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Der Landesvater
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eBook586 Seiten8 Stunden

Der Landesvater

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Über dieses E-Book

Ein Jahr aus dem Leben eines deutschen Landesvaters. Es geht um Macht, Intrigen, Betrug, Abhängigkeiten, Süchte und Mord. Bei den sonst so kühlen Nordlichtern tobt der Wahnsinn zwischen Drogenexzessen und Machtgier. Es geht längst nicht mehr um das Geld, das sich mit illegalen Waffenschiebereien machen lässt, auch Frauen sind kein Thema mehr - der Wähler sowieso nicht. Der einzige Antrieb scheint die Frage zu sein, wie weit man gehen kann, ob es noch irgendwelche Grenzen gibt auf dieser Welt … Und so kommt ein irrwitziger Plan zur Ausführung der Tod, Leid und Gespenster der Vergangenheit hervorbringt, die sich zu erheben drohen. Schließlich kommt auch noch die Staatsanwaltschaft ins Spiel - natürlich aus politischen Gründen, denn das Recht ist nicht nur in Bananenrepubliken biegsam. All dies stemmt der Landesvater mit immer höheren Dosen eines Antidepressivums, das ihn zusammen mit Alkohol und exotischen Naturdrogen wie eine Dampfwalze zwischen Wahn und Wirklichkeit herumrasen lässt. Wenn alles auf dem Spiel steht, ist ein abgegebenes Ehrenwort ein geringer Preis - und einen Politiker, der beim Lügen rot wird, sucht man wohl überall vergebens.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum8. Nov. 2017
ISBN9783743976313
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    Buchvorschau

    Der Landesvater - Frank Johann Hansen

    Der Liegestuhl

    Carl Bendix konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal in seinem Liegestuhl gelegen hatte, ganz entspannt mitten auf dem Rasen im Park hinter dem Haus, den See vor Augen, die freie Zeit genießend, die Gedanken wandern lassend, den Alltag einmal anders in den Blick nehmend, über Gott und die Welt, die Menschen, das Leben mit all seinen Facetten nachdenkend, den eigenen Horizont ein Stückchen erweiternd … Das war, bevor er Landesvater wurde. Er liebte diesen Gartenliegestuhl, den er vor über zwanzig Jahren selbst gebaut hatte. Er war heute noch stolz darauf. Was hatte er doch geträumt und gesponnen in diesem Möbelstück, Bücher gelesen und das Universum mit den Händen an sich gezogen.

    Aber das war einmal. Er hatte seinen Kopf schon lange nicht mehr für sich allein. Trotz aller Bequemlichkeit dieses Liegestuhls und dessen Gabe, ihn in Träume zu entführen, ging ihm ein Zeitungsartikel nicht aus dem Sinn … Wieder dieser Schmierfink, dachte er. Er hasste Journalisten und speziell diesen. Lästig wie Schmeißfliegen, immer an einem dran und fühlen sich superwichtig mit ihren Geschichten über die Affären dieser Welt. Ungestraft durften sie ihn als skrupellosen Selbstdarsteller beschimpfen und behaupten, in seiner eigenen Staatskanzlei würde hinter vorgehaltener Hand über ihn getratscht, er umgebe sich nur mit Schwachköpfen, die ihm nicht gewachsen seien.

    Nachdenklich blickte er auf seine Füße. War er denn wirklich so unbeliebt in seiner eigenen Behörde und draußen bei den Menschen? An Misserfolgen hätten selbst seine politischen Weggefährten klammheimliche Freude. Man würde ihn fallen lassen wie eine heiße Kartoffel und sich von ihm abwenden, das wusste er nur zu gut. Wie schafften es bloß die Heerscharen von erfolglosen und unfähigen Politikerkollegen, dass sie trotzdem beliebt waren und immer wieder gewählt wurden? Darunter solche, die sich gern als Vorreiter einer neuen Moral im Miteinander aufspielten, obwohl sie mit Bilanzfälschern und gierigen Vorständen verbandelt waren. Politik und Wirtschaft hielten sich gegenseitig die Steigbügel und das Volk bekam das, was es verdiente: einen Strick um den Hals, an dem kräftig gezogen wurde. Man konnte es sich heute leisten, frei über den Verfall der traditionellen Moral in Wirtschaft und Politik zu sprechen und zu schreiben, als sei es das Normalste auf der Welt. Was Wunder, wenn das Unrechtsbewusstsein im Volke völlig flöten ging.

    Bendix ertappte sich dabei, wie er sich heimlich umsah. War er nicht früher selbst einmal nahe an dem Ideal von Kant gewesen? Was war nur daraus geworden?

    Es kam ungewohnte innerliche Freude, sogar Heiterkeit in ihm auf, als er auf den See sah. Er musste daran denken, wie sie manchmal seine Bewacher austricksten, wenn er heimlich zu dem See hinunterschlich, wo sein Fahrer Karlfriedrich mit einer Jolle auf ihn wartete, und sie nach einem Schluck aus der Pulle in See stachen. Ihre Mützen zogen sie sich dann tief ins Gesicht, damit sie auf dem Wasser nicht erkannt wurden. Wenn sie stundenlang weg waren, klingelte manchmal sein Handy, weil man ihn auf dem Grundstück nicht finden konnte. Er würde Karlfriedrichs Lachen nie vergessen, als er einmal antworte, sie seien auf hoher See.

    Immer wenn er mit Karlfriedrich zusammen oder unterwegs war, befiel ihn so eine Leichtigkeit, das Gefühl eines Lebens ohne Druck und Pflicht. In seiner Nähe war diese ihn seit eh und je plagende Verstimmung, wenn ihm die schwarze Galle hochkam, verschwunden. Diese seelische Schieflage kam und ging, soweit er zurückdenken konnte. Schon als Schüler musste er oft alle Vorhänge zuziehen, sich in der Dunkelheit verkriechen und Unruhe, Angst, Kümmernisse und Bosheiten ertragen. Für ihn war die Schwermut das Merkmal der Sterblichkeit. Dann hörte er Hiob sagen: »Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt nur kurze Zeit und ist voller Unruhe.« Der Graubereich zwischen Fröhlichkeit und Schwermut war erträglich. Der wolkenverhangene Himmel war hoch und das Dasein war auszuhalten. Aber wie lange noch? Waren seine Beschwerden Veranlagung oder angenommene Gewohnheit? Lange hatte er darüber gegrübelt, aber sie kamen und verflogen, worauf er keinen Einfluss hatte. So nahm er sie als gottgegeben hin.

    Bendix schreckte hoch, er war über seine Gedanken wohl kurz eingenickt. Mit einer Handbewegung wischte er sich die Müdigkeit aus dem Gesicht.

    Das Handy vibrierte in der Jackentasche. Es war Peter Thiel. Das lenkte Bendix‘ Gedanken wieder zu diesem Schmierfink, diesem schwächlich wirkenden Journalist mit den verschiedenfarbigen Glotzaugen und dem leicht krummen Rücken – keine eindrucksvolle Gestalt. Umso beängstigender war die äußerst spitze Feder dieses Mannes, deren Striche schon den einen oder anderen ins Abseits befördert hatten. Der Kerl war ein Meister im Aufdecken von Skandalen. Wenn ein Konkurrent den anderen beerdigen wollte, steckte er diesem Schreiberling einfach ein paar Informationen zu, die nicht einmal stimmen mussten. Der Mann hatte den Ruf, dass durchaus wahr sein konnte, was er schrieb, mit einem Artikel aus seiner Hand war mehr als ein Gerücht in der Welt, das hatte die Vergangenheit oft genug bewiesen. Er schrieb die Sachen nicht einfach herunter, sein Stil war erhaben. Der normale Zeitungsleser las da oft sorglos drüber hinweg, aber dem Betroffenen gefror das Blut in den Adern.

    So ging es jetzt Bendix. Er spürte plötzlich heftige Schmerzen in der Brust. Er rang nach Luft und ihm war übel. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Jetzt brachte er den Zeitungsartikel und den Anruf von Thiel in Zusammenhang. Der Verfasser war gefährlich, keiner von den blassen Zeitungsfritzen, die eine gute Zusammenarbeit anstrebten, um sich den Job leicht zu machen.

    Bendix atmete ein paarmal kräftig durch, bis er sich erholt hatte. Er erschrak ein wenig, als er sah, dass er die Zeitung zerknüllt hatte. Das hatte er gar nicht bemerkt. Er strich sie wieder glatt und schüttelte sie aus, als ob er sich dadurch des Zeitungsartikels entledigen konnte. Bendix hatte schon so einiges überstanden, aber hier ging es um etwas, was ihm den Hals kosten könnte. Dabei fing der Artikel recht harmlos an: Ein Kollege hatte ihn kritisiert, dass er dem Export von Waffen über den landeseigenen Hafen zugestimmt hatte, in ein Land, das viele gern von der Landkarte radiert gesehen hätten. Aber war das alles? Er wurde das Gefühl nicht los, als würde der Verfasser diese Geschichte nur als Aufhänger benutzen, um auf etwas ganz anderes aufmerksam zu machen, der Bericht wurde nämlich durch ein Bild ergänzt: Deutlich, trotz Dunkelheit, war auf dem Zeitungsbild ein Frachter im Hafenbecken zu sehen, ein Verladevorgang. Man konnte nicht lesen, was auf der Plane des großen Lkw stand, der da entladen wurde. Auf der Plane des kleinen Fahrzeugs war deutlich – wie mit Absicht – Thiel Werkzeugmaschinen zu erkennen. Nichts Aufregendes für den normalen Zeitungsleser und die Mitarbeiter in Landesregierung und Staatskanzlei. Niemand, außer einigen Eingeweihten, wusste, dass die Firma Thiel Elektronik und Werkzeugmaschinen herstellte, die dem Verbot der Ausfuhr von Kriegsmaterial unterlagen und für die Herstellung von Kernwaffen unverzichtbar waren.

    Bendix erwischte es erneut. Sein Hals war trocken und wie zugezogen. Er trank hastig aus der Wasserflasche und verschluckte sich beinahe, als er den Bilduntertitel las: Waffenhandel, ein lohnendes Geschäft. Im Kontext zum Artikel bezog sich das eindeutig auf die Waffengeschäfte des Landes, passte aber nicht zu dem Bild. Er wusste ganz genau, dass Thiel nicht auf einem einzigen seiner Fahrzeuge eine Firmenbezeichnung oder einen Namen hatte. Er hatte auch nur dunkle und keine hellen Fahrzeuge.

    Bendix ließ die Zeitung auf die Knie sinken, lehnte sich zurück und blickte in den blauen Himmel. Also hatte der … der – ihm fiel vor Aufregung der Name des Schreibers nicht ein – das Bild manipuliert! Aber der Pfaffe – plötzlich hatte er den Namen wieder: Rene Pfaffe – konnte doch nicht wissen, dass Thiel dort illegal Waffenmaterial verlud. Aber was sollte das Bild anderes bedeuten? Pfaffe wusste ganz genau, dass ihn für diese Bildmontage niemand verantwortlich machen würde: die davon nichts wussten sowieso nicht und Bendix und Thiel konnten es sich natürlich nicht erlauben.

    Bendix musste unbedingt herauskriegen, was Pfaffe damit bezweckte. Wollte er ihn und Thiel erpressen? Wer konnte ihm dieses Geheimnis verraten haben? Und Thiel, der Trottel, rief ihn auch noch auf seinem Handy an. Die leicht verdienten Millionen machten ihn unvorsichtig.

    Wie betäubt lag Bendix in seinem Liegestuhl und versuchte, sich aufzurichten. Ihm wurde schwarz vor Augen. Angst und Unruhe kamen in ihm auf. Was war das? Seine Hände umklammerten die Lehnen. Er sackte zurück. Seine Augen blickten leer auf den See, reflektierte Sonnenstrahlen blendeten ihn. Manchmal gelang es ihm auf diese Weise, seinen Kopf abzustellen und damit die Unfähigkeit, mit dem Denken aufzuhören, zu besiegen. Heute nicht. Diese Niedergeschlagenheit beschlich ihn in heimtückischer Weise und machte sich immer stärker in seinem Leben breit. Was nützten ihm die besten Ratschläge und Vertröstungen, er sei in bester Gesellschaft mit berühmten Menschen wie Goethe, Abraham Lincoln, Churchill oder Ingrid Bergmann, die alle in unterschiedlichster Ausprägung an Depressionen litten und trotzdem viel geleistet hatten. Und in die Nähe eines seiner Vorfahren, der sich von dem Befall mit einem Pistolenschuss befreit hatte, wollte er schon gar nicht. Im Laufe der Jahre hatte ihn sein Leiden in tief gehender Weise verändert: die Fähigkeit zum Erleben von Freude war erloschen, sein Denken war kreisend und grüblerisch geworden. Er spürte Angst und eine innere lähmende Blockade, die er nur mit seiner Droge überwinden konnte – so nannte er das Rovat, das sie ihm als Medikament verschrieben hatten. Es verursachte eine entspannende, beruhigende, aufhellende und gleichzeitig euphorisierende Stimmung. Er nahm es jetzt, nach Jahren, immer noch, trotz aller Warnungen, dass es für die Hölle keine Worte gebe – die Hölle, die er ertragen müsste, wenn er versuchen sollte, sich nach längerer Einnahme dieser Droge zu entziehen.

    Er hatte es versucht und es war mehr als die Hölle: Er hatte an Verfolgungswahn gelitten, Angstattacken, dauernder Übelkeit und Schüttelfrost. Ihm wurde abwechseln heiß und kalt. An Schlafen war überhaupt nicht zu denken. Und wenn er mal kurz einschlief, hatte er Horrorträume. Nach dem Aufwachen zitterte er und war aggressiv. Es wurde im Laufe einiger Tagen eher schlimmer als besser. Danach hatte Bendix niemals wieder versucht auszusteigen. Er fühlte sich müde und lustlos. Er wusste, dass er dem übelsten und gemeinsten Zeug, das es auf dem Markt gab, zum Opfer gefallen war. Seit etlichen Tagen hatte er die Dosierung schon heruntergesetzt, aber er erlebte seine Angst immer noch als Stress und Belastung mit Herzrasen, Schwindel und Schweißausbrüchen.

    Er musste erneut eingenickt sein, denn das entfernte Klacken einer Tür ließ ihn aufschrecken. Irgendwie war er darüber sauer, war er doch auf einfache Art dem Elend entflohen.

    Karlfriedrich kam durch den Garten angehastet, in seiner Hand flatterte eine Zeitung. Auf den letzten Metern kam er ins Straucheln und stolperte ein paar Schritte am Liegestuhl vorbei. Keuchend drehte er sich um, die Zeitung vor sich haltend. Er zeigte auf einen Zeitungsartikel. Dann schluckte er das, was er sagen wollte runter, als er genau diese Seite auf Bendix Knien liegen sah.

    Bendix hatte ihn noch nie so keuchen hören, außer damals, als Karlfriedrich ihm das Leben gerettet hatte. Er stand jetzt reglos vor ihm, konnte es nicht abwarten, dass Bendix etwas dazu sagen würde.

    Karlfriedrich war in seinem Alter. Ein breitschultriger Kasten, ehemaliges Schwergewicht mit platter Nase und kantigem aber freundlichem Gesicht, mit listig wirkenden hellblauen Augen, Glatzkopf – eine Säule in Schwarz.

    »Du siehst aus wie ein Beerdigungsunternehmer«, kam er Karlfriedrich zuvor.

    »Du hast es also schon gesehen?« Sein Fahrer ging in die Hocke und sah ihn erwartungsvoll an. »Auf, auf … ich fahr dich zur Sitzung, bevor du im Tal der Finsternis versinkst.«

    Auch das noch, dachte Bendix. Er hatte für heute seine Teilnahme im Ausschuss Völkerrechtliche Aspekte des Waffenexports zugesagt.

    Karlfriedrich gab ihm die Hand und zog ihn aus dem Liegestuhl, dabei täuschte er einen rechten Haken in die Magengrube an.

    Bendix klappte nach vorn, grunzte ein »Uh!« heraus und grinste.

    »Na prima!«, lachte Karlfriedrich. »Du bist wach. Lass uns gehen.« Sie trotteten nebeneinander über den Rasen nach oben zum Haus, zwei stabile Figuren im Geldschrankformat. Der eine war Boxer, der andere Ruderer. Bendix‘ Gang war allerdings nicht so sportlich wippend wie der von Karlfriedrich, der noch mehrmals in der Woche als ehemaliger Meister Sparringseinheiten in seinem alten Box-Klub übernahm.

    Karlfriedrich imponierte Bendix. Allein das Drama mit seinem Sohn … dieses Auf und Ab. Bendix hatte alles hautnah miterlebt, bis Karlfriedrichs Sohn vom Goldenen Schuss erlöst wurde. Dann der Tod seiner Frau, das Leiden zuvor. Diese liebenswerte Frau … Krebs. Davor das Desaster mit seiner Sportschule, seinem Traum – bis sein Traum von der Selbstständigkeit von der Feuerwehr gelöscht wurde. Sein Partner hatte Versicherungsbetrug mit Brandstiftung versucht, ging für vier Jahre ins Gefängnis, aber die Versicherung zahlte nicht und Karlfriedrich stand da, ohne Altersversorgung.

    Sie erreichten die Stufen und gingen ins Innere des Herrenhauses.

    »Ist die Meute schon komplett?« Bendix zeigte zum Personenschutz. Sie hatten zusätzliche Bewachung angefordert. Ein Fahrzeug vorn, ein Fahrzeug hinten – alle gepanzert, wie sein Dienstfahrzeug auch. »Geh schon vor, ich zieh mich schnell um.« Karlfriedrich nickte und verschwand nach draußen.

    Bendix‘ Frau war nicht zu Hause. Das ewige Wo geht es hin? Um was geht es denn? Wann kommst du wieder? ging ihm schon lange auf die Nerven. Er war froh, wenn er ihre unzähligen Fragen nicht beantworten musste. Er blickte in den Badezimmerspiegel. Im Vergleich zu Karlfriedrich sah er blass aus, wirkte aber freundlicher. Das lag an seinem rundlichen Gesicht und seiner kleinen Nase – Karlfriedrichs plattgeboxter Zinken sah eher bedrohlich aus. Bendix hatte noch volles Haar, aber es war stumpf und grau geworden und das innerhalb weniger Jahre. Die Falten zwischen Nase und Mundwinkeln wurden immer tiefer und seine Tränensäcke größer. Du brauchst Sonne. Er sah sich kritisch an und dachte an die verwaiste Sonnenbank in seinem Fitnessraum. Graue Augen blickten zurück und er merkte, wie die Augenmuskeln nachgaben und er zu stieren anfing. Sein Gesicht verschwand im Spiegel. Um ihn herum wurde es dunkel. Er sah gelbe Kreise in seinen Pupillen. Er spürte, wie ihn ein Schauer überlief …

    Dann riss er sich los, griff zu einem Glas und in die Tasche. Er musste dringend nachladen, sonst würde er die Sitzung nicht schaffen. Eine Hälfte war schon weg, jetzt war die zweite dran. Seine heruntergesetzte tägliche Ration reichte gegen Angst und Unruhe nicht aus. Er würde über kurz oder lang wieder bei zwei ganzen Tabletten pro Tag landen, was nach seinem Empfinden gerade noch lebbar war. Er fühlte sich wie ein Gefangener und war äußerst gereizt. Nur nicht lange denken.

    Julia hatte ihm alles zurechtgelegt. Er riss ein Teil nach dem anderen vom Anzugständer: weißes Hemd, blau-weiß gestreifte Krawatte, dunkelblauer Anzug. Schuhe blauschwarz. Er suchte seine Aktentasche, aber Karlfriedrich hatte sie schon an sich genommen. Er hörte es draußen hupen. Sein Fahrer mahnte zur Eile. Es wurde Zeit.

    Bendix sprang die Treppe herunter, sprintete durch die Halle, die Außentreppe, noch ein paar Schritte und schon saß er im Wagen, rechts neben Karlfriedrich. Ein Bewacher saß hinten, das war so abgesprochen. Dunkle Scheiben ließen die Sitzordnung von außen nicht erkennen. Die Reifen knirschten über den Kiesweg, das Eisentor wurde geöffnet und Karlfriedrich reihte ihr Auto zwischen die beiden wartenden schweren Limousinen ein.

    Die Empfehlung

    Der Mann von der Rückbank schob Karlfriedrich einen Zettel über die Schulter: die heutige Route zum Landeshaus. Unter anderem ging es durch die Todesallee, wie die Straße genannt wurde, in der vor Jahren das Attentat stattfand. Bendix fühlte sich in seinem Panzer sicher. Die Fahrzeuge waren besser geworden. Außer dem leisen Summen des Achtzylinders war nichts zu hören. Zentimeterdicker Stahl und schusssicheres Glas schotteten die Außenwelt total ab. Die Scheiben waren stark getönt und selbst an einem so sonnigen Tag wie heute war es im Fahrzeuginneren wie bei einer Sonnenfinsternis. Nach längeren Fahrten klagte Karlfriedrich über einen Knick in der Linse, wie er das nannte, so stark wurde das Licht durch das dicke Glas gebrochen.

    Der Hintermann war ihnen lange bekannt. Sie legten Wert auf seltenen Wechsel. Wenn eine neue Person auftauchte, selbst wenn sie zehnmal durch den Sicherheitswolf gedreht wurde und auch wenn ihm Karlfriedrich zunicke, was Zustimmung bedeutete, hatte Bendix trotzdem immer längere Zeit ein nicht definierbares Gefühl der Unsicherheit. Aber der Sicherheitsbeamte hinter ihm war nun schon über zwei Jahre einer seiner Schatten und genoss längst die üblichen Vorteile, wenn er bei Bendix Dienst hatte. Er war ein erfahrener und intelligenter Mitarbeiter und ledig, was für diesen Job wichtig war, nicht zuletzt wegen der Breite der Einsetzbarkeit.

    Bendix verlangte nach seiner Aktentasche, die ihm der Hintermann nach vorn reichte. Er kramte einen Bericht hervor. Nur widerwillig besuchte er diesen Ausschuss. Allein wenn er an die Zusammensetzung und das Geseier dachte, bekam er Magenkrämpfe. Frank Cordes, sein Kanzleichef, beruhigte ihn jedes Mal: »Die wollen auch nichts anderes als du.« Diese Waffenangelegenheit, die eigentlich in ein Fachressort gehörte, hatte er mithilfe von Cordes zur Chefsache gemacht. So hatte Cordes auch den Vorsitz im Ausschuss, was vieles vereinfachte. Wenn es mal brenzlig wurde, nahm Bendix selbst teil. Und es war brenzlig.

    Er hatte den Jahresbericht der Europäischen Union mit den Bestimmungen des Verhaltenskodex für Waffenausfuhren vor sich auf den Knien liegen. Kein offizielles Papier, das nationalstaatlich umgesetzt werden musste und eher in einer Ablage landete. Es hatten sich aber inzwischen Gruppen etabliert, die Einfluss auf die nationalstaatlichen Belange zu nehmen versuchten, und die hatten Freunde im Ausschuss, die am liebsten nur noch Zündplättchen ausführen würden. Deshalb mussten er und Cordes das Ausschussergebnis, unter Berücksichtigung der im Ausschuss vertretenen Interessen, mit aller Macht beeinflussen, aber ohne die Mehrheitsverhältnisse herauszukehren. Sie würden einen Beschluss empfehlen, dass an der bisherigen Waffenausfuhrpraxis zwar nichts geändert würde, aber der Verhaltenskodex zu beachten sei.

    Bendix hielt inne. Was für ein Schwachsinn, überlegte er, so einfach geht das nicht, und schon gar nicht so schnell. Durch das Seitenfenster sah er Büsche und Hecken vorbeiflitzen und dachte: Doch, doch, so schnell geht das. Die Presse würde ihre Bemühungen um Moral und Frieden loben oder auch nur erwähnen, aber in Wirklichkeit hätten sie ihre eigenen Interessen durchgesetzt. Nur dieser Zeitungsartikel störte ihn. Er fürchtete, jemand könnte das Bild hinterfragen.

    Sie hatten die Allee fast durchfahren und es wurde ein wenig heller. Die Baumkronen waren nicht so dicht wie zu Beginn der Straße. Eigentlich hatten die Sicherheitsexperten solche engen dunklen Straßen aus dem Fahrprogramm gestrichen, doch in selbstquälerischer Leidenschaft ließ er sich immer wieder mal durch diese Allee fahren, in der sein zweites Leben begann. Es war zwar verrückt, aber irgendwie brauchte er es, diesen Film immer wieder ablaufen zu lassen: die Detonation, die Schüsse, das Schreien, der Gestank von Verbranntem … Benzingestank. Todesangst. Laufen. Schritte hinter sich. Die Hausecke erreicht, fast gerettet … Große Hände, die ihn ruckartig zur Seite und um die Ecke herumrissen. Gleichzeitig Geballer. Harte Einschläge in der Wand. Löcher, faustgroß, wo er eben noch gestanden hatte … Danach heisere Schüsse aus einer Sig Sauer. Sein Verfolger lag tot auf dem Rücken. Er selbst kniete hustend auf dem Boden. Die Detonation … das war das vor ihm fahrenden Auto gewesen, es war in die Luft geflogen. Mit ihm der Präsident – sein Vorgänger. Bendix drehte sich um; es stank wie auf einem Schießplatz. Aber wo war sein Lebensretter?

    Plötzlich wurde er aus seinem Traum gerissen. Karlfriedrichs Handy ertönte. Er riss es aus der Halterung und rief »MP!«, obwohl er es noch gar nicht richtig am Ohr hatte. Es war der Vorderwagen. »Wieder eine Demo vor dem Haus«, wandte er sich an Bendix, »wir fahren von hinten ran.«

    Bendix sah nach oben und nahm bei seiner Schimpfkanonade kein Blatt vor dem Mund.

    Karlfriedrich grinste.

    Wenn es nach Bendix ginge, gäbe es keine Demonstrationen. Wie oft musste er schon auf Plakaten lesen: Immunität abschaffen. Er würde zu gerne Gleiches mit Gleichem, wie er es nannte, vergelten. Zumindest sollten seiner Ansicht nach Versammlungen und Kundgebungen an bestimmten Orten wie Geschäftsstraßen und vor dem Parlament verboten werden. Die Partei hatte auf seine Initiative hin einen Änderungsantrag eingebracht. Das und die Praxis der Waffenausfuhr der Regierung hatten die Demonstranten nun auf dem Zettel.

    In der Ferne tauchte schon das lang gestreckte Backsteingebäude auf. Es war wegen des x-ten Umbaus zu einem Drittel eingehüllt. Dann kam eine Masse Menschen ins Blickfeld. Darüber waren Fahnen und Plakate auszumachen. Er hasste diese Unruhe. Drinnen würde es genau so zugehen. Öffentlichkeit und Medien würden die Sitzung verfolgen wollen, schließlich war sie öffentlich – zum Bedauern der meisten Ausschussteilnehmer.

    Gedanklich war Bendix schon drin. Allein das genügte, um ihm körperliches Unwohlsein zu bereiten. Er sah sich schon den Blicken Pfaffes ausgesetzt. Der war in letzter Zeit überall da, wo er war, glotzte ihn auch in den anderen Sitzungen unentwegt an. Immer wenn Bendix hinüberschaute, grinste er so auffällig, dass es niemand übersehen konnte. Nach dem Zeitungsartikel würde sein Grinsen noch diabolischer ausfallen. Bendix‘ Unbehagen steigerte sich zu Hitzewallungen beim Gedanken an seinen Gegner, den Oppositionsführer, der ihm gezwungenermaßen direkt gegenüber sitzen würde.

    Er saß noch einen Augenblick in sich zusammengesunken da, bis er sich plötzlich ruckartig aufrichtete. Sein Gesicht erhellte sich. Sie waren jetzt so dicht an der Versammlung dran, dass er eine andere Gruppe erkennen konnte, überwiegend Frauen und Kinder. Die trugen auch Schilder, aber da stand etwas ganz anderes drauf: Schiffsausfuhren sichern Arbeitsplätze. Es waren die Frauen und Kinder von Werftarbeitern, deren Arbeitsplätze bei einem Ausfuhrstopp für U-Boote und anderem schwimmfähigen Kriegsmaterial gefährdet wären. Das hatte ein ganz anderes Gewicht. Es ging um existenzielle Probleme im Lande und nicht um irgendetwas irgendwo auf der Welt, was sie nur aus Medien kannten und ihnen nicht wehtat. Sofort erkannte er seine Chance.

    Karlfriedrich wollte gerade dem Vorderwagen scharf nach rechts zur Rückseite des Hauses folgen, als Bendix rief: »Halt, ich gehe vorn rein!«

    Karlfriedrich riß das Lenkrad herum, das verlorene Fahrzeug drehte und versuchte, hinterher zu kommen. Das hintere Fahrzeug überholte sie und war nun vorn.

    Karlfriedrich hatte das Handy an sich gerissen und schrie hinein: »Er will vorn rein!«

    Die Polizeibeamten begriffen sofort und zogen die Absperrungsgitter zur Seite, sodass die Fahrzeuge mit nun aufgesetztem Blaulicht passieren konnten.

    Bendix dirigierte seinen Fahrer direkt vor die Gruppe mit den Frauen und Kindern. Hier konnte er Punkte sammeln als Protagonist in Sachen Arbeitsplatzerhaltung. In Wirklichkeit waren natürlich alle gegen Entlassungen, aber seine Gegner spielten das alte Spiel: Sie waren gegen alles, was die Regierung wollte, wenn es auch noch so dumm von ihnen war.

    Bendix sprang aus dem Fahrzeug und näherte sich zögernd der Absperrung. Karlfriedrich blieb fast das Herz stehen. Was war denn nun los?

    Die Bewacher eilten hinterher.

    »Bleibt hier«, rief Karlfriedrich, »der geht nicht hin.«

    Sie hielten inne und sahen sich verdutzt an, drehten sich wieder um und blieben stehen. Sie sahen Bendix knapp zehn Meter vor dem Gitter stehen. Er hatte die Arme nach oben gestreckt.

    Bendix da vorn?, dachte Karlfriedrich, das ist doch nicht sein Ding.

    Jeder andere hätte so viel Hände geschüttelt wie er konnte, kostenlose Werbung bei diesem Blitzlichtgewitter, aber Bendix? Seine freundliche Fotografiermaske konnte über die arroganten Allüren nicht hinwegtäuschen. Karlfriedrich hatte nie verstanden, dass Bendix, der von seinen Dumpfbacken, wie er das Volk nannte, geliebt werden wollte, nichts dafür tat. Er hatte keine Empathie, es mangelte ihm ganz einfach an Einfühlung und Interesse für seine Mitmenschen.

    Karlfriedrich hörte, wie Bendix in den Wind rief: »Ich gebe Ihnen mein Wort, es wird keine Entlassungen geben!«

    Karlfriedrich verdrehte die Augen und vertraute auf den Wind, dass er die Worte weit wegtrug und sie niemand hörte.

    Bendix kam zum Auto zurück. Er hatte die Augenbrauen hochgezogen und sah nach oben, als wollte er in sein Gehirn gucken, dabei wackelte er mit dem Kopf hin und her, leicht, damit es niemand falsch deutete.

    Karlfriedrich sagte nur: »Das war gut.«

    Bendix machte inzwischen wieder ein normales Gesicht, das sich aber sofort wieder verzog, als er die Journalistenmeute auf sich zueilen sah. Im Nu hatten sie ihn umringt.

    »Herr Ministerpräsident, wird es zu Entlassungen kommen? Wie wird sich der Ausschuss verhalten?« Die Fragen prasselten nur so auf ihn nieder.

    »Meine Herren, nun lassen Sie mich doch erst einmal hinein, ich stehe Ihnen danach Rede und Antwort.«

    Rede und Antwort, ja, dachte Karlfriedrich, aber nicht so, wie die sich das vorstellen. Mit dem größten Teil dieser Horde stand Bendix auf Kriegsfuß. Sein Rückzug nach der Ausschusssitzung war längst geplant – nicht zur Pressekonferenz, sondern direkt in sein Arbeitszimmer. Dort würde er einigen Journalisten die Gnade erweisen.

    Die Gruppe bewegte sich rasch in Richtung Landeshaus. Immer noch hagelte es Fragen und neben dem Beifall der Frauen und Kinder waren Pfiffe und Trillerpfeifen zu hören.

    »Was wird aus dem Demonstrationsrecht?«, fragte einer.

    »Was soll daraus werden?«, fragte Bendix zurück. Er kannte diesen Rauschebartträger, ein unbequemer Zeitgenosse. »Es wird doch nicht abgeschafft.«

    Bendix spürte einen Druck im Rücken. Er wurde von Karlfriedrich sanft zur Tür geschoben. Die anderen vier Kollegen blieben stehen und blockten so die lästigen Verfolger ab. Die Tür ging zu. Ruhe.

    Bendix atmete durch und klopfte mit der flachen Hand seinen Anzug ab, bis alles wieder glatt war. »Danke. Zwei kommen mit.« Er zeigte auf Karlfriedrich und einen Bewacher. Die beiden nickten. »Die anderen machen Pause.«

    Dem Ersten steckte er einen Schein in die Jackettasche. Er war der Einzige, von dem sie etwas annahmen. Ihre Loyalität und Einsatzbereitschaft ließ er sich manchmal auch noch mehr kosten. Nie hatte jemals jemand darüber gesprochen. Das war eisernes Gesetz. Das führte zu einer Art Konkurrenzkampf unter den Bewachern. Jeder wollte möglichst viel Dienst mit dem Chef schieben. Sie durchschritten die sensationell neu gestaltete Eingangshalle im Erdgeschoss. Nach dem Betreten des Gebäudes durch den Haupteingang öffnete sich eine durchgängige Blickachse durch den gläsernen Plenarsaal. Sie erreichten die neue Lobby, Drehpunkt zu Plenarsaal und Besucherforum. Innen hatte das Haus nichts mehr aus der behäbigen Backsteinzeit zu bieten. Alles war superneu und übersichtlich und nicht mehr so eng. Die Idee war, sich nicht einzuschließen, sondern man wollte ein Gläsernes Landeshaus, im wahrsten Sinne des Wortes, für durchsichtiges politisches Handeln schaffen. Das bedingte freien Zugang für alle und immense Kosten. Die Sicherheitsschleuse allein hatte Millionen gekostet. Alles Blendung, hatte der Rauschebart dazu etwas übertrieben in einer Glosse geschrieben, das solle nur die zweckwidrige Verwendung der für soziale Zwecke zurückgestellten Gelder kaschieren. Es gab fast eine Krise. Es dauerte aber nicht lange, und es war wieder vergessen.

    Sie hatten den Sitzungssaal, der neben dem Plenarsaal lag, erreicht. Bendix sah auf die Uhr. »Ich hole noch Unterlagen aus meinem Büro, es ist noch Zeit.« In Wirklichkeit ging es um keine Unterlagen, sondern um ganz was anderes. Er hatte noch kurz in den Sitzungssaal hineingelugt und Cordes, der sonst überpünktlich war, nicht entdecken können, aber er musste ihn noch vor Beginn der Sitzung unter vier Augen sprechen. Auf dem Weg zu seinem Büro rief er Cordes vom Handy aus an und bat ihn, vorbeizukommen.

    Unschlüssig durchquerte Bendix mehrmals den Raum und schlurfte von Wand zu Wand, die Hände auf dem Rücken wie ein Waldspaziergänger. Zwischendurch raufte er sich die Haare, blieb eine Weile vor dem Fenster stehen und sah auf die Straße hinunter. Das tat er oft. Dabei konnte er am besten denken. Sein Dienstzimmer war seinem Amt entsprechend riesig, aber es barg auf seinem Parkett nur einen Riesenschreibtisch vor dem Fenster und ein Paar Sitzteile aus Leder mit wulstigen Armlehnen, sonst nichts. Jeder Besucher war erstaunt darüber. Über dem Ledersofa hing allerdings ein von Bendix überaus geliebtes Ölgemälde. Es zeigte das Gewässer vor dem Landeshaus, blauer Himmel, weiße Segel. Das Bild erfrischte ihn. Wenn er länger daraufstarrte, kam es ihm manchmal vor, als ob er da draußen wäre.

    Langsam wich sein Erschöpfungszustand. Das Rovat setzte sich durch. Er wollte seinen Zustand noch verbessern und genehmigte sich einen Schluck aus der Cognacflasche, die ihm Cordes zum Geburtstag geschenkt hatte. Er stellte sie auf den Schreibtisch; Cordes würde auch einen Schluck gebrauchen können. Dann zog er die Schublade seines Schreibtisches auf und nahm sich eine Zigarre. Das Klopfen hatte er zuerst nicht gehört, es klopfte noch einmal lauter. Er ging zur Tür und öffnete sie.

    Vor ihm stand Frank Cordes, klopft ihm auf die Schulter und blieb auf der Türschwelle stehen. »Bist du so weit?«

    »Nun komm man erst mal rein«, erwiderte Bendix.

    Cordes sah an Bendix vorbei und erblickte die Flasche. »Gute Idee«, sagte er, und schon war er drin. »Was hat Pfaffe in Gottes Namen vor?«, fragte er und holte Luft für eine weitere Frage.

    »Deshalb wollte ich dich vorher sprechen«, unterbrach ihn Bendix, »wir dürfen uns nichts anmerken und uns keinesfalls provozieren lassen.« Sie stießen an. Bendix schenkte die ausgetrunkenen Gläser gleich wieder voll. »Was der Pfaffe vorhat, möchte ich natürlich auch wissen, aber viel interessanter wäre doch: Was weiß er eigentlich wirklich?«

    Sie leerten die Gläser in einem Zug.

    »Geh schon vor«, sagte Bendix und schob Cordes aus der Tür.

    Er sah ihm hinterher. Davon abgesehen, dass sie durch gewisse Machenschaften miteinander verbunden waren, mochte er ihn auch, diesen geräuschlos zuverlässigen Aktenmenschen Cordes. Er schätzte dessen unergründliche Gelassenheit, die breit gefächerte Schauspielerei mit leicht heruntergezogenen Mundwinkeln. Cordes musste sich nicht durchboxen, er hatte sich durchgesetzt. An Professionalität konnte er es mit jedem auf der Regierungsbank aufnehmen. Für Bendix war er so eine Art Schutzschild, sein Freund der Staatssekretär, der Chef seiner Kanzlei.

    Er fühlte sich jetzt gut und war bereit.

    Bendix öffnete die lederbeschlagene Tür zum Nebenzimmer. Seine Sekretärin war nicht da. Er ging zurück in sein Büro, nahm die Unterlagen vom Schreibtisch, genehmigte sich noch einen kurzen Schluck und ging.

    Als er den Flur entlangeilte, schlug sein Handy an. Er kümmerte sich jetzt nicht mehr darum, so kurz vor dem Saal. Das war sicher Cordes.

    Tatsächlich stand Cordes vor der Tür mit seinem Handy in der Hand und trat von einem Fuß auf den anderen. Er nahm Bendix die Akten ab und verschwand in den Saal. Bendix folgte ihm. Seine Augen tasteten den kreisrunden Raum ab. Direkt vor ihm, hinten an der halbrunden Wand, saß die Öffentlichkeit auf dafür bereitgestelltem Gestühl. Er senkte etwas den Kopf, um durch den oberen Teil der Gläser schärfer sehen zu können. Dabei verdeckte der obere Rand der Brillenfassung seine Augen soweit, dass niemand sehen konnte, wohin er sah. Das verunsicherte und verärgerte so manchen, mit dem er sprach, den er aber vermeintlich nicht ansah. Zwischen seinen buschigen Augenbrauen und dem oberen Brillenrand ließ er einen kleinen Spalt frei; der genügte, um hindurchzulinsen und sein Gegenüber auf kurze Distanz zu fixieren. Er liebte seine große Hornbrille.

    Da saß Pfaffe. Der war nicht zu übersehen, selbst für jemanden, der ihn nicht kannte. Ansonsten noch ein paar Zeitungsleute und Zuhörer, die man allesamt vergessen konnte. Pfaffe hatte sich vermutlich die Sitzordnung im Ausschuss vom letzten Mal gemerkt und sich dementsprechend so platziert, dass er, wie er wohl hoffte, Bendix wieder direkt gegenübersitzen würde. Aber diesmal hatte Cordes die ganze Runde einen Platz weiterrücken lassen, sodass heute der Chef der kleinen Koalitionspartei auf Bendix‘ früherem Platz saß. Dieser guckte zwar erstaunt, sagte aber nichts. Dort, wo er das letzte Mal saß, thronte nun Bendix, den Blicken Pfaffes durch den gegenüberstehenden breiten Ledersessel des Oppositionsführers entrückt. Pfaffe konnte sein Erstaunen nicht verbergen. Schadenfroh grienten beide zu ihm rüber. Pfaffe konnte sich nicht mehr umsetzen, jeder Platz war besetzt.

    Bendix sah zu Cordes und nickte ihm dankbar zu. Ihr Koalitionspartner verstand nichts.

    Bendix sah zu dem Oppositionsführer hinüber. Seine Brille saß normal auf seiner Nase, sodass sie sich in die Augen sehen konnten. Sie hatten abgemacht, nicht sofort zu beginnen, sondern sich noch untereinander abzustimmen, wer zu welchem Teilbereich spricht. Man war auf der letzten Sitzung in der Sache nicht allzu weit gekommen. Bendix hielt den Blicken seines Gegners stand. Sie hatten so manches gemeinsam, er und Tom Marx alias Tom Mix, der hielt nämlich auch gerne direkt drauf. Aber vorläufig hatte er in Bendix seinen Meister gefunden.

    Sie waren gleichen Jahrgangs, Ende fünfzig. Mit seinem Namen hatte Marx gelegentlich Probleme, gerade im eigenen Lager. Er hatte einen Palast im andalusischen Stil und wohnte auf vierhundert Quadratmetern mit viel Land hinter dem Haus. Im Gegensatz zu Bendix, der in dem Herrenhaus mit Park und See sozusagen wohnen musste, da der Besitz seiner aus Großgrundbesitzerverhältnissen stammenden Ehefrau gehörte, hatte sich Marx sein Haus verdient. Es war auch kein Geheimnis wie: Er war erfolgreich in einer Waffenschmiede und hatte in wenigen Jahren einen Batzen Geld gemacht. Das erklärte auch sein Interesse an diesem Gremium. Viele sagten, er sei in der falschen Partei und unterstellten ihm fiese Sachen, aber Marx war alles. Er war skrupelloser Selbstdarsteller und wunderbarer Charmeur, aber auch Anwalt einer immer mehr verarmenden und verratenen Klasse. Auf der anderen Seite ließ er seiner Lebens-, Luxus- und Geldgier freien Lauf und rühmte sich als Feinschmecker und Weinkenner. Vielleicht war er in der falschen Partei, aber der andere Platz war schon besetzt. Er hätte auch Regierungschef werden können, wenn sie nicht einen Verräter in den eigenen Reihen gehabt hätten: Bendix wurde mit einer Stimme aus dem Lager der Opposition gewählt. Marx hatte Informationen, dass Bendix daran beteiligt gewesen sein soll, aber er konnte es nicht beweisen.

    Marx riss sich von Bendix los. Nein, er hasste ihn nicht, er war eher ein wenig neidisch auf das Kapital, das hinter dem Landesfürsten stand, mit dem man so gut wie alles erreichen konnte. Es war das dritte Mal in kurzer Zeit, dass in einem Länderparlament in der konstituierenden Sitzung der alte beziehungsweise designierte Ministerpräsident keine Mehrheit bekam, obwohl sein Block im Parlament es auf eine Mehrheit brachte. Seit in einem der Fälle die Bestechlichkeit eines Abgeordneten herauskam, wurde allgemein für eine offene Wahl gestritten. Eine Änderung des Wahlverfahrens wurde von Bendix allerdings blockiert – und Marx wußte inzwischen auch warum. Es war damals genau dieselbe Situation. Auch sein Block hatte nach der Landeswahl ein Mandat mehr. In drei Wahlgängen hatte sich aber ein Abgeordneter der Stimme enthalten und damit zu einer Pattsituation geführt. Nach jedem Wahlgang waren die Gesichter länger geworden. Niemand hatte Zweifel daran gehabt, dass Marx gewählt werden würde. Tumultartige Stimmung dann auf der einen Seite – jeder verdächtigte jeden –, klammheimliche Freude bis zum lauten Lachen auf der anderen Seite. Marx war mit hochrotem Kopf hin und hergelaufen, Bendix hatte gelassen dagesessen, als hätte er nichts anderes erwartet. Danach wurde Bendix mit dieser einen Stimme gewählt und Entsetzen machte sich bei seinen Gegnern breit.

    Das alles ging Marx jetzt noch einmal durch den Kopf. Er sah nach rechts zu Tillmann Weller, der nach diesem Desaster einiges auszubaden hatte. Die beiden hatten ständig Stress miteinander, trotzdem hatte sich Weller mit seiner kleineren Partei in der Opposition auf die Seite von Marx geschlagen. Im Wahlkampf hatte er sich für eine Koalition mit Marx ausgesprochen. Viele trauten ihm nicht und fanden ihn, den bestangezogensten Mann im Haus, arrogant, kalt, berechnend, unnahbar. Viele neideten ihm den schnellen Aufstieg in seiner Partei. Er machte keinen Hehl daraus, dass auch die Partei von Bendix als Partner infrage gekommen wäre. Vielleicht hatte man ihn gerade deshalb im Verdacht, sich der Stimme enthalten zu haben. Das Gerücht hatte zunächst eine zerstörerische Wirkung in Form von hasserfüllten Briefen und Anrufen, bis Marx ein Machtwort sprach und öffentlich erklärte, er wisse zwar nicht, wer es gewesen sei, aber Tillmann Weller war es zu hundert Prozent nicht. Er wusste nicht sicher, dass es Weller nicht war, aber er war davon überzeugt, weil ihm glaubhaft gesteckt worden war, dass es sich um Bestechung handelte – Weller war aber nicht bestechlich, da war er sich sicher. Marx‘ Autorität hatte es Weller letztlich zu verdanken, dass er fortan seine Ruhe hatte.

    Alle blickten erschreckt auf, als das Lineal von Cordes auf den Holztisch klatschte. Das war seine Art, eine Sitzung zu eröffnen. Inzwischen war auch die Parteivorsitzende der kleinsten Partei des Landes eingetroffen: Sarah Sophie Winter, SSW genannt. Ihre Partei hatte noch nie bei einer Wahl die nötige Prozentzahl erreicht, um in das Parlament einzuziehen, aber sie war umso gefährlicher, weil sie aufgrund einer Sonderregelung immer einen Sitz im Parlament hatte. Da sie sich nie in einem Wahlkampf für die eine oder andere größere Partei aussprach, war es äußerst spannend, wie sie sich nach einer Wahl verhalten würde, sie traf jedenfalls immer eine für sie kluge Entscheidung und duldete die Gruppierung, die ihr am meisten versprach, ob das nun im Sinne der Wähler lag, war ihr egal.

    »Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren.« Cordes war aufgestanden, hatte seine Hände vor dem Körper zusammengefaltet und verbeugte sich. Er schlug dabei mit dem Oberkörper einen Halbkreis, hob seine Arme nach oben in Richtung Zuschauer und fuhr fort: »Auch Sie verehrte Gäste, herzlich willkommen zur heutigen Sitzung.« Im Hinsetzen sagte er: »Die Sitzung ist hiermit eröffnet.«

    Die Bezeichnung Völkerrechtliche Aspekte des Waffenexports für diesen Beratungsausschuss war genauso eine Alibi-Betitelung, wie der Ausschuss selbst nur reine Alibifunktion hatte. Es war geradezu grotesk, weil es jeder wusste. Keine der politischen Parteien konnte ein ernstes Interesse an der Diskussion des Themas haben. In Gang gebracht wurde das Ganze durch eine Empfehlung des Europäischen Parlaments zum Verhaltenskodex für Waffenausfuhren und Menschenrechtspolitik. Gerade weil es sich nur um eine Empfehlung handelte, und nicht um eine von den Einzelstaaten umzusetzende Regel, hätte man keinen großen Wirbel machen müssen, wenn es nach Bendix gegangen wäre. Marx konnte schon gar kein großes Interesse daran haben. Er wollte ein Land, das vom Schiffbau lebte, egal was das für Schiffe waren, wozu sie gebraucht wurden und ob sie jeder haben durfte – zum Beispiel Kriegsschiffe. Das war das Problem. So war er mit einem großen Teil seiner Wähler einen Scheinpakt eingegangen und musste Versprechungen machen, die er gar nicht einhalten wollte. Bendix selbst hatte aus nachvollziehbaren Gründen nichts dagegen, es ärgerte ihn aber maßlos, dass der scheinbare Widerspruch von Marx institutionalisiert wurde, um seinen persönlichen Konflikt zu lösen. Bendix musste nur aufpassen, dass sein eigenes Interesse daran nicht offenbar wurde.

    Marx stemmte sich aus seinem Sessel hoch. Sein mächtiger Oberkörper machte ihn zu einem Sitzriesen, sodass es manchen überraschte, wie klein er in Wirklichkeit war. Seine Beine waren im Verhältnis zu seinem Oberkörper zu kurz. Wenn er schnell ging, sah es aus, als sei er aufgezogen. Er beugte sich nach vorn und stützte sich auf seine Fäuste. Wie er so dastand, das pausbäckige Gesicht in Richtung Bendix gewandt, sah es aus, als hätte er keinen Hals. Er hatte in den letzten Monaten einiges an Gewicht zugelegt. Mit seinem Kurzhaarschnitt wirkte er jünger als er war. Trotz seiner gedrungenen Gestalt war er nicht behäbig, sondern eher gewandt.

    Seine Wangen waren ständig etwas hochgezogen, sodass seine oberen Zähne blitzten und es aussah, als würde er lächeln. Dies wirkte äußerst komisch, wenn er mit seiner mächtigen dunklen Stimme anhob, über irgendetwas vom Leder zu ziehen – so wie jetzt. Er holte Luft, zog die Stirn hoch und richtete sich mit einem Ruck auf. Er brauchte kein Mikrofon; man hörte ihn in jeder Ecke des Saales: »Wir empfinden es als unethisch und inkonsequent, eine Waffenausfuhr mit dem Arbeitsplatzargument zu rechtfertigen.«

    In den Zuhörerreihen klatschte jemand. Cordes fuhr dazwischen, kam aber nicht weit.

    Bendix war aufgesprungen. Mit beiden Armen ruderte er in der Luft, als wolle er sich freischwimmen: »Das ist doch Schwindel und Augenwischerei. Waffenausfuhr ist doch nicht gleich Waffenausfuhr«, sagte er.

    Damit hatte er natürlich recht. Das wusste auch jeder im Raum. Mit hochrotem Kopf stand er da. Cordes staunte nicht schlecht darüber, wie sich Bendix echauffieren konnte. Er lehnte sich etwas zur Seite und zog ihn in den Sessel zurück. Er hatte nicht bemerkt, wie Bendix schauspielerte, wie er gekonnt den politischen Dauerkonflikt als Spielwiese nutzte. Auch wenn etwas noch so gut war, Arbeit und Wohlstand brachte: die Gegenseite zerriss es. Jeder Gegenspieler machte das. Sie profitierten von der Politikverdrossenheit der Menschen, die Bestandteil ihres Wirkens war, wobei sich doch viele wunderten, wie frei sie sich immer noch auf der politischen Bühne bewegen konnten. Der Bürger müsste bei diesem politischen Theater doch eigentlich längst verrückt geworden sein. Zwar gab es jetzt neue Richtungen und Wege, die nachhaltiger und effektiver erschienen als das Demonstrieren oder Steinewerfen, aber es waren alles nur Versuche. Politik ohne Politiker oder Politik außerhalb der Parteien schien unmöglich. Und das wussten sie. Alle wussten auch, dass nach diesem Ausschuss alles so bleiben würde wie gehabt. Weller skizzierte das gelangweilt auf einem Blatt Papier: kleine Strichmännchen, die an der Blattseite ins Aus liefen.

    Marx fühlte sich als Quasiinitiator dieses Ausschusses in die Pflicht genommen und zelebrierte, was seine Jünger hören wollten: »Wichtig ist einzig und allein, und muss wichtig bleiben, dass Kriegswaffen keinesfalls in Konfliktgebiete oder Länder exportiert werden dürfen, in denen Menschenrechtsverletzungen begangen werden.«

    Du großer Gott, dachte Bendix, will er da denn nicht mitverdienen? Marx wusste doch ganz genau wie das hier gehandhabt wurde. Man exportierte in demokratische Nachbarländer mit etwas loseren Gesetzen, wobei der Weiterexport des gesamten Systems in ein Drittland von Anfang an feststand. So wurde der Schein vermittelt, als wäre der Export erlaubt. Der Export durch Thiel ging noch etwas raffinierter. Er exportiert im großen Stil Elektronik und Werkzeugmaschinen, mit denen Waffen produziert werden konnten, in Entwicklungsländer, die Cordes aus der Liste der eigenwaffenproduzierenden Länder einfach gestrichen hatte. Es handelt sich dabei ausschließlich um Länder, die aus wirtschaftlichen Gründen eine eigene Rüstungsindustrie aufgebaut hatten und nur Techniken importierten, mit denen sie Waffen vor Ort herstellen konnten. Für die Exporteure ließ sich durch die Errichtung von Produktionsstätten vor Ort das Verbot umgehen, Kriegswaffen in Konfliktgebiete oder Länder zu exportieren, in denen Menschenrechtsverletzungen begangen wurden. Was Thiel betrieb, und was Bendix zuließ, war glatter illegaler Waffenhandel und mit Strafe bedroht, aber keiner von ihnen hatte ein Unrechtsbewusstsein. Wenn nicht wir, dann andere, sagten sie sich. In der Tat gab es eine Reihe von Ländern, die frei exportierten was sie wollten und was gebraucht wurde – ohne jede Beschränkung. Die hiesigen Maschinen und Waffen waren aber wegen des hohen technischen Standards begehrt.

    Marx hob erneut an. Er wirkte jedenfalls so, als sei er entschlossen, die Ausfuhr zu verhindern, die zu internationaler Aggression eingesetzt wurde oder zu regionaler Instabilität beitragen konnte.

    Bendix drehte seinen Sessel Richtung Cordes und sah diesem an, was er dachte. Er musste das Spektakel wohl aussitzen.

    Aber, nicht faul im Kontern, hielt Cordes dagegen, dass so manche nach außen wirkende Aggression in Wirklichkeit eine Selbstverteidigung war, zu der jedes Land ein Recht hätte.

    Marx fuhr Cordes einfach in die Parade, indem er von seinem Zettel herunterleierte, dass dazu auch interne Repressionen mit Folter sowie andere grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlung oder Bestrafung wie Hinrichtungen gehörten.

    »Ja«, erwiderte Cordes und dieses Ja wirkte irgendwie lang gezogen, als ob er es gähnend aussprach, »wenn das bewiesen werden kann. Objektiv steht es doch in vielen Fällen nicht fest.« Er war beim Sprechen aufgestanden und um seinen Sessel herumgegangen, bis er hinter ihm stand. Er stemmte sich mit den Ellenbogen auf die Lehne. Man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, als benutze er die Rückenlehne als Schild. »Wenn wir uns auf Vermutungen stützen«, fuhr er fort, »dann bleibt kein Land übrig«, wobei er maßlos übertrieb, »und wir hätten nur noch die guten Länder«, wobei er Gänsefüßchen in die Luft malte, »zu versorgen, die sowieso überwiegend selbst produzieren und keinen rechten Bedarf haben.«

    Das Problem war, und das wussten hier auch alle, dass die Informationen oft nur von Flüchtlingen kamen, die hier um Asyl nachsuchten und zumeist wegen ganz anderer Umstände geflohen oder ausgereist und darauf angewiesen waren, ihr Heimatland schlecht zu machen.

    Es war kaum zu ertragen, was noch alles an müden Argumenten ausgetauscht wurde. Die Stimmung war ruhig, kaum aufgeheizt, als hätten alle ein Schlafmittel eingenommen. Bei den Zuhörern konnte man genau sehen, wer verständig war und wer nicht. Die einen schüttelten mit dem Kopf, die anderen gähnten.

    Über zwei Stunden zog sich die Sitzung nun schon hin. Etwas Bleiernes lag in der Luft, das die Wahrheit zudeckte und die Stimmung drückte, was aber auch an dem halb ausgefallenen Deckenlicht lag. Bendix konnte es kaum glauben, dass alles so ruhig und ohne Knall ablaufen sollte. Man würde sich nun bald auf eine Empfehlung an das Parlament einigen und auseinandergehen. Alle hätten ihr Ziel erreicht: Marx hatte sich aufgeplustert und so getan

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