Tischrand gestellt, dass er den Tisch mit einem Stoß seiner Füße umwerfen konnte. Sein Entschluss stand fest. Gestern war er entlassen worden. Die Schraubenfabrik hatte keine Arbeit mehr für ihn. Insgesamt waren seit der Wende mehr als 4000 Kollegen und Kolleginnen freigesetzt worden. Für ihn war die Schraubenfabrik das ganze Leben. Mit 15 hatte er vor 40 Jahren als Lehrling in der Schlosserei angefangen und hatte dann viele Jahre an einer Drehbank gearbeitet. Bis zum Vorarbeiter hatte er es gebracht. Seine Gruppe hatte immer das von der Partei vorgegebene Soll übererfüllt. Als einer derSchraubenfabriker war er in der ganzen Stadt anerkannt und geachtet. Jetzt war das Alles zu Ende. Aber der Verlust seines Arbeitsplatzes war eigentlich nur der ausschlaggebende Schlusspunkt nach vielen Verlusten und Enttäuschungen.

    Viel schlimmer war der Zusammenbruch des Sozialismus, seiner Weltanschauung. Er hatte keine andere Weltanschauung, keine Religion oder Philosophie. Jeder Mensch braucht Etwas, woran er sich klammern kann in dem Auf und Ab seiner Lebensgeschichte. Die Religion, nach deren Glaubenssätzen sich die Mehrheit der Menschen in der Welt ausrichtet, hatte man ihm genommen. Die DDR-Führung wollte, ebenso wie alle anderen sozialistischen Gesellschafts-ordnungen, keine Religion, die war ihnen lästig oder sogar gefährlich. Die Leute sollten an den Sozialismus glauben, das genügte. Man berief sich auf Hegel und Marx und machte die Religion lächerlich.

    Aber da war noch was Anderes. Sein Intimleben stimmte nicht mehr. Er war immer ein glücklicher und treuer Ehemann gewesen. Seine Herta gab ihm Alles, was er auf diesem Sektor brauchte. Das hatte sich seit einiger Zeit geändert. Seine Frau übte keine Anziehung mehr auf ihn aus, er hatte keine Lust mehr nach ihr. Manchmal versuchte er noch, das alte Feuer in sich zu entfachen, aber er merkte, dass auch seine Frau nicht mehr bei der Sache war. Also ließ er es ganz und lebte über lange Strecken wie ein Mönch. Damit war ein wichtiger Teil seiner Lebensfreude, vielleicht sogar der Wichtigste, weg-gefallen. Also, wofür lebte er noch? Seine drei Kinder waren schon seit Langem aus dem Haus und gingen ihre eigenen Wege, ab und zu ließen sie sich anstandshalber bei ihren Eltern blicken, aber mehr war auch nicht.

    Nun kam seit etwa einem Jahr noch Etwas dazu, womit er überhaupt nicht fertig wurde: Er konnte nicht mehr richtig Wasser lassen, seine Prostata hatte sich vergrößert. Wohl oder übel hatte er sich der Vorsorgeuntersuchung unterzogen. Der Urologe hatte auf „hinterlistige" Weise seine Prostata abge-tastet und ihm eröffnet, dass sie so groß sei wie ein Apfel. Eigentlich sollte sie nur Walnussgröße haben. Der große Apfel drückte seine Harnröhre zusammen, so dass der Urin nicht mehr richtig aus der Blase abfließen konnte. Seine Blase wurde niemals richtig leer. Daraus folgte dann das häufige nächtliche Aufstehen, um wenigstens den Überdruck loszuwerden. Der Arzt hatte ihm gesagt, dass er das nicht auf die leichte Schulter nehmen dürfe, weil sich möglicherweise der Urin bis hinauf in die Nieren stauen könnte und dann käme es zu einer gefährlichen Nierenentzündung. Also musste er sich operieren lassen. Der Arzt meinte zwar, dass eine solche Operation nichts Besonderes sei und erklärte ihm, wie der Urologe den größten Teil der Prostata durch die Harnröhre entfernen würde. Vorher würde ein Katheder in die Harnröhre gelegt, damit der Urin abfließen könnte. Er habe schließlich keinen Prostatakrebs und die kleine Operation würde ihn anschließend in keiner Weise beeinträchtigen. Die sexuellen Funktionen blieben erhalten und auch der Schließmuskel würde nicht verletzt. Natürlich wären auch schon Komplikationen aufgetreten, das könne man bei einer Operation ja nie ausschließen. Deshalb müsste er vor der Operation eine Erklärung unterschreiben, dass man ihn über etwaige Risiken aufgeklärt habe.

    Das Alles würde er nicht mitmachen. Die Vorstellung allein ließ ihn fast verrückt werden. Da wollte er sich lieber umbringen. Was war denn auch so schlimm daran, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Sterben musste man sowieso, irgendwann musste man das über sich ergehen lassen, und das Sterben konnte ganz schön schlimm sein. Mit einer doppelseitigen Lungenentzündung etwa, tagelang unter stärksten Schmerzen nach dem bisschen Luft ringen oder vielleicht jahrelang nach einem Schlaganfall total von anderen Menschen abhängig zu sein. Was war denn so schlimm an der kurzen Spanne, die ihn vom Tod trennte. Er hatte sich für den Strick entschieden. Das würde nicht viel länger als eine Minute dauern, dann wäre es vorbei. Natürlich wäre der Moment des Absprungs und das Bewusstsein, dass dieser Entschluss nicht mehr rückgängig zu machen sei, entsetzlich. Auch der Kampf des Körpers gegen den totalen Luftmangel würde schlimm sein. Aber er war davon überzeugt, dass das Ganze nur eine Minute dauern würde.

    Er dachte noch einmal an seine Frau und seine Kinder, dann stieß er mit seinen Füßen den Tisch um. Er zappelte tatsächlich nur etwa eine Minute.

    Damit hatte die „Privatisierung der Schraubenfabrik Gera, ehemals volkseigener Betrieb „ Clara Zetkin ihr erstes Opfer.

    Seit der große und für die Versorgung des Ostblocks mit Schrauben und Fittings so wichtige Betrieb durch die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten praktisch überflüssig geworden war, hatte man die Produktion um 90% heruntergefahren, jeden Tag wurden Entlassungen vorge-nommen. Seitdem hing der Betrieb am Tropf der Berliner Treuhandanstalt, die sich die „Privatisierung" der sanierungs-würdigen Betriebe der ehemaligen DDR zum Ziel gesetzt hatte. Ein notdürftiger Erhalt des Unternehmens war nur möglich durch die laufende Zuführung von Betriebsmitteln durch diese Treuhandanstalt, die durch das Bundesfinanzministerium finanziert wurde. Man war darauf eingestellt, die einzelnen Betriebe am Leben zu erhalten, so lange, bis man Jemanden gefunden hätte, der bereit war, das Unternehmen auf privater Basis zu übernehmen und wettbewerbsfähig zu machen.

    Hans Egger war nach einigen fehlgeschlagenen Privatisierungsversuchen als der große Retter aufgetaucht und hatte das Unternehmen übernommen. Seine ersten Schritte waren weitere Entlassungen.

    Ralf Baumann, der ehemalige stellvertretende Hauptbuchhalter, war nicht entlassen worden, weil er noch gebraucht wurde.

    Ralf Baumann

    Ralf Baumann war ein unauffälliger Mann. Er lebte seit seiner Geburt in Gera, dieser schönen Stadt in Thüringen. Im vorigen Jahr hatte er seinen 50. Geburtstag gefeiert. Er war immer noch ziemlich glücklich verheiratet. Seine beiden Töchter, Karin und Kerstin, 18 und 19 Jahre alt, studierten an der Uni Leipzig. Karin studierte Jura, Kerstin Biologie. Sie wohnten in den Semesterferien noch zuhause, obwohl beide einen festen Freund hatten. Ralf Baumann war 1,72 m groß, nicht sehr kräftig, aber in guter körperlicher Verfassung. Seit einigen Jahren kämpft er mit einem Bauchansatz, die Haare waren ihm zum großen Teil schon zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr ausgegangen. Sein Gesicht war geprägt von einem Leben, in dem Fleiß, Ausdauer, Beherrschung und Zurückhaltung die Hauptrolle gespielt hatten. Der energische Mund mit den sinnlichen Lippen sprach von Ehrgeiz, aber auch von Genussfähigkeit. Seine braunen Augen strahlten Ruhe und Sicherheit aus. Er hätte gerne ein markanteres, männlicheres Gesicht gehabt, ein Gesicht, das die Frauen fasziniert. Auch wäre er gern größer und stattlicher gewesen. Das war ihm leider nicht gegeben. So musste er sich damit abfinden, dass ihm die Mädchen nicht nachliefen, konnte aber doch feststellen, dass Intelligenz und beruflicher Erfolg, die ihm sehr bald Macht und Einfluss über andere Menschen gaben, ebenfalls von Frauen geschätzt wurden. Seine Hauptcharaktereigenschaften waren Gründlichkeit und Ausdauer. Im Übrigen legte er Wert darauf, unauffällig zu sein, alle Angeberei war ihm verhasst.

    Nachdem er Schule und FDJ hinter sich gebracht hatte, ohne weder im positiven noch im negativen Sinne besonders aufgefallen zu sein, entschied er sich für das Studium der Betriebswirtschaft, das in der DDR „Rechnungsführung und Statistik" hieß. Gelehrt wurden hauptsächlich Buchführung, Bilanzierung, Kosten-und Planungsrechnung. Daneben waren natürlich Marxismus-Leninismus und andere ideologische Fächer obligatorisch. Da die DDR-Wirtschaft eine zentral geleitete Staats-und Verwaltungswirtschaft war, brauchte man gutausgebildete Fachleute auf dem Gebiet des Planungs-und Rechnungswesens. Die staatlich gelenkte Wirtschaft versorgte die eigene Bevölkerung mit Waren und Dienstleistungen, daneben fand mit den anderen sozialistischen Staaten ein lebhafter Austausch statt. Gleichzeitig musste der Staatshaushalt durch direkte Abschöpfung aus den volkseigenen Betrieben finanziert werden.

    All das erforderte ein straff organisiertes und funktionierendes Planungs-Abrechnungs-und Kontrollwesen. Die Planung lief in den Ministerien für die einzelnen Branchen und Industriezweige zusammen. Die staatlichen Wirtschaftspläne mussten in den einzelnen Betrieben durchgeführt werden. Entscheidungen wurden im Zentralkomitee der SED getroffen und über die Parteiorgane an die Bezirks-und Kreisebenen und von dort aus in die Betriebe weitergeleitet. Dort lag die Verantwortung bei dem Betriebsdirektor und dem Hauptbuchhalter. Beide waren immer in erster Linie Parteikader. Bei ihnen lag ein wesentlicher Teil der Macht im Betrieb. Der Hauptbuchhalter war verantwortlich für die Soll-Erfüllung. Er musste täglich überwachen, ob die Produktion die Planungsvorgaben seitens des Ministeriums erfüllte. Deshalb wurde er durch die übergeordneten Parteiorgane nicht so sehr unter dem Gesichtspunkt der Fachkenntnis, als unter dem der absoluten Linientreue ausgewählt.

    Eigentlicher Fachmann für das betriebliche Planungs-und Rechnungswesen war deshalb der stellvertretende Hauptbuchhalter. Er lieferte dem Hauptbuchhalter die Daten, die sich aus dem betrieblichen Rechnungswesen ergaben. Er war der Fachmann für die Ermittlung der betrieblichen Ist-Zahlen, wie sie durch die Buchhaltung und die Kostenrechnung laufend erfasst wurden. Das Unternehmen war mit Robotron-Hardware und-Software ausgestattet. Robotron war der Elektronikkonzern der DDR. Er hinkte zwar immer hinter den technischen Entwicklungen der westlichen und fernöstlichen Computerindustrie her, aber seine Computer und seine Software reichten aus für die Bedürfnisse der DDR-Wirtschaft. Robotron lieferte gewissermaßen Elektronische Daten-verarbeitung für den Hausgebrauch. Der stellvertretende Hauptbuchhalter musste sich in der Robotron-Elektronik auskennen.

    Die Buchhaltung erfasst, vereinfacht gesagt, alle Einnahmen und Ausgaben, die im Laufe einer Abrechnungsperiode, etwa einem Jahr, anfallen. Sie ordnet die Zahlen der Einnahmenseite und der Ausgabenseite nach sinnvollen Kriterien, sie kann so zum Beispiel das Anlagevermögen, also Gebäude, Maschinen etc.erfassen und verwalten, ebenso den Eingang, Abgang und Bestand von Materialien, die für den Produktionsprozess benötigt werden, sowie die Forderungen, die sich gegenüber Kunden ergeben und die Verbindlichkeiten, die gegenüber Lieferanten bestehen.

    Die Kostenrechnung erfasst und verwaltet alle Kosten, die für den Produktionsprozess anfallen und ermittelt die Kosten pro Kostenstelle, etwa der einzelnen Maschinen, die bei der Fertigung zum Einsatz kommen oder die Materialkosten, die in den einzelnen Fertigungsstufen anfallen. Die Kostenrechnung erfasst aber auch die Kosten je Kostenträger, d.h. für die einzelnen Produkte, die halbfertig in der Produktion lagern oder die fertig im Verkaufslager liegen oder die bereits verkauft sind.

    Mit Hilfe der Buchhaltung und der Kostenrechnung kann also die Unternehmensleitung laufend den gesamten Produktions-prozess kontrollieren und so jederzeit lenkend in alle Prozesse eingreifen. Die Buchhaltung liefert der Unternehmensleitung, der Geschäftsführung, alle Daten, die für das Management notwendig sind. Am Jahresende ergibt sich aus der Buchhaltung durch Vergleich des Vermögens am Anfang und am Ende des Geschäftsjahres der Jahresgewinn oder -verlust. Eine gutorganisierte Buchhaltung liefert in Verbindung mit der Kostenrechnung auch die kurzfristigen Ergebnisse des Produktionsprozesses, etwa monatlich oder vierteljährlich.

    Für all das ist der Hauptbuchhalter verantwortlich. Da er aber in der sozialistischen Planwirtschaft und in einer Ein-Parteien- Diktatur den Kopf voll hat mit den Problemen der Planerfüllung und der Rechtfertigung gegenüber den Ministerien und der Partei, ist er in hohem Maße von seinem stellvertretenden Hauptbuchhalter abhängig, der sich im betrieblichen Rechnungswesen besser auskennt als er.

    In einer marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaftsordnung kommen die Zahlen, die von Buchhaltung und Kostenrechnung verarbeitet und auswertet werden, vom Markt. Das Unter-nehmen muss am freien Markt einkaufen und am freien Markt verkaufen. Der Jahresgewinn oder -verlust zeigt, wie erfolgreich das Management am Markt operiert hat. Ganz anders ist das in einer staatlich gelenkten, zentralen Planwirtschaft. Hier gibt es keinen Markt, der der Buchhaltung und der Kostenrechnung die Zahlen liefert. Die Zahlen, die im betrieblichen Rechnungswesen erfasst und verarbeitet werden, stammen aus den Plänen der Ministerien, es sind Planzahlen und Verrechnungspreise. Die betrieblichen Buchhaltungen und Kostenrechnungen arbeiten ausschließlich mit diesen Planzahlen und können das Unternehmensergebnis am Jahresende nur als Differenz zwischen Soll-und Ist-Größen ermitteln.

    Die Fachleute für das betriebliche Rechnungswesen, die an den Universitäten der DDR ausgebildet wurden, lernten in dem Fachbereich Rechnungsführung und Statistik zunächst einmal, warum der Sozialismus die bessere Gesellschaftsordnung ist, dann erfuhren sie, warum die zentrale Planwirtschaft der freien Marktwirtschaft überlegen ist und dass die Planwirtschaft der Bevölkerung ein besseres Leben geben kann, schließlich lernten sie auch noch, wie man mit den Instrumenten des Rechnungswesens und der Statistik dafür sorgen kann, dass die staatlichen Wirtschaftspläne erfüllt oder möglichst übererfüllt würden.

    Aus dieser Schule kam Ralf Baumann, der stellvertretende Hauptbuchhalter.

    Ralf Baumann hatte nach seinem Studium in verschiedenen Betrieben im Bereich des Rechnungswesens gearbeitet und es schließlich im VEB Schraubenfabrik Clara Zetkin, der wiederum zum Kombinat „Schrauben und Fittings" gehörte, zum stellvertretenden Hauptbuchhalter gebracht.

    In dem VEB fühlte er sich wohl. Er hatte nette Kollegen und unproblematische Mitarbeiter. Zwar war ihm, als kritischem Geist, klar, dass ein VEB, also ein „Volkseigener Betrieb" keineswegs dem Volk gehörte. Ausschließlich die SED, die Staatspartei, bestimmte über Wohl und Wehe aller Betriebe in der DDR.

    Ihm war schon lange aufgefallen, dass die Namen umso mehr von schönen Adjektiven verbrämt waren, je weniger sie von diesen Eigenschaften wirklich erfüllt waren. Das fing schon mit der Deutschen Demokratischen Republik an. Demokratisch war sein Land bestimmt nicht. Auch die Jugendorganisation hieß ja FDJ, Freie Deutsche Jugend, aber die Mitgliedschaft war keinesfalls freiwillig, sie war für jeden jungen Menschen praktisch Pflicht, wenn er nicht von Allem ausgeschlossen sein wollte und auf seine weiteren Ausbildungschancen wie z.B. Universitätszugang verzichten wollte.

    So verbrachte Ralf Baumann seine Zeit in der FDJ, hielt seinen Mund und machte mit. Natürlich machte es auch Spaß mit dazuzugehören, kein Außenseiter zu sein. Alle seine Schul-freunde waren natürlich auch in der FDJ. Am Vormittag war man in der Schule zusammen, an Nachmittagen trat man häufig gemeinsam zum Dienst bei der FDJ an. Die verschiedenen Gruppen hatten einen strammen Gruppenleiter, der die Autorität der SED hinter sich hatte. Aber die Heimabende mit Singen und Spielen, die Freizeitaktivitäten, die Geländespiele, waren doch sehr schön.

    Am 9.November 1989 war dann die Mauer gefallen und am 3.Oktober 1990 war die DDR der Bundesrepublik Deutschland beigetreten. Alle Menschen der ehemaligen DDR verloren zunächst den Boden unter den Füßen. Vor allem wurde die berufliche Existenz für fast Jeden in Frage gestellt. Der größte Teil der Menschen war in einem volkseigenen Betrieb beschäftigt gewesen. Was würde nun aus diesen, meist in der Substanz veralteten und ausschließlich für das sozialistische Lager produzierenden Betrieben, werden?

    Ralf Baumann blieb nach der sogenannten Wende zunächst auf seinem Posten, da seine Kenntnis aller betrieblichen Bereiche bei der Aufstellung der D-Mark-Eröffnungsbilanz dringend benötigt wurde, zumal der Hauptbuchhalter, als Parteimensch, auf Veranlassung der Treuhandanstalt sofort entlassen worden war.

    Die DM-Eröffnungsbilanz wurde durch ein spezielles Gesetz eingeführt. Die letzte Bilanz der volkseigenen Betriebe war natürlich nach den Gesetzen der DDR aufgestellt worden. Die Bewertung der Vermögensgegenstände und Schulden der Betriebe waren in den Bilanzen in Mark der DDR aufgeführt und ergaben sich aus der 40-jährigen Bewertungspraxis der sozialistischen Planwirtschaft. Wollte man wissen, inwieweit diese Bewertungen den Bilanzgesetzen der Bundesrepublik Deutschland, der die DDR ja beigetreten war, entsprachen, so musste man jeden einzelnen Bilanzposten auf der Aktivseite und der Passivseite der Bilanz neu bewerten und zwar nach den Regeln des westdeutschen Handelsgesetzbuches. Aufgrund dieser Neubewertung ergab sich die DM-Eröffnungsbilanz zum 1.7.1990. Auf dieser Bilanz aufbauend, sollten dann die jeweiligen Jahresbilanzen fortgeführt werden.

    Zunächst aber ergab sich für die meisten ehemaligen volkseigenen Betriebe ein Schock: viele Betriebe waren aufgrund der neuen realistischen Bewertung total überschuldet. So war es auch bei den Schraubenwerken, bei denen Ralf Baumann als stellvertretender Hauptbuchhalter beschäftigt war. Er hatte den westdeutschen Wirtschafts-prüfern, die mit der Erstellung und Testierung der DM-Eröffnungsbilanzen beauftragt waren, durch seine Kenntnis der DDR-Bilanzen wertvolle Dienste geleistet.

    Auf der Basis der DM-Eröffnungsbilanz konnte die Treuhandanstalt nun über das weitere Schicksal der Unternehmen entscheiden. Viele Betriebe wurden liquidiert, weil nach den vorliegenden Zahlen und den Berechnungen der Treuhandanstalt keine Aussicht für das Unternehmen bestand, in absehbarer Zeit wettbewerbsfähig zu werden. Andere Unternehmen wurden als privatisierungsfähig eingestuft und damit in die Gruppe von Unternehmen eingereiht, für die der deutsche Staat alle erdenklichen Mittel bereitgestellt hatte, um das Unternehmen und damit die Arbeitsplätze wettbewerbsfähig zu machen und damit zu erhalten. Die Treuhandanstalt wandelte die meisten dieser Unternehmen in eine GmbH um und begann damit, den sogenannten Privatisierer zu suchen.

    Im Laufe der Bemühungen zur Privatisierung der Schraubenfabrik, die inzwischen auch in eine GmbH umgewandelt worden war, wurden auch die verschiedenen Bereiche des Rechnungswesens neu besetzt .Die Wahl für den Posten des Hauptbuchhalters fiel nicht auf Ralf Baumann. So kam es, dass er schließlich in der Kontokorrentbuchhaltung für die Führung der Lieferantenkonten verantwortlich war. Für ihn als bilanzsicherer Buchhalter und Fachmann für die Kostenrechnung war diese einfache Tätigkeit eigentlich eine Beleidigung, andererseits musste er froh sein, dass er nicht zu den vielen Entlassenen gehörte.

    Über seinen Tisch liefen alle eingehenden Rechnungen über gelieferte Roh-Hilfs-und Betriebsstoffe,

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