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Steineid: Der Untergang der Hiltenburg
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eBook748 Seiten10 Stunden

Steineid: Der Untergang der Hiltenburg

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Über dieses E-Book

Ein furchtbarer Drache, verliebt in das Unmögliche.
Ein gefährlicher Eid, ausgesprochen in Verzweiflung.
Eine magische Quelle, die verraten wird.
Eine stolze Burg, die dafür fallen muss.....
…und ein Versprechen, das allen Widerständen trotzt!

Was würdest du tun, wie weit würdest du gehen? Welchen Weg würdest du einschlagen-für die Liebe?

Korvin, ein Sattlerssohn, und Mathilda, die Tochter von Korvins Lehensherr, kommen aus unterschiedlichen Verhältnissen. Durch einen Zufall treffen sie aufeinander und schwören sich, füreinander da zu sein, was auch immer kommen möge. Jahre später wird Mathilda von einem Drachen entführt, der sie zu seinem Hort machen will. Um sie zu befreien, muss Korvin nun alles geben und stellt sich fast unlösbaren Aufgaben. Mit Hilfe des Greifen Neruun gelingt es ihm, nicht nur Mathilda, sondern auch die magische Welt, die dabei aus den Fugen gerät, vom Drachen zu befreien und sie zu retten.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum22. Juli 2015
ISBN9783738034523
Steineid: Der Untergang der Hiltenburg

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    Buchvorschau

    Steineid - Stefanie Wenz

    Prolog

    Gegenwart, November 2014

    Es war ein schöner, sonniger Spätnachmittag. Es war schon kühl und der Berghang mir gegenüber lag bereits im Schatten. Ich kam gerade von der Arbeit und mein Sportprogramm stand auf dem Plan.

    Ich warf einen Blick auf die mitgebrachten Einkaufstüten während ich versuchte, einen Turnschuh im Stehen anzuziehen, was sich als gar nicht so einfach darstellte. Hopsender und unfreiwilliger Weise änderte ich meinen Standort in der Küche, bis der Schuh endlich an der richtigen Stelle war. Mein Kater, der gleichzeitig miauend versuchte, um das noch am Boden stehende, bzw. herumhüpfende Bein zu streichen, damit ich ihm endlich sein lang ersehntes und wohlverdientes Futter gab, erschwerte diese ganze Angelegenheit noch.

    Jetzt Morpheus! Mach dich vom Acker, bis ich... Aarg! Weiter kam ich nicht, denn in dem Moment stolperte ich über das Katzentier, wirbelte nebenbei wild mit den Händen in der Luft herum, riss dabei die Einkaufstüte mit den Eiern vom Tisch und fing mich gerade noch so an der Küchenplatte ab, bevor ich eine unsanfte Landung auf dem Küchenboden hingelegt hätte. Die Eiertüte landete knirschend neben mir.

    Das Resultat der Schleich-um-die-Beine-Aktion von Morpheus war ein zutiefst beleidigter Kater, der mich keines weiteren Blickes würdigend, fauchend aus der Küche abzog, weil ich ihn bei dem Versuch, das Gleichgewicht zu halten, getreten hatte. In der Küche blieb eine Packung mit kaputten Eiern zurück, die eigentlich für das morgige Mittagessen gedacht gewesen waren und eine fluchende Katzenbesitzerin, nämlich ich. Nach einer kleinen Putzaktion zog ich meinen zweiten Schuh vollends an, stöpselte mir beim Hinausgehen meine Kopfhörer in die Ohren und joggte los. Meine Jogging-Hausstrecke war der Maiweg, der sich am Berghang um meinen Wohnort, das Dorf Bad Ditzenbach, entlang schlängelte. Es lag am Fuße der schwäbischen Alb, mitten im oberen Filstal. Langsam aber stetig quälte ich mich den Schlossberg hinauf, auf dessen Plateau die Ruinen der Hiltenburg thronten. Es gab dort oben eine Grillstelle, die ich als Kind mit meinen Eltern oder auch an Wandertagen mit der Grundschule oft in Anspruch genommen hatte.

    Als ich an eine Weggabelung kam entschied ich, heute nicht meine Hausstrecke zu joggen, sondern hoch auf die Hiltenburg zu laufen.

    Ich schlug den steilen Weg zur Ruine ein, anstatt nach links die gemütliche, ebene Strecke zu laufen. Bald schon schwitzte ich trotz der Kühle, die der Abend brachte.

    Das letzte Stück war unverschämt steil und der Schweiß drang mir aus allen Poren. Als der alte Teil eines Wachturms des nordöstlichen Vorwerks rechter Hand in Sicht kam, gab ich auf und lief den Rest gehend weiter.

    Der Weg machte einen scharfen Knick nach links und ich folgte ihm bis zum Haupteingang der inneren Burganlage. Viel war nicht mehr übrig geblieben von der einst stattlichen Hiltenburg. Die Wehrmauern, ein paar Kellergewölbe und hie und da ein Mauerrest eines kleineren Gebäudes. Und natürlich die beiden Bergfriede. Eigentlich schade, dachte ich. Vor allem, da ich schon oft die Geschichte gelesen hatte, wie die Burg zerstört worden war. Angeblich durch einen dummen Zwischenfall.

    Ich schüttelte leicht den Kopf und ging über das grüne dunkle Gras, das nun den ehemaligen Burghof besiedelte, geradewegs nach vorn, wo ein Holzzaun Schutz vor einem tiefen Sturz bot und zusätzlich eine Holzbank aufgestellt war. Ich setzte mich darauf und genoss den weiten Blick ins Tal hinab. Wie es wohl gewesen war, als die Burg ihre Blütezeit hatte? Als die Helfensteiner über diese Region geherrscht hatten?

    10 Minuten später schreckte ich plötzlich aus meinen Gedanken auf. Während meiner Grübeleien hatte ich doch glatt die Zeit vergessen! Die Dämmerung hatte schon eingesetzt. Jetzt würde es zügig dunkel werden und ich sollte mich schleunigst auf die Socken machen, wenn ich nicht in der Nacht heimkehren wollte. Ich stand auf und trat den Rückweg an.

    Ich entschied mich spontan für den kleinen Trampelpfad, der über dem eigentlichen breiten, geschotterten Weg verlief, weil er kürzer war. Außerdem lief man über weichen Waldboden. Anfangs ging es nur leicht bergab, dann fiel der Pfad stärker nach unten ab. Links und rechts des Pfades erhoben sich alte Bäume, die jetzt fast kahl im Zwielicht standen. Nur vereinzelt waren noch gelbe und braune Blätter an den Ästen. Der kalte Herbstwind würde auch diese Überbleibsel rasch fortwehen. Hie und da sah man umgestürzte Baumstümpfe mit der ganzen Wurzel daran oder auch abgesägte, vor sich hingammelnde Baumüberreste. Richtige Kuhlen im Waldboden waren zu sehen, wo die Wurzelballen einst im Boden gesteckt hatten. Verziert waren diese Gebilde durch lauter kleine Kalksteinchen, die sich zwischen dem Wurzelwerk festgesetzt hatten und die für diese Karstgegend so typisch waren.

    Ich trottete also in gemächlichem Tempo vor mich hin, summte das Lied mit, das ich gerade hörte und sah dabei immer auf den schmalen Pfad vor mir, damit ich ja jeden Stein und jede Wurzel sah, die mir gefährlich werden konnten. Doch was ich nicht sah, war, dass sich mein rechter Schnürsenkel verselbstständigte...

    Dieser dämliche, dünne Strick verhakte sich unglücklich an einem dünnen, aber durchaus fest im Boden verwachsenen Trieb. Da ich gerade mit dem linken Fuß in der Vorwärtsbewegung war, blieb ich prompt an dem gespannten Seilchen hängen. Ich fing mich noch halbwegs ab. Soweit so gut. Aber um mich ganz abzufangen, brauchte ich den rechten Fuß, den ich in einem Reflex nach vorne zog. Der festgehakte Schnürsenkel riss mit einem jämmerlichen Zingggg ab, ich knickte beim beschleunigten Aufkommen schmerzhaft mit dem rechten Fuß um, und... BÄÄÄÄM! - Eine Joggerin weniger auf dem Weg. Leider war ich diejenige welche...

    Ich ruderte wild mit den Armen, der iPod flog dabei aus meiner Tasche, was mir in diesem Moment ziemlich egal war. Die Büsche am Abhang kamen unaufhaltsam auf mich zu. Mit einem Schmerzensschrei auf den Lippen wegen des umgeknickten Knöchels, dicht gefolgt von einem sehr lauten und hier zensierten Fluch stürzte ich den Waldhang hinunter. Ich versuchte noch, mich mit den Händen abzufangen, was auch zum Teil gelang, doch der Schwung, der in dem Sturz lag, trug mich zu schnell voran. Ich rollte ein paar Mal um die eigene Achse weg vom Pfad und purzelte durch die Blätter, bis mich eine hoch gewachsene, dicke Buche am weiteren Fallen hinderte. Dabei schlug ich mit dem Kopf an den Stamm des Baumes und mir wurde einen Moment schwarz vor Augen.

    Als ich wieder zu mir kam, war es bereits dunkel. Mir taten alle Knochen weh, insbesondere der Kopf und der Knöchel des rechten Fußes. Rasende Kopfschmerzen hatten sich meiner bemächtigt, so dass ich kaum klar denken konnte. Mir war zusätzlich schlecht, was sich darin äußerte, dass ich einen Würgereiz gerade noch so unterdrücken konnte. Langsam tastete ich meinen Kopf ab. Als ich an die Stelle kam, wo ich Bekanntschaft mit dem Baum gemacht hatte, zuckte ich schmerzerfüllt zusammen. Eine dicke Beule war zu spüren. Und etwas Klebriges war in meinem Haar. Ich zog die Finger zurück. Ich wusste, auch ohne dass ich es sah, dass es sich um Blut handelte. Es roch danach.

    Super... mir blieb auch nichts erspart...

    Mir wurde erneut schlecht, und diesmal drehte ich mich weg und würgte. Dabei zog ein stechender Schmerz durch meinen rechten Knöchel und ich stöhnte gepeinigt auf. So eine Scheiße aber auch!

    Ich war allein, weit und breit niemand, der mir helfen könnte.

    Grandios.

    Tränen stiegen mir in die Augen und ich fing an zu heulen, was mich zwar auch nicht weiter brachte, aber mir wenigstens ein wenig Erleichterung verschaffte.

    Das Weinen wurde durch eine lodernde Wutwelle abgelöst. Wut auf mich selbst, Wut auf meine Tollpatschigkeit, Wut auf meine tolle Art und Weise, falsche Entscheidungen zu treffen. Wut auf den hässlichen kleinen Kobold in meinem Kopf, der mit einer Hacke herumlief und mich unablässig peinigte.

    Nachdem ich also eine Weile wütend mit allem um mich herum gewesen war, kam die Selbstmitleidsphase.

    Ich lachte bitter auf und zuckte sofort zusammen, als der kleine Kobold in meinem Kopf noch stärker zu hämmern anfing. Nebel zog langsam auf, normal für einen Novemberabend im Täle. Ich fing an zu frösteln. Die Joggingjacke und zugehörige Hose waren nicht gerade das wärmste, was man sich für eine Nacht im Freien aussuchen würde.

    Entmutigt schnappte ich mir einen Stein und holte zum Wurf aus.

    Ich schwöre bei diesem verdammten Stein in meiner Hand, dass..., begann ich und wollte den weißen Kalkstein gerade wütend von mir wegschleudern, als plötzlich eine Gestalt auf mich zukam, die Hand abwehrend von sich gestreckt hielt und mich in leisem, aber eindringlichem Ton ansprach.

    Ich würde an eurer Stelle auf nichts schwören, was ihr nachher bitter bereuen könntet, mahnte mich eine sanfte Frauenstimme.

    Ich blinzelte.

    Vor ein paar Sekunden war doch noch niemand hier gewesen, oder? Halluzinierte ich schon?

    Ich ließ mein Wurfgeschoss mitsamt der Hand zurück auf den Boden sinken. Mehr als ein Ähh, brachte ich nicht heraus und sah die junge Frau verwirrt an. Es handelte sich um eine Person im Alter von vielleicht 19 Jahren. Sie hatte unverschämt langes braunes Haar, das zum Teil kunstvoll in Zöpfen um ihren Kopf herumgeschlungen war. Unter einem Umhang trug sie ein wundervoll mitternachtsblaues, eng anliegendes Kleid aus einem schön anzusehenden, weich fließenden Stoff, welches am Rücken fest geschnürt wurde und so gar nicht der heutigen Mode entsprach.

    Eine gold-silberne Borte umlief den Saum des Kleides und auch den des Umhangs darüber. Der Umhang selbst war so weit, dass er das Kleid fast vollständig verdeckte und ihn mit einer eleganten silbernen Brosche am Hals verschloss. Unauffällig kniff ich mich, ob ich vielleicht träumte. Das Mädchen blieb und kam näher. Sie blickte mich lange an, dann nahm sie ohne ein weiteres Wort zu sagen den Stein aus meiner Hand und legte ihn sanft neben mich ins Laub zurück.

    Lasst Vorsicht walten, es könnte euch sonst schlecht ergehen, meinte sie.

    Ich weiß nicht, was Sie meinen. Aber gut, dass Sie da sind. Ich brauche Hilfe, ich bin verletzt, jammerte ich plötzlich los. Sie nickte und beugte sich zu mir herab. Mit schnellen Fingern überprüfte sie meine Verletzungen. Als sie meinen Kopf berührte, musste ich unwillkürlich aufstöhnen und zuckte automatisch zurück.

    Ihr seid schwer verletzt. Aber keine Angst. Mein Geliebter wird Hilfe holen, sofern es ihm irgend möglich ist. Ich werde solange hier bei euch wachen, damit euch kein weiteres Leid geschieht, meinte sie mit unglaublich ruhiger Stimme und setzte sich neben mich ins Laub. Ich dachte nicht weiter darüber nach und nickte.

    Böser Fehler.

    Die Kopfschmerzen stachen wie ein Speer in mein Hirn und erschwerten mir das Denken und auch die korrekte Wahrnehmung meiner Umgebung. Die Unbekannte legte ihre Hand beruhigend auf meine Schulter und bedeutete mir, mich nicht anzustrengen. Der Schmerz ließ langsam wieder etwas nach.

    Bewegt euch nicht. Es wird alles gut werden. Das verspreche ich euch. Ihr müsst nur wach bleiben. Damit ihr nicht einschlaft, werde ich euch mit einer Geschichte unterhalten. Ihr müsst aufmerksam zuhören, versprecht ihr mir das?

    Ich nickte ganz sachte, wegen der Kopfschmerzen. Und bereute es sofort. Die junge Frau setzte sich neben mir zurecht und schob den Stein, den ich vorhin in der Hand gehalten hatte, noch ein kleines Stück weiter von uns beiden weg.

    Sie handelt von großer Liebe und bitterem Hass, von Recht und Unrecht, ewiger Treue und schrecklichem Verrat. Sie ist aus den Tagen, als die Burg über euch in ihrem vollen Glanze erstrahlte, sagte sie sanft. Dabei war ihre Stimme mit einem leicht bitteren Unterton versehen, der kaum herauszuhören war.

    Von der Hiltenburg? Ich würde sie sehr gerne hören, antwortete ich leise und neugierig.

    Nicht einschlafen, mahnte sie mich noch einmal. Lauscht aufmerksam meinen Worten...

    Und dann begann sie, aus den alten Tagen dieser Gegend zu erzählen. Die Müdigkeit war mit einem Mal verflogen und ich hörte die ganze Nacht zu, was diese Fremde mir zu erzählen hatte...

    Teil 1

    Kapitel 1

    Tizimbach am Dorfrand, anno 1414

    Korvin! Kooorviiin! Verflixt, wo steckt denn der Junge nur schon wieder?, rief Alfrida, seine Mutter, ärgerlich. Dazu hatte sie ihre Hände zu einem Trichter geformt und damit in Richtung Waldrand gerufen.

    Keine Antwort.

    Der Junge war nun acht Jahre alt. Alt genug, um in der kleinen Sattlerei und Schneiderei der Familie seinen Teil beizutragen. Aber der Lümmel hatte nichts anderes im Kopf als Unfug zu treiben anstatt ordentlich zu arbeiten. Er trieb sich lieber in den Wäldern um die Hiltenburg herum oder spielte mit den Jungen aus dem Dorf Ball. Die Frau seufzte leise.

    Vielleicht würde sie ihn ja dort finden.

    Alfrida raffte resigniert ihre Röcke und drehte sich um, um an anderer Stelle nach dem Knaben zu suchen. Das würde sicherlich wieder Ärger mit seinem Vater geben, wenn sie ihn nicht innerhalb der nächsten halben Stunde fand.

    Wo steckte der Bursche nur wieder?

    Korvin indessen, der seine Mutter durchaus gehört hatte, aber keinerlei Anstalten machte, auf den Ruf zu reagieren, kicherte leise und streunte tiefer in den Wald hinein, damit er nicht vorzeitig gefunden wurde.

    Noch hatte er Zeit. Noch war es nicht so weit, seine Zeit als Handlanger bei seinem Vater totzuschlagen. Es gab hier viel Interessanteres zu entdecken. Jedenfalls, wenn es nach ihm ging.

    Sicherlich, er würde bald heimgehen müssen, bevor sein Fortbleiben richtigen Ärger verhieß. Korvin hatte es nämlich sehr gut heraus, die Grenze zwischen nur verbalem Ärger und körperlich spürbarem Schmerz gut abschätzen zu können. Er hatte noch ungefähr 20 Minuten. Und die würde er bis zuletzt für sich nutzen.

    Leise vor sich hin pfeifend wanderte er etwas tiefer in den Wald hinein. Korvin kannte sich hier aus wie in seiner Westentasche. Nicht weit von hier gab es einen kleinen Bachlauf, den er nun ansteuerte. Ein kleiner Wildpfad schlängelte sich durch das Unterholz, welchem der Junge folgte, bis er an einer großen Fichte vorbei kam. Dann bog er links ab, quer durch das Gehölz und stiefelte bergan. Während seiner Tour warf er einen kleinen, mit Korn gefüllten Ball aus Stoff von der einen in die andere Hand und wieder zurück. Korvin hatte eine Vorliebe für Bälle. Sie waren einer der wenigen Gründe, warum er versuchte, nicht allzu spät zu seiner Arbeit zu gelangen. Wenn er mithalf, durfte er Stoff oder Lederreste, die übrig waren, am Ende des Tages einsammeln und für sich und seine Ideen verwenden. Dieser Ball war sein stolzer Besitz, der Erste, den er selbst geschneidert hatte und mit dem er auch hervorragend umzugehen wusste. Dementsprechend bunt zusammengewürfelt war sein Spielzeug auch, da es aus lauter Flicken bestand. Er konnte ihn nicht nur von einer Hand in die andere werfen, nein, oftmals setzte er dazu auch andere Körperteile wie Knie, Knöchel, Ellbogen oder auch den Kopf ein, um den Ball in Bewegung zu halten. Wenn man Korvin dabei zusah, sah es manchmal so aus, als ob der Ball wie eine lebendige Maus über ihn hinwegsauste.

    Korvin konnte nun das Plätschern des Bächleins hören. Er warf gerade seinen bunten Ball wieder in die Höhe, als es im Gebüsch neben ihm knackte und krachte. Erschrocken riss er die Augen auf, doch ausweichen konnte er nicht mehr, als etwas, oder, wie er im Nachhinein feststellen musste, als jemand durch den Schlehdorn hindurchbrach und ihn schlichtweg umrannte. Er wurde unsanft von den Füßen geholt.

    Korvin fiel auf seinen Hosenboden und sein Ball flog unaufgefangen an ihm vorbei. Er traf ein kleines Mädchen von vielleicht 5 Jahren, das in vollem Tempo versucht hatte, durch Korvin hindurch zu rennen. Heilloses Durcheinander war entstanden.

    Zappelnd lag sie über seinen Beinen auf dem Rücken, das Haar wirr durcheinander, der Umhang halb um ihre Beine verschlungen. Sie kämpfte sich strampelnd und kratzend frei und rutschte von ihm halb herunter. Fluchend drückte er sie weiter von sich und zog einen Fuß nach dem anderen unter dem strampelnden Bündel über ihm hervor. Das Mädchen, das sich in der Zwischenzeit von ihrem Umhang befreit hatte, machte Anstalten, gleich weiter zu rennen, ohne ein Wort der Erklärung. Doch bevor sie verschwinden konnte, hielt er sie blitzschnell am Ärmel fest. Der Stoff straffte sich und das Kind stoppte abrupt.

    Halt, hiergeblieben du kleine Kröte, das hat gerade verdammt wehgetan!, fauchte er sie an, doch sie riss sich mit einem Ruck von ihm los und wollte sich gerade umdrehen, als er sie nochmals anrief und sie ein weiteres Mal einfing.

    He, hiergeblieben hab ich gesagt!

    Doch dafür kassierte er einen Tritt gegen sein Schienbein. Schmerz durchzuckte ihn. Seine Hände fuhren reflexartig an die Stelle, die das Mädchen soeben getroffen hatte. Das Kind entwand sich wie von selbst seinem Griff, als er das tat.

    Au verdammt, na warte, du kleines Gör, das zahl ich dir heim...!, schrie er, doch das Mädchen rannte bereits von ihm weg. Und Korvin rannte wie der Blitz hinterher, nachdem er seinen Ball gesucht und vom Boden aufgehoben hatte. Seinen Schatz konnte er nicht hier liegen lassen, auch wenn das hieß, dass die kleine Kröte einen kleinen Vorsprung bekam. Vermutlich hätte er ihn später nicht mehr gefunden. Naja, er war schließlich älter und schneller, dachte er grimmig und nahm mit der kurzen zeitlichen Verzögerung die Verfolgung auf.

    Sie war schnell, das musste er ihr lassen. Aber er war schneller, stellte er zufrieden fest. Nach weiteren 3 Minuten Hetzjagd durch den Wald schrie er ihr hinterher:

    He du kleine Kröte, was machst du hier überhaupt so allein im Wald? Wissen denn das deine Eltern?, rief er, um sie zu provozieren. Vielleicht lenkte es sie ja vom Rennen ab und er konnte dadurch ein Stück aufholen. Und tatsächlich, es klappte. Jedoch nicht so, wie er ursprünglich gedacht hatte. Das Kind vor ihm rammte die Fersen in den Waldboden und drehte sich angriffslustig zu ihm um.

    Was weißt du denn schon von meinen Eltern? Ich bin immerhin schon 5! Und ich kann sehr gut alleine auf mich aufpassen. Du ja offensichtlich auch. Wissen das denn DEINE Eltern, dass du hier bist?, sagte sie frech zurück und stellte sich kerzengerade hin, damit sie noch ein wenig größer wirkte. Korvin bremste mit Mühe seinen Schwung ab und blieb vor ihr stehen. Sein Herz raste und schnaufend zog er Luft in seine Lungen. Seine Überraschung darüber, dass sie so plötzlich angehalten hatte, überspielte er mit Worten:

    Tatsächlich?, sagte er belustigt, und stellte sogleich klar, mit wem sie es zu tun hatte. Ich bin immerhin drei Jahre älter als du und kenne mich hier bestens aus, was man von dir wohl nicht behaupten kann.

    Die Kleine verschränkte die Arme vor der Brust.

    Angeber, postulierte sie schlicht.

    Das Grinsen fiel ihm regelrecht aus dem Gesicht und Ärger machte sich in ihm breit. Korvin verschlug es fast die Sprache. So klein, und schon so aufmüpfig und frech. Er ballte die Hände zu Fäusten. Als er sich halbwegs wieder gefasst hatte, erwiderte er:

    Selber Angeber. Wer hat denn damit angefangen? Das warst ja wohl du!

    Anstatt einer verbalen Antwort streckte sie ihm kurzerhand die Zunge heraus, eine Beleidigung, die er so nicht auf sich sitzen lassen wollte. Dieses Gör hatte es faustdick hinter den Ohren und bettelte förmlich um eine Abreibung. Korvin knirschte mit den Zähnen. Die konnte sie gerne haben. Korvin spürte, wie er darüber errötete, was ihn nur wütender machte. Eigentlich prügelte er sich nicht mit Mädchen. Gerade als er sich auf sie stürzen wollte, machte sie einen kleinen Schritt zurück und stoppte ihn mit dem Satz:

    Rühr mich an, und ich schreie, so laut ich kann!

    Und? Dich wird hier keiner hören, wenn ich dich übers Knie lege und dir den Hintern weichklopfe!

    Glaubst du, ich hab Angst vor dir?? Versuchs doch mal, forderte sie ihn keck heraus und reckte das Kinn vor.

    Aber etwas an ihr ließ ihn zögern. Die Kleine sagte das mit so viel Selbstvertrauen und Überzeugung in der Stimme, dass er ihr glaubte. Er musterte sie genauer. Vorhin bei der Verfolgung war ihm das gar nicht aufgefallen, doch jetzt... Ihre Kleidung entsprach nicht gerade der Gewandung der einfachen Dörfler. Sie trug kein grobes Tuch wie andere Kinder, die er so kannte. Ihr Kleid war von feinerer Webart. Auch ihr Umhang bestand nicht aus ungefärbter Wolle, sondern beides hielt sich in einem dunklen Grünton. Wenn man genau hinsah, konnte man um ihren Kopf sogar einen geflochtenen Haarkranz unter den vielen zerzausten blonden Strähnen und dem Laub erkennen, das sich darin verfangen hatte. Sie war hübsch, keine Frage. Aber unglaublich frech.

    Dennoch konnte er sich gerade keinen Reim darauf machen, wer da vor ihm stand und ihn herausforderte.

    Du spuckst ganz schön große Töne für einen Zwerg.

    Langsam ging er auf sie zu. Sie plusterte sich wieder auf.

    Pass auf, was du sagst. Ich bin kein Zwerg, ich bin Mathilda von Helfenstein, nur, damit du's weißt! Und jetzt geh mir aus dem Weg, du stehst mir in der Sonne, schleuderte sie ihm trotzig entgegen. Korvin blies lautstark die Luft aus seinen Backen. Er zuckte kurz, dann sackten seine angespannten Schultern nach unten bei der Erwähnung des Namens. Urplötzlich passte alles Gesehene und Gehörte zusammen. Na super.

    Fast hätte er die Tochter seines Leibherren verprügelt, was ihm sicherlich nicht gut bekommen wäre. Und zu allem Überfluss hatte ihn dieses Geplänkel wertvolle Zeit gekostet. Waren die 20 Minuten schon vorbei, die er zur Verfügung gehabt hatte? Sicher. Was sollte er nun also machen?

    Na Danke. Weißt du was? Verschwinde einfach. Ich hab schon viel zu viel Zeit mit dir verplempert. Ich muss los, brummte er, wischte sich eine blonde Haarsträhne aus den Augen und machte Anstalten, sich herumzudrehen und Mathilda von Helfenstein einfach im Wald stehen zu lassen. Er fing wieder an, mit seinem Flickenball zu spielen.

    Das Mädchen selbst stand unschlüssig hinter ihm. Irgendwie hatte sie eine andere Reaktion von ihm erwartet, als dass er sie einfach hier stehen ließ. Außerdem hatte sie seine Gedanken ja nicht mitbekommen.

    Hey, lass mich nicht allein!, rief sie plötzlich.

    Warum? Du findest dich doch hier allein zurecht, hab ich gedacht?

    Das schon, aber... naja, Ich bin nicht sehr oft hier. Und bevor ich geschnappt werde, will ich wenigstens ein Abenteuer erleben, nuschelte sie nun verlegen.

    Ach, so ist das also. Aber weißt du was? Nicht mein Problem. Mit diesen Worten ließ er sie endgültig stehen.

    Nach drei, vier getanen Schritten Korvins erklang eine Stimme im Wald. Sie war noch fern, kam aber eindeutig in ihre Richtung näher.

    Er durfte mit Mathilda nicht erwischt werden, das war klar. Und Mathilda wusste das auch. Sie gedachte durchaus, dieses Wissen auszunutzen, wie er feststellen musste.

    Wenn du jetzt gehst, schreie ich.

    Wie bitte? Das konnte doch nicht ihr Ernst sein.

    Korvin stoppte. Dieses kleine Miststück hatte ihn doch tatsächlich in ihrer Hand. Er hasste es, dass sie ihn so einfach erpressen konnte. Wenn er hier blieb, würde ihm daheim eine Ohrfeige sicher sein, das war gewiss. Ging er weiter, könnte er große Probleme kriegen, weil sie ihn einer Untat bezichtigte, die er gar nicht begangen hatte. Es war nicht gut, wenn ihn jemand von den Wachen der Burg hier direkt bei Mathilda antraf. Es schickte sich nicht, dass ein Junge von niederem Stand mit einem Mädchen von höherem Stand allein war. Und das wusste das kleine Gör ebenfalls. Aber wenn sie schrie, hätte er keine Chance. Auch wenn sie ihn zuerst über den Haufen gerannt hatte, bevor er sie verfolgt und gestellt hatte, würde er als Gemeiner dafür sicherlich büßen müssen. Sie nicht.

    Dazu hatte er keine Lust. Er brummte unwillig und warf ihr einen giftigen Blick zu. In seinem Kopf arbeitete es fieberhaft.

    Was soll's, dachte Korvin. Zu spät war er sowieso schon. Ob er nun 10 Minuten oder eine Stunde zu spät kam machte den Braten auch nicht mehr fett.

    Was willst du überhaupt von mir? Und viel wichtiger, wie krieg ich dich je wieder los?

    Oh, das ist ganz einfach. Zeig mir deinen Lieblingsplatz hier im Wald und danach bringst du mich einfach zu meiner Picknickstelle bei den Apfelbäumen zurück, von wo ich fortgelaufen bin, antwortete Mathilda mit unschuldigem Augenaufschlag und einem siegesgewissen Grinsen. Ihr Gegenüber seufzte, duckte sich aber noch mehr hinter die Büsche, als er in einiger Entfernung eine Bewegung im Wald sah. Jemand rief wiederholt nach dem Mädchen.

    Also gut, flüsterte er. Wenn ich dich nur dadurch loswerden kann... dann komm mit. Erst mal bring ich uns von hier weg, bevor uns eine der Wachen schnappt, flüsterte er. Für Mathilda wäre das nicht schlimm, für ihn jedoch umso mehr.

    Mathilda lächelte verschmitzt, wie wenn sie etwas wusste, von dem er nichts wusste. Aber sie schwieg und Korvin verdrängte diesen seltsamen belustigten Blick ihrerseits, mit dem sie ihn gerade bedachte.

    Super, dann mal los, gluckste sie fröhlich und klatschte voller Erwartungen die Hände.

    Schscht, machte Korvin und unterstrich sein Zischen mit einer Geste seiner Hand, damit sie leise war.

    Mit einem Kopfnicken bedeutete er ihr, ihm zu folgen. Und sein Blick sagte ihr, dass sie dabei überaus leise sein sollte. Mathilda zog ihr Kleid bis über die Knie, damit es nicht über das Laub des Waldes schliff und durch ein Rascheln ihren Standort verriet. Es schien ihr ziemlich egal zu sein, ob das standesgemäß war oder nicht.

    Korvin schlug einen großen Bogen um die suchende Person, die er erspäht hatte. Es war eine Frau, wie der vorige Ruf ihm schon verraten hatte. Aber das hieß nicht, dass die Dame allein hier unterwegs war. Irgendwo waren sicherlich auch Burgwachen am Suchen. Besorgt sah er sich um, entdeckte aber sonst niemanden. Korvin schlug einen Weg ein, der erst einmal weg von der Dame führte. Die Beiden huschten dabei von einem dicken Baumstamm zum nächsten.

    Jede noch so kleine Deckung ausnutzend, entfernten sie sich immer mehr von ihrem vorigen Platz, wo der Sattlerjunge das kleine Burgfräulein gestellt hatte.

    Korvin führte Mathilda quer durch das Unterholz des Waldes. Er wählte nicht gerade den einfachsten und leichtesten Weg, weil er Mathilda ärgern wollte. Doch das kleine Mädchen war taff. Weder murrte sie, noch jammerte sie diesbezüglich. Im Gegenteil, es schien ihr sogar zu gefallen, dachte er grimmig. Ab und an blieb sie mit ihrem Umgang oder dem Saum ihres Kleides in den Büschen hängen, die sie durchquerten. Dann befreite sie sich wortlos daraus und ging weiter hinter Korvin her. Ihre Kleidung jedoch litt beträchtlich. Während sie so gingen, stiegen, sich durch Gesträuch hindurch drückten, verflog Korvins Ungemach auf Mathilda immer mehr. Neugier machte sich stattdessen in ihm breit. Denn Mathilda war nicht wie die anderen Mädchen, die er so aus dem Dorf kannte. Die Mädchen dort waren... eben Mädchen. Der Junge konnte nicht genau sagen, was Mathilda von ihnen unterschied. Am Stand lag es sicherlich nicht. Es war vielmehr ihre lockere Art und Weise, die er mehr und mehr als angenehm empfand. Sie hatte keine Angst, jedenfalls nicht vor ihm oder dem Wald. Und auch ihre Spitzfindigkeit war irgendwie faszinierend.

    Als sich der Junge sicher war, dass sie weit genug von den Suchenden entfernt und allein waren, führte er Mathilda zu einem riesigen Findlingsstein, der im Wald neben einem kleinen Bachlauf aufragte. Der Bachlauf hier unten war an dieser Stelle gemächlich, doch noch weiter oben stieg er steil an und floss aus dem Fels heraus über viele kleinere Kalkfelsen hinunter.

    So, jetzt haben wir eine Weile Ruhe, würde ich denken, sagte der Junge zufrieden. Hier sind wir abseits von den Wegen. Die Sträucher sind dicht und durch das Wasser sehr zahlreich und der Bachlauf übertönt mit seinem Geplätscher unser Gerede.

    Klasse. Ich danke dir, antwortete Mathilda aufrichtig. Dann, nach einer Weile fügte Sie hinzu:

    Ist das dein Lieblingsplatz?

    Jap. Korvin nickte. Gefällt er dir?

    Mathilda sah sich um. Es war traumhaft, fand sie. Sie drehte sich dabei im Kreis, um die ganze Pracht dieses Ortes wahrzunehmen. Alles war so schön! Die kleinen weißen Blumen, die den Bachlauf ein Stück weiter unten säumten, der große Stein vor ihr, der an seinem Fuß mit Moos und kleinen Farnen überwachsen war. Das klare Wasser, das fröhlich vor sich hin gluckerte.

    Es ist... einfach... wunderbar hier, freute sie sich und lachte dabei. Mathilda suchte sich eine Sitzgelegenheit. Ein weiterer Stein, der eine Elle entfernt vom Bachufer lag, war ihr dann recht. Sie schlüpfte aus ihren Schuhen und ließ die nackten Füße ins Wasser gleiten. Während sie mit den Zehen im kühlen Nass planschte, versuchte sie, Korvin ihre Situation näher zu erklären.

    Weißt du, ich schaff‘s leider nicht allzu oft mich aus der Burg rauszuschleichen. Manchmal hab ich das Gefühl, etwas erdrückt mich. Es ist ganz schön anstrengend, die Tochter des Grafen zu sein, das kann ich dir sagen. Ich wünschte, ich könnte mit dir tauschen, sinnierte sie vor sich hin und ruderte mit den Füßen im Wasser hin und her.

    Glaub mir, das willst du nicht. Seine Antwort fiel etwas schroffer aus als ursprünglich geplant.

    Warum? Du bist frei zu tun, wozu du Lust hast. Ich will das auch können.

    "Ganz so einfach ist es nicht, Mathilda. Ich bin ein Leibeigener. Weißt du, was das heißt? Ich erklär's dir: ich und meine ganze Familie gehören deinem Vater. Ich darf diese Region nicht ohne Erlaubnis verlassen. Tue ich es trotzdem, werde ich schwer bestraft. Meine Eltern müssen viel und schwer arbeiten, damit wir Geld haben, um uns Lebensmittel oder Stoff kaufen zu können.

    Du dagegen... dir steht alles offen. Du hast Geld, schicke Kleidung und keine Sorge, wo du das nächste Abendessen herbekommst. Und du kannst reisen. An jeden großen Ort, egal, wohin du möchtest. An den Kaiserhof, wenn du das willst, zum Beispiel!" klärte er sie auf.

    Aber du bist doch frei. Hier! Du kannst machen, was du willst, hierher an deinen Lieblingsort gehen zum Beispiel, wann immer du willst! Ich dagegen... ich bin unfrei, irgendwie. Tu dies nicht, tu das nicht, das schickt sich nicht für ein Mädchen... verstehst du? Mach dich nicht schmutzig, drück dich gewählt aus...ich hab das so satt. Ich dürfte vermutlich nicht mal mit dir reden, geschweige denn allein hier mit dir sitzen ohne dass jemand dabei ist. Das ist doch alles Quatsch..., fauchte sie verdrossen. Sie zog einen Fuß aus dem Wasser. Die Haut war gerötet, denn das Wasser war sehr kalt. Sie stützte das Kinn auf ihr Knie, bevor sie das Gespräch weiterführte.

    Die beiden erwogen noch eine ganze Weile, wer von ihnen besser davonkam, doch auf einen gemeinsamen Konsens kamen sie dabei nicht.

    Jeder Stand hat seine Vor- und Nachteile. Einigen wir uns doch einfach darauf, versuchte es Korvin.

    Fein. Aber weißt du was? Lass uns doch die Vorteile beider Seiten nutzen, schlug die kleine Mathilda plötzlich vor und streckte sich.

    Und wie, bitte schön, soll das gehen?, fragte Korvin überrascht.

    Wir sind doch Freunde, oder?, fragte sie ihn im Gegenzug. Korvin nickte zögerlich. So Freunde, wie man eben sein konnte, wenn man sich seit knapp einer Stunde kannte, dachte er.

    Doch für Mathilda schien diese Stunde schon wie eine kleine Ewigkeit. Sie rutschte aufgeregt hin und her.

    "Lass uns was machen, was nur Freunde tun. Nur zwischen uns beiden. Das macht mein Vater auch immer mit den anderen, er nennt das ein Bündnis.

    Aber unser Bündnis bleibt geheim, nur unter uns." Mathilda setzte sich aufrecht hin und sah Korvin mit einem feierlichen Gesichtsausdruck an. Vermutlich kopierte sie dabei den Gesichtsausdruck ihres Vaters. Und im Folgenden nahm sie sogar den Tonfall des Grafen an, so kam es Korvin jedenfalls vor.

    Ich verpflichte mich hiermit mein Leben lang und sofern es in meiner Macht steht, dir zu helfen, wann immer du mich brauchst. Außerdem werde ich versuchen, dich so oft wie möglich zu sehen. Schwörst du dasselbe? Erwartungsvoll schaute sie ihm in die Augen. Sie wirkte dabei so verschwörerisch, dass Korvin unwillkürlich schmunzeln musste.

    Der Junge überlegte kurz. Viel gab er darauf ja nicht. Denn vermutlich würde Mathilda ihn schon wieder vergessen haben, sobald sie durch die Tore der Hiltenburg schritt. Sie war ja erst 5. Also, was sollte man da auf einen solchen Schwur schon geben? Und so oft würden sie sich danach sicher nicht sehen. Dazu war er von zu niederer Herkunft.

    Aber schaden konnte das Bündnis sicherlich auch nicht. Zumindest würde er dabei nichts verlieren. Es war sehr unwahrscheinlich, dass sie sich nach diesem Tag nochmal über den Weg laufen würden. Korvin öffnete den Mund und Worte, die das Mädchen verzückt aufjauchzen ließen, sprudelten daraus hervor.

    Also gut. Ich schwöre, dass ich dir helfe, solltest du mich ebenfalls brauchen. Mathilda klatschte vor Freude in ihre kleinen Hände.

    "Fein, das ist toll! Jetzt sind wir miteinander verbündet! Aber mal so richtig.

    Vergiss bloß nicht, das Bündnis ist unauflösbar", sagte sie voller Überzeugung und strahlte über das ganze Gesicht. Ihre Bäckchen hatten sich dabei vor Aufregung gerötet. Es sah süß aus, fand Korvin. Dann zog sie ihre Füße aus dem Wasser, schlüpfte wieder in ihre Schuhe und stand auf.

    Weißt du was? Ich mag dich. Dabei schlang Mathilda kurz die Arme um Korvins Bauch und drückte ihn an sich. Korvin war peinlich berührt. Außer seiner kleinen Schwester hatte das noch kein Mädchen getan. Und die kleine Evi war gerade mal 3 Jahre alt.

    Aber jetzt lass uns gehen. Tante Lisbet wird sicher bald aufhören zu suchen, und dann sollte ich wieder bei den Apfelbäumen sein.

    Schon stapfte sie los. Korvin hielt sie mit einem Griff an den Arm auf.

    Zur Apfelwiese geht's da lang.

    Er deutete in die andere Richtung. Anscheinend kannte sich das Mädchen hier überhaupt nicht aus, auch wenn sie etwas anderes behauptet hatte.

    Oh, okay. Dann...geh du eben voran, meinte sie keck und überspielte geschickt ihre Unwissenheit.

    Der Junge schüttelte nur den Kopf und seufzte leise. Niedlich war sie ja, aber er wurde einfach nicht aus ihr schlau. Er stapfte voran. Mathilda folgte ihm dichtauf, wieder mit dem Kleid bis über die Knie gezogen.

    Wer sucht dich denn überhaupt alles? Nur damit ich weiß, wie sehr ich aufpassen muss, dass wir niemandem Ungebetenen in die Arme laufen, fragte er auf einmal einer Eingebung folgend.

    Oh, nur Tante Lisbet, meine Amme.

    Korvin bekam große Augen.

    Niemand sonst?

    Nein, niemand sonst. Warum?, bestätigte sie leise flüsternd und sah ihn unschuldig an.

    Ach, nur so.

    Korvin begann plötzlich zu lachen. Nur ihre Amme! Und er hatte gedacht, dass mindestens noch drei oder vier der Burgwachen nach ihr suchten, wenn nicht sogar die halbe Burgbesatzung! Sie hatte ihn ganz schön aufs Kreuz gelegt! -schon wieder. Das kleine Ding hatte echt Nerven und war mehr als gewieft. Das würde keiner dieser unschuldig dreinblickenden 5-Jährigen zutrauen. Aber irgendwie konnte er Mathilda auch nicht mehr böse sein, seit er eine Weile mit ihr da am Bach gesessen und sie miteinander geredet hatten.

    Als Korvin außer dem Lachanfall nichts weiter sagte, versuchte Mathilda sich zu erklären:

    Weißt du, wenn herauskommt, dass sie mich verloren hat, dann kriegt sie den Ärger. Also... sucht sie lieber selber nach mir, als dass sie die Wachmannschaft der Burg informiert, hihi. Außerdem...hättest du mich mitgenommen, wenn du gewusst hättest, dass nur Tante Lisbet nach mir sucht?

    Korvin verdrehte nur die Augen und stapfte weiter. Nein, natürlich hätte er das nicht, also schüttelte er den Kopf. Ganz schön clever, diese Mathilda. Ihre Tante hatte offensichtlich alle Hände voll zu tun, sie in Zaum zu halten. Lisbet war, wie Korvin erfuhr, nicht Mathildas leibliche Tante, sondern ihre einstige Amme und jetzt Kindsmagd. Sie nannte sie nur Tante, weil ihr das besser gefiel.

    Aber irgendwie machte es ihm gar nichts mehr aus. im Gegenteil, sie war so gar nicht, wie er sich eine Adlige immer vorgestellt hatte. Er mochte sie und das sagte er ihr auch frei heraus ins Gesicht.

    Du bist... ich weiß nicht, was ich von dir halten soll. Aber ich mag dich auch.

    Korvin duckte sich unter einem Ast hindurch, drückte einen anderen zur Seite, so dass ihm Mathilda ungehindert folgen konnte.

    Tatsächlich? Sie kicherte verlegen und schlüpfte an ihm vorbei. Das ist schön.

    Der Junge ließ den Ast wieder los. Dieser schnellte zurück an seinen ursprünglichen Platz und Korvin übernahm wieder die Führung. Mathilda folgte ihm dicht auf.

    Du tust so, als ob das was Besonderes wäre.

    Ist es auch. Ich dachte, alle finden mich schrecklich, weil ich nicht auf sie horche. Aber wenn du mich so magst, dann magst du mich wirklich, so wie ich wirklich bin.

    Korvin erwiderte nichts darauf. Sicherlich war es für Mathilda schwer, all die vielen Regeln einzuhalten, die ein Mädchen dieses Standes erfüllen musste. In seinen Augen hatte sie aber immer noch die bessere Lebensvariante erwischt. Immerhin musste sie nicht bis zum Umfallen arbeiten, nur um am Ende des Jahres doch hungernd in den Winter zu gehen.

    Die beiden durchbrachen das Dickicht am Waldrand. Vor ihnen eröffnete sich ein weiter Blick ins Tal.

    Mathilda hüpfte an Korvin vorüber, schlüpfte an einem Wachholderbusch vorbei in Richtung einer Obstwiese, welche sich an den kleinen Heidestreifen anschloss. Unter einem Apfelbaum lag eine Decke und ein Korb stand daneben. Korvin folgte ihr. Auf der Decke lagen zwei verlassene Handarbeiten. Eine Stickerei und ein Spitzendeckchen, das geklöppelt wurde und schon zur Hälfte fertig war.

    Von Mathildas Kindsmagd war keine Spur zu sehen. Das Mädchen ließ sich auf die Decke plumpsen. Korvin stand daneben, unschlüssig, was er jetzt tun sollte.

    Und, welches der beiden Sachen ist deines?, fragte er, um seine Unsicherheit zu umgehen. Mathilda verzog das Gesicht.

    Das da, sagte sie abfällig und zeigte dabei auf die Stickarbeit.

    Das ist hübsch. Seine Worte sollten als ehrliches Kompliment gemeint sein. Er fand es wirklich hübsch. Aber Mathilda zog eine Schnute.

    Ja, vielleicht. Aber langweilig. Mathilda hob es mit Verachtung in der Stimme auf und drehte es in ihrer Hand. Sie hasste Handarbeiten.

    Korvin zuckte die Schultern, jede Arbeit, die man machen musste, war im Grunde für ein Kind langweilig. Apropos Arbeit...

    In dem Moment hörte man einen leisen Ruf aus dem Wald. Tante Lisbet.

    Ich geh dann jetzt besser, hab noch zu tun, sagte er verlegen.

    Ja..., murmelte Mathilda leise, legte die Stickerei wieder ab und sah Richtung Waldrand. Die Rufe kamen näher.

    Nun geh schon, bevor Tante Lisbet dich sieht.

    Sie blickte traurig drein, neigte sich ihr kleines Abenteuer mit Korvins Weggang doch unweigerlich dem Ende zu.

    Genau. Korvin rieb sich die schwitzigen Hände an den Oberschenkeln ab. Ja dann... leb wohl, Mathilda.

    Automatisch zog er den kleinen Ball aus seiner Hosentasche, drehte sich um und ging. Doch irgendwie fehlte noch was. Er drehte sich wieder zu Mathilda hin, die ihm mit traurigem Blick immer noch nachsah.

    Hier. Er streckte die Hand aus und hielt ihr spontan den selbstgemachten Ball hin. Schenke ich dir. Als Erinnerung.

    Mathilda war sichtlich überrascht und griff zögernd nach dem dargebotenen Spielzeug.

    D-danke, stotterte sie verlegen, hatte sie damit doch gar nicht gerechnet.

    Ich... ich hab aber nichts für dich, antwortete sie unglücklich dreinschauend, weil sie sich für seine Geste gerne revanchiert hätte.

    Das macht nichts, Prinzessin, antwortete er mit einem Grinsen. Es stand ihm gut, fand sie. Wenn er grinste, dann hatte er so hübsche kleine Grübchen an den Wangen, das sah gut aus. Auch die blonden Haare, die ihm in kleinen Strähnchen ins Gesicht hingen, fand sie bezaubernd. Allerdings sagte sie das auf keinen Fall laut.

    Ich bin nicht..., wollte sie protestieren, doch er unterbrach sie mit einem Funkeln in den Augen.

    Ich weiß. Aber es klingt so schön, schmunzelte er und drehte sich wieder um, und ging fort. Es wurde auch allerhöchste Zeit. Lisbets Rufe wurden immer lauter. Bald würde sie durch das Gebüsch hindurchtreten, und wenn er dann noch da war, wäre das sehr unangenehm für sie beide. Korvin hob zum Abschied noch einmal die Hand, dann stapfte er einfach los. Nach ein paar Metern rief ihm Mathilda unvorsichtig hinterher:

    Wie heißt du überhaupt?

    Er drehte sich nochmals um und legte die Hände zu einem Trichter zusammen.

    Korvin!

    Dann sah er eine Bewegung am Waldesrand und schlüpfte pfeilschnell hinter einen Apfelstamm, um nicht gesehen zu werden.

    Korvin.

    Das klang wundervoll. Sie schenkte ihm ein letztes Lächeln und drehte sie sich zum Wald hin um. Auch sie hatte bemerkt, dass jemand kam und schon ziemlich nahe war.

    Im selben Moment trat eine kleine gedrungene Frau aus dem Gebüsch. Mathilda stand auf und eilte der Person entgegen, die sichtlich außer Atem war. So wie sie selbst Krach gemacht hatte und schnaufte, hatte die Frau Korvins letzten Ruf überhört. Oder? Hoffentlich.

    Tante Lisbet! Da seid ihr ja endlich! Wo wart ihr denn so lange?, rief sie freudig, die Amme ablenkend. Außerdem, dessen war sie überzeugt, war Angriff die beste Verteidigung in diesem Fall. Die Amme stemmte erbost die Hände in die Seiten, schnappte dabei nach Luft und antwortete säuerlich:

    Mathilda! Was heißt hier, wo ICH war? Die Frage müsste eher lauten, wo IHR die ganze Zeit gewesen seid?

    Ja, aber ich war doch hier. Dabei deutete sie auf die Decke. Ich hab auf euch gewartet. Schon eine ganze Weile.

    So, so. Lisbet stemmte die Hände in die Hüften. Wenn ihr nicht verschwunden wäret, hätte ich euch doch gar nicht suchen müssen. Ihr wart plötzlich verschwunden, als ich mich einmal umgedreht hatte. Also? Die Frau wartete auf eine Erklärung. Und Mathilda würde ihr eine passende geben. Sie tat unschuldig bestürzt, mit einem unauffälligen Seitenblick zu dem Baum, hinter dem Korvin sich versteckte.

    Aber... ich war doch HIER. Die ganze Zeit, nachdem ich kurz im Wald war, um auszutreten, erklärte sie voller Überzeugung, setzte sich auf die Decke zurück und klopfte zur Untermauerung ihrer Worte mit den Händen darauf.

    Wenn das so war, warum habt ihr dann nicht auf meine Rufe reagiert, als ich euren Namen geschrien habe? Die Frau kam zu der Decke und setzte sich ebenfalls. Ihre Suche war anstrengend gewesen.

    Ach, nachdem ich damit fertig war, habe ich einen Kaninchenbau entdeckt. Eines davon war draußen. Es hat so nett seine Nase und die Ohren bewegt, Tante Lisbet. Mathilda versuchte zu zeigen, wie das Kaninchen dabei ausgesehen hatte. Mit den Händen bildete sie die Hasenohren nach, den Mund zog sie dabei zu einer Hasenschnute zusammen.

    Hätte ich geantwortet, hätte ich es damit verjagt. Und ich wollte es doch so gerne beobachten. Es war so süß! Soll ich euch den Bau zeigen? Vielleicht ist es ja noch da?, fragte sie aufgeregt. Die kleine Flunkerei kam ihr ziemlich locker über die Lippen, ohne dass es als solche auffiel. Den Kaninchenbau gab es tatsächlich, sonst hätte sie nicht vorgeschlagen, ihn Tante Lisbet zu zeigen. Allerdings hatte sie dort nichts beobachtet, als sie leise daran vorbei gehuscht war, um allein durch den Wald zu stromern.

    Lisbet machte ein skeptisches Gesicht dabei. Sie war noch nicht fertig.

    Und woher hast du das da? Sie zeigte auf den kleinen, handgroßen Ball in Mathildas Hand.

    Mist. Den hatte sie ja ganz vergessen! Verflixt. Aber auch dafür fiel ihr spontan eine Ausrede ein.

    Ach den? Den hab ich gefunden. Da drüben. Sie zeigte in südliche Richtung. Hübsch, nicht? Den hat wohl jemand verloren. Er gefällt mir, also nehme ich ihn mit, und mit diesen Worten schob sie ihn in die Tasche ihres Kleides.

    Als das Kind geendet hatte, verdrehte Lisbet die Augen.

    Natürlich... Das kann doch nicht wahr sein! Ein Kaninchen! Ein herrenloser Ball, zählte die Kindsmagd Mathildas Ausreden auf. Und das soll ich nun glauben? Eine kurze Pause entstand, in der Lisbet das kleine Mädchen eingehend musterte. Mathilda schenkte ihr den unschuldigsten Blick, den sie auf Lager hatte.

    Also gut, seufzte sie. Aber ihr sollt doch nicht allein herumgehen, das gehört sich für eine junge Dame wie ihr es seid nicht. Das nächste Mal gebt ihr mir Bescheid, wenn ihr austreten müsst, mahnte sie ihren Schützling.

    Sie musterte Mathilda immer noch von oben bis unten. Das zerzauste Haar, die Ästchen in Mathildas Umgang und die kleinen Risse in ihrem Kleid entlang des Saums entgingen der Amme keineswegs. Außerdem hatte sie vorhin etwas gehört, kurz bevor sie den Wald verlassen hatte, es jedoch nicht recht verstanden, da sie im Grunde nur sich selbst so laut atmen und ihren trommelnden Herzschlag gehört hatte. Es hatte wie ein Name geklungen. Nur, dass sie keine Person gesehen hatte, obwohl sie sich umgeschaut hatte. Sollte sie Mathilda darauf ansprechen?

    Nein. Die Antwort auf die unausgesprochene Frage wollte Lisbet erst gar nicht hören, daher fragte sie nicht und sagte auch sonst nichts weiter. Konnte sie doch Mathilda ihre Lüge nicht nachweisen. Das Mädchen fand für alles eine Erklärung.

    Lisbet war eine gutherzige Frau. Auch sie verzieh, genau wie Mathildas Vater, der Kleinen viele Dinge, die sie aus Übermut, Neugier und Wissensdrang anstellte. Mathilda war schließlich noch ein Kind. Und Kinder waren nun mal so. Sie blies die Luft langsam aus ihren Lungen und seufzte tief. Mathilda war nicht einfach. Aber sie liebte dieses Kind wie ihr eigenes.

    Sei es wie es sei, Mathilda. Kommt her, ich richte euch euer Haar, bevor wir wieder zur Burg gehen. Ihr seht aus, als ob ihr euch im Laub gewälzt hättet, anstatt Kaninchen zu beobachten.

    Mathilda grinste. Lisbet glaubte ihr zwar nicht hundertprozentig, doch sie beließ es somit bei ihrer Erklärung. Mathilda blickte während der Prozedur wieder zu Korvins Versteck. War er überhaupt noch da? Sie war sich nicht sicher. Gerne hätte sie ihn noch ein letztes Mal gesehen.

    Nachdem Lisbet dem Kind das Haar wieder ordentlich geflochten hatte, legten die beiden die Handarbeiten in den Korb zurück. Mathilda tat es ganz unauffällig, damit nicht auffiel, dass ihre Stickarbeit noch auf demselben Stand war wie vor der Suche. Auch faltete sie daraufhin die Decke zusammen, auf der sie gesessen hatten und legte sie darüber.

    Kommt, Mathilda. Man erwartet uns sicherlich schon.

    Lisbet griff nach dem Korb und nahm Mathilda an die Hand.

    Das Mädchen trottete daraufhin artig neben der Kindsmagd her in Richtung Hiltenburg.

    Korvin indes hatte von der Unterhaltung der beiden nichts mitbekommen. Dafür war sein Versteck zu weit entfernt gewesen. Aber weglaufen konnte er auch nicht, sonst würde er gesehen werden. Also hatte er gewartet und immer wieder vorsichtig hinter dem Baumstamm hervorgelugt. Als die Beiden den Rückweg zur Burg antraten, kam er hinter dem Apfelbaum hervor und winkte Mathilda ein letztes Mal zu, als sie sich einmal kurz nach ihm umdrehte.

    Dann machte auch er sich auf die Socken um nach Hause zu kommen. Er eilte den Hang hinunter, schlug einen Bogen und gelangte so auf den festgetretenen erdigen Weg, der vom Albabstieg her direkt in sein Dorf führte.

    Korvin hatte die erwartete Standpauke für sein zu spätes Erscheinen stoisch über sich ergehen lassen. Im Anschluss daran musste er die fertigen und bestellten Waren noch am selben Abend in Tizimbach und Umgebung bis spät in die Nacht hinein ausliefern und verzichtete dadurch zwangsweise auf das gemeinsame Abendessen. Er ging an diesem Abend hungrig ins Bett.

    Trotzdem hatte sich der Tag für ihn gelohnt, fand er.

    Kapitel 2

    Trackenstein, oberes Dorf, anno 1421

    Thomas rannte seinem großen Bruder schnaufend hinterher. Matthias hatte einen Vorsprung von vielleicht 40 Metern, in seiner Armbeuge baumelte ein Korb. Die beiden Jungen waren von ihrer Mutter aus dem oberen Teil des Dorfes Trackenstein ausgeschickt worden, um im Wald nach frischen Kräutern zu suchen. Nicht alles, was die Familie brauchte, wuchs auch in ihrem Garten. Manche Pflanzen brauchten zum Wachsen eben die Kühle des Waldes.

    Thomas hüpfte über einen heruntergefallenen Ast und beschleunigte ein wenig, um zu seinem Bruder aufzuschließen. Das war eine Aufgabe, die die Jungens in ihrem Alter nur zu gerne erledigten, konnte man nebenher so wunderbar im Wald spielen, ohne dass man des Herumtrödelns beschuldigt wurde. Thomas war 6, und Matthias schon 10. Die Brüder mochten sich und spielten oft zusammen. Den Wald, in den sie geschickt wurden, um die begehrten Pflänzchen zu sammeln, kannten sie wie ihre Westentasche. Es würde den ganzen Tag in Anspruch nehmen, um zu der Stelle zu gelangen, wo richtig viele davon wuchsen.

    Matthias hielt kurz an, um auf seinen kleinen Bruder zu warten. Als Thomas neben ihm war, schlenderten sie gemeinsam weiter. Ihre Füße trugen sie am Albtrauf entlang in Richtung Süden. Sie mussten noch ein Stück gehen und das kleine Tal, in dem ein Jagdschloss und ein paar darum herum angeordnete Wirtschaftsgebäude der Westernacher lagen, umrunden, um auf die andere Hangseite zu gelangen. Dieser war zugegebenermaßen steil abfallend und ziemlich unwegsam. Dafür schien dort die Sonne länger auf den Wald als auf den Teil, der sich zwischen den beiden Weilern befand. Vielleicht mit ein Grund, warum diese Kräuter auch nur dort zu finden waren.

    Als sie in der Mitte des Talbeckens angekommen waren, begannen sie mit dem Abstieg auf halbe Höhe. Ein kleiner Bach, der diesen Namen nur in den Wintermonaten verdiente und zu dieser Jahreszeit eher einem kläglichen Rinnsal entsprach, stürzte sich an dieser Stelle ins Tal. Die Jungen nutzten das Geröll, das die Ränder davon säumte, als Spielgerät. Entweder sprangen sie von einem großen Stein auf den nächsten über das Rinnsal hinweg, oder sie nahmen kleinere Steine in die Hand und warfen sie, soweit sie konnten. Wer weiter werfen konnte, hatte gewonnen.

    Thomas wurde dem Spiel recht schnell überdrüssig, da sein Bruder Matthias 4 Jahre älter war als er und daher auch mehr Wurfkraft an den Tag legte.

    Da! Da drüben ist die Stelle, glaube ich, die Mama gemeint hat, meinte er und sprang in die angegebene Richtung.

    Glaubst du? Ist sie nicht noch ein Stück weiter unten? Matthias kratzte sich am Kopf. Dann beschleunigte auch er seinen Schritt und ging seinem Bruder hinterher.

    Dort angekommen, war Thomas schon dabei, kleine Pflänzchen abzurupfen und in einer Hand einen Strauß daraus zu bilden.

    Ich hatte recht!, krähte Thomas und streckte seinem Bruder das Sträußchen triumphierend entgegen. Dieser nahm es ihm aus der Hand und legte die gepflückten Pflanzen sachte in den Korb. Gemeinsam machten sie sich an die Arbeit, ihn so schnell wie möglich zu füllen.

    Irgendwann, als der Korb etwas mehr als die Hälfte gefüllt war, wurde es Thomas langweilig. Er wollte lieber spielen anstatt Blumen zu pflücken!

    Ach, das ist doch doof, maulte er und warf zwei weitere Stängel lustlos zu den anderen in den Korb. Reicht das nicht schon?

    Nein, Mutter hat gesagt, er soll ganz voll sein, Tommy.

    Thomas verzog den Mund zu einer Grimasse, was seinem großen Bruder ein Lachen entlockte, weil es so komisch aussah.

    Ja, und? Ich brauch aber eine Pause, nörgelte er weiter. Matthias schüttelte den Kopf und zeigte auf das Kraut vor ihnen.

    Nein.

    Thomas war mit dieser Antwort alles andere als zufrieden und versuchte es anders. Er grinste plötzlich schelmisch.

    Wie wär's? Lass uns lieber eine Runde Fange spielen. Oder noch besser: Verstecke!, animierte er seinen Bruder quietschend und stand auf. Bevor Matthias noch einmal ein Wort dagegen sprechen konnte, sprang Thomas auch schon davon.

    Fang mich doch, wenn du kannst!, rief er lachend über seine Schulter zu Matthias zurück. Dann war er hinter den Bäumen verschwunden.

    Matthias seufzte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als Thomas zu verfolgen. Ganz abgeneigt war er ja selbst auch nicht von dem Spiel, aber er war schon alt genug, um zu wissen, dass normalerweise erst die Arbeit und dann das Spielen kam. Er rückte den Korb so, dass er einen sicheren Stand hatte. Er würde ihn nicht bei der Verfolgung mitnehmen, weil der Korb ihn behindern würde, wenn er seinen kleinen Bruder einfangen wollte. Matthias erhob sich.

    Ich bin immer noch schneller als du!, rief er seinem Bruder hinterher. Nur deshalb kriegst du diesen kleinen Vorsprung! Dann spurtete auch er los. Die Hetzjagd ging in Richtung Westen über Stock und Stein. Irgendwann hatte Matthias die Arbeit ganz vergessen und die Jungen tollten sorglos durch die Wälder. Bis Matthias seinen kleinen Bruder Thomas endgültig aus den Augen verloren hatte.

    Kapitel 3

    In der Nähe des Drachenlochs, unterhalb des oberen Dorfes zu Trackenstein, anno 1421

    Ragnor'rok öffnete gemächlich ein Auge. Die schwarze, geschlitzte Pupille bewegte sich unruhig hin und her, bevor das Lid, ungesehen in der herrschenden Dunkelheit, kurz blinzelte. Etwas hatte ihn geweckt.

    Ragnor'rok lauschte.

    Nein, nicht etwas. JEMAND hatte ihn geweckt und störte seinen schon lange andauernden Schlaf.

    Jemand befand sich hier. Hier, in seinem Zuhause... Wer wagte diesen Frevel? Jemand, der dafür einen äußerst schmerzhaften Todeskampf in Kauf nahm, wie schon so viele vorher, bevor sich Ragnor'rok hier zur Ruhe gelegt hatte, dachte er.

    Der dunkle Drache schnaubte leise. Wieder so ein angeblich tapferer Ritter, der ihn, Ragnor'rok, besiegen wollte? Keiner der es versucht hatte, hatte es bisher geschafft. Auch dieser hier würde wie alle anderen zuvor scheitern.

    Ragnor'rok blieb vorerst still liegen, er würde nicht entdeckt werden. Denn sein Drachenleib hatte die Fähigkeit, seine Umgebung perfekt nachzuahmen, wenn er dies wollte. Noch von seinem Schlaf getarnt, würde der erbärmliche Wicht, der die Drachenhöhle aufsuchte, hier nur Felsgestein erkennen, selbst wenn er ein Quantum Intelligenz besaß und sich eine Fackel mitgebracht hatte um etwas mehr zu sehen.

    Ragnor'rok lachte in sich hinein. Er hatte Hunger, da kam ihm der mickrige Happen gerade recht, der sich gerade im Tageslicht vor der finsteren Höhlenöffnung abzeichnete. Mensch schmeckte zwar nur halb so gut wie Schaf, Ziege oder Kuh, aber er war nicht wählerisch. Nicht nach einem Nickerchen und nicht, wenn er dafür nicht jagen musste. Viel war nicht dran, kaum der Rede wert. Aber besser als nichts und obendrein leicht zu erlegen. Immerhin sah Ragnor'rok kein blitzendes Metall in den Händen des Menschen, was auf einen vom Ritterstand hingedeutet hätte.

    Er bewegte sich vorsichtig, um in eine bessere Position für einen Überraschungsangriff zu kommen. Dabei kullerte Geröll, das

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