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Wenn alles in Scherben fällt: Vom Überleben in schlechten Zeiten
Wenn alles in Scherben fällt: Vom Überleben in schlechten Zeiten
Wenn alles in Scherben fällt: Vom Überleben in schlechten Zeiten
eBook184 Seiten2 Stunden

Wenn alles in Scherben fällt: Vom Überleben in schlechten Zeiten

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Über dieses E-Book

Seit in der Ost-Ukraine geschossen und getötet wird, ist alles Leid wieder präsent, das Millionen Deutsche bei Kriegsende 1945 im Osten erlitten. Seit Flüchtlingsströme aus dem Nahen Osten in unser Land fluten, werden wir an das Schicksal deutscher Flüchtlinge erinnert, die am Ende des Zweiten Weltkriegs ihre Heimat verloren. Traumatisiert mussten sie sich in oft feindseliger Umgebung eine neue Existenz schaffen. Kinder sind die Leidtragenden, damals wie heute. - Ein autobiografischer Bericht vom Überleben in schlechten Zeiten.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum22. Feb. 2015
ISBN9783738007039
Wenn alles in Scherben fällt: Vom Überleben in schlechten Zeiten

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    Buchvorschau

    Wenn alles in Scherben fällt - Wolfgang Kirchner

    Widmung

    Für meinem Bruder Detlef

    Erweitertes Impressum

    Dies ist die Neufassung eines Buches, das unter dem Titel „Wir durften nichts davon wissen bei Rowohlt in der Reihe „Rotfuchs (Auflage: 55.000) erschien.

    © Wolfgang Kirchner 2015

    Wolfgang Kirchner

    Bayerische Str. 8

    10707 Berlin

    wolfkirchner@mac.com

    Coverillustration:

    Philipp Süchting

    p-suechting@T-Online.de

    Dank an Klaus Ratje!

    1.

    „Palmsonntag, den 25. März…"

    Mama sitzt im Luftschutzkeller am Tisch und schreibt Tagebuch. Eine Stalllaterne wirft flackerndes Licht auf den dicken Kalender, in den sie mit winziger, krakeliger Schrift Eintragungen macht. Ab und zu spitzt sie den Bleistift, damit die Buchstaben dünn bleiben und so viel wie möglich auf eine Seite geht. Denn es gibt viel zu erzählen.

    „Freitag hat sich die Waffen-SS in unserem Haus einquartiert, schreibt meine Mutter. „Sie sind mit zwei Raupenfahrzeugen gekommen, die haben sie in unseren Garten gefahren und dabei den Mirabellenbaum beschädigt. Die Fahrzeuge wurden bis zu den Ketten eingegraben und mit Tarnnetzen bespannt. In unserer Küche haben sie eine Funkstation eingerichtet. Klara muss jetzt auf dem Ofen in der Waschküche das Essen für uns alle kochen. Klara ist wütend auf die SS. Bei jedem Fliegerangriff kommen sie zu uns herunter.

    Ich sitze neben Mama und schaue ihr beim Schreiben zu. „Leg dich auf die Matratze unterm Tisch", sagt sie. Später, als sie müde wird, muss ich ein wenig rücken, und sie legt sich neben mich. Wir hören das Poltern der Soldatenstiefel über uns, die fernen Abschüsse und nahen Einschläge der Granaten. Wenn es besonders laut kracht, schrecken meine jüngeren Geschwister aus dem Schlaf hoch, und aus der dunklen Ecke nahe dem Notausgang höre ich Großvater stöhnen. Der fünfzehnjährige Achim, mein ältester Bruder, liegt neben der Tür zur Waschküche und liest im Schein einer Kerze ein Buch. Wenn die Kleinen aufschrecken und sich gleich darauf schlaftrunken wieder fallen lassen, deckt er sie behutsam zu. Er lauscht auf den Artillerielärm, und sein Kopf geht mit, als folge er der Geschossbahn.

    „Die Russen stehen auf den Danziger Höhen und schießen in die Stadt hinein – über uns hinweg!" sagt er beruhigend.

    Wir wohnen in einem Vorort von Danzig, der Langfuhr heißt, auf der ‚besseren’, der Villenseite von Langfuhr, am Rand des Jäschkentaler Waldes. Hier stehen viele prunkvolle Häuser, umgeben von großen Gärten. Unsere Villa ist ein Haus mit vielen Erkern, Türmchen mit Steinkugeln obendrauf, mit Balkons und Terrassen. Jetzt sind die meisten Fenster ohne Glas, und die Jalousien hängen schief herab: Der Luftdruck einer Bombe, die im Haus nebenan eingeschlagen ist, hat die Scheiben zum Platzen gebracht. Seit diesem Tag stehen die elf Zimmer unseres Hauses leer; seitdem trauen wir uns nicht mehr aus dem Luftschutzkeller.

    Ehe ich einschlafe, schaue ich mich im halbdunklen Keller um. Diti, mein zweitältester Bruder, ist wieder mal nicht da. Papa hat uns verboten, nachts und besonders bei Artilleriebeschuss hinauszugehen. Aber der dreizehnjährige Diti lässt sich nichts mehr verbieten. Wahrscheinlich sitzt er auf der Treppe, die von der Waschküche in den Garten führt, und raucht heimlich eine Zigarette. Ich bewundere ihn, weil er so mutig ist. Ich bin zehn Jahre alt und der Ängstlichste von allen, gelte als das ‚Muttersöhnchen’.

    Im Halbschlaf höre ich Ditis Stimme: „Ich weiß, was die Raupen geladen haben…"

    Ich wache auf. Diti beugt sich über unsere Mutter und flüstert, damit Vater nicht aufwacht: „In der einen Raupe sind Maschinengewehre, funkelnagelneu, in Holzkisten, und Munition…"

    „Deswegen weckst du mich?" fragt Mama.

    Und in der anderen Raupe sind Brote! Nichts wie Brote! Eckige, schwarze Soldatenbrote, hart wie Ziegelsteine.

    Kommissbrote? Meine Mutter fährt hoch. Vorsichtig kriecht sie unter dem Tisch hervor, ich krieche hinter ihr her. Sie beugt sich über Frau Duschau, unsere Nachbarin. Seit der Angriff der Roten Armee auf Danzig begonnen hat, wohnt sie mit ihren sechs Kindern bei uns im Luftschutzkeller.

    Frau Duschau schreckt aus dem Schlaf auf: „Sind die Russen da?"

    Meine Mutter macht ihr ein Zeichen mitzukommen. Auch Achim folgt uns.

    In der Waschküche sitzt Klara und stopft unsere Strümpfe. Klara stammt aus Polen. Sie kam in unsere Familie, kurz bevor Achim geboren wurde. Nun ist sie schon über fünfzehn Jahre bei uns, hat uns alle sechs als Babys auf dem Arm gehabt, hat fünfzehn Jahre lang für uns gekocht, geputzt und gewaschen. Hitlers Untergang hat sie schon 1939 vorausgesagt. Aber dass wir alle auf dem besten Weg sind, mit Hitler unterzugehen, hat selbst sie nicht geahnt.

    Sie legt das Stopfzeug beiseite und steht auf. „Hört euch das an! sagt sie. „Die feiern oben und saufen sich Mut an! Sie meint die SS-Männer.

    Diti öffnet vorsichtig die Waschküchentür, nachdem wir das Licht gelöscht haben. Er schaut hinaus in den dunklen Garten.

    „Feuerpause!" flüstert er und springt die Stufen der Kellertreppe hinauf; wir folgen ihm. An einem der Raupenfahrzeuge klettert er hoch, zwängt sich unter die Plane und reicht Klara ein Brot nach dem anderen herunter. Klara reicht es mir, ich reiche es meiner Mutter, die reicht es Frau Duschau, die reicht es Achim. Der stapelt die Brote an der Kellerwand hoch wie Brennholz – eine Wand aus Brot. Die SS-Männer merken nichts. Wir hören ihr Gelächter. Einer grölt betrunken. Während sie Nazilieder singen, klauen wir ihnen die Marschverpflegung für ihre Flucht – denn das hat Diti schon herausgekriegt: Zum Kämpfen ist diese Einheit sich zu schade. Ins Reich wollen sie sich absetzen.

    Ich zittere in der frischen Nachtluft, während mir ein Brot nach dem anderen zugeworfen wird: Wenn die SS dahinterkommt, werden sie uns alle erschießen...

    „So, sagt Klara, „komm runter, Diti, ist genug! Von mir aus kann die SS jetzt abhauen!

    Im Keller hängen wir Decken über die Wand aus Brot. Nun ist es bei uns noch enger geworden. Klara setzt Wasser auf und kocht Tee. Keiner will sich schlafen legen. Wir hocken am Waschküchentisch, freuen uns über unsere Beute und malen uns aus, was für dumme Gesichter die SS-Männer machen werden, wenn sie nächstens Kohldampf schieben.

    Da kommt mein Vater in die Waschküche. Er ist noch benommen vom Schlaf und fröstelt. „Warum seid ihr alle auf?" Als erster kriegt er von Klara einen Becher Tee.

    „Herr Oberschulrat, Sie müssen endlich dafür sorgen, dass die SS abzieht!"

    Aber Klara, stöhnt Papa, „was kann ich gegen die SS tun?"

    Klara lässt nicht locker: „Wenn die Russen kommen und in unserem Haus ist immer noch die SS, dann gnade uns Gott!"

    Aber Papa ist ganz sicher: „Die Russen kommen nicht. Ich glaube es einfach nicht. Weil alle schweigen, wendet er sich, ein wenig unsicher geworden, an Achim: „Was meinst du?

    Achim guckt in seinen Teebecher. Egal, was er sagt, Papa würde seine Meinung nicht gelten lassen. Während des ganzen Krieges hörte Achim – was streng verboten war – ‚Feindsender’, BBC London und Radio Moskau. Papa durfte nichts davon erfahren. Kurz bevor in der ganzen Stadt der Strom ausfiel, hat Achim über Radio London gehört, dass ein Teil der Roten Armee längst an Danzig vorbeigezogen ist, auf dem Vormarsch nach Berlin schnell vorankommt und dass Danzig von einer hoffnungslos großen Übermacht der Russen belagert wird. Als im Januar die Rote Armee in Ostpreußen einfiel, wollte Papa seinem Ältesten nicht glauben, dass es mit dem ‚Großdeutschen Reich’ zu Ende geht. Während des ganzen Krieges hat in unserer Familie nur das gegolten, was Papa für richtig hielt.

    „Und du, Diti? fragt Papa. Du stromerst draußen herum - wie sieht die Lage aus, was meinst du?"

    Diti zieht ein Flugblatt aus der Tasche und reicht es Papa über den Tisch. Er hat es im Garten gefunden. Russische Flugzeuge haben es abgeworfen.

    „Junge, sagt Papa erschrocken, „das darfst du gar nicht lesen! Das hättest du abgeben müssen…

    Er lauscht nach oben. Jeden Augenblick können SS-Männer herunterpoltern. Halblaut liest er vor: „Aufruf des Marschalls Rokossowski an die Garnisonen von Danzig und Gdingen! Generale, Offiziere und Soldaten der 2. deutschen Armee! Meine Truppen haben gestern am 23. März Zoppot genommen und die eingeschlossene Kräftegruppe in zwei Teile aufgespalten. Die Garnisonen von Danzig und Gdingen sind voneinander getrennt. Unsere Artillerie beschießt die Häfen von Danzig und Gdingen und die Einfahrten zu denselben. Der eherne Ring meiner Truppen um euch verengt sich immer mehr. Unter diesen Umständen ist euer Widerstand sinnlos und wird nur zu eurem Untergang sowie zum Untergang von Hunderttausenden Frauen, Kindern und Greisen führen…"

    Wieder setzt draußen der Höllenlärm der Artillerie ein. Das Haus bebt. Das Flugblatt zittert in Papas Händen.

    „Wer sich gefangen gibt, sagt Papa mit einem bitteren, ungläubigen Unterton, „dem garantiert er das Leben und die Belassung des persönlichen Eigentums… Er schüttelt den Kopf. Leise liest er weiter: „Alle Offiziere und Soldaten, die die Waffen nicht strecken, werden bei dem bevorstehenden Sturm vernichtet. Euch wird die volle Verantwortung für die Opfer der Zivilbevölkerung treffen."

    Rasch knüllt er das Flugblatt zusammen und wirft es ins Feuer. „Kommt wieder in den Luftschutzkeller! Hier sind wir nicht sicher genug!"

    Da keiner von uns aufsteht, bleibt auch Papa sitzen. Er schaut meine Mutter an. Schweißperlen stehen ihm auf der Stirn.

    „Jetzt haben wir die Bescherung! sagt Mama zornig. „Und ihr habt damit angefangen! Ja, du auch! Ihr habt angefangen…!

    Als am 1. September 1939 in Danzig der Zweite Weltkrieg begann, war Papas Kompanie von der ersten Stunde an dabei. Papa war Hauptmann. Er führte seine Soldaten gegen die Polen – und siegte. Vor dem 1. September 1939 war Danzig eine Freie Stadt, mitten in polnischem Gebiet.

    „Warum habt ihr die Polen aus Danzig vertrieben? Meine Mutter ist wütend – so habe ich sie noch nie mit Papa reden gehört. „Wir sind gut mit ihnen ausgekommen! Unsere Jungen waren mit ihnen in Sportvereinen zusammen, in den Schulen. Auf der Technischen Hochschule haben deutsche und polnische Studenten zusammen studiert, wir haben beim Polen gekauft… Und wie gut haben wir mit Klara gelebt, fünfzehn Jahre lang! Sie schweigt eine Weile, dann sagt sie leise: „Jetzt werden sie sich an uns rächen! Die Kinder werden es zu spüren kriegen."

    Papa findet, dass Mama übertreibt. Außerdem gäbe es geschichtliche Fakten, meint er. „Danzig ist deutsch, seit Jahrhunderten! Und dass wir damals, vor fünfundzwanzig Jahren, nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, vom Deutschen Reich abgetrennt wurden, war ein unnatürlicher Zustand!"

    Granaten fliegen übers Haus.

    „Da musste es eines Tages wieder zum Krieg kommen… Wenig später fügt er, nicht mehr ganz so sicher, hinzu: „Die Polen wollten Danzig immer schon einkassieren...

    „Ach was! fährt meine Mutter ihm über den Mund. „Wir haben mit den Polen friedlich zusammengelebt. Wollten etwa unsere Verwandten in der Kaschubei, die Koschalkes, uns einkassieren? Wir kennen unsere Polen!

    Wegen des Geschützlärms spricht meine Mutter lauter, als es meinem Vater recht ist. Er zeigt nach oben. Aber meine Mutter kümmert sich nicht mehr um die SS-Männer. „Wie ihr bloß auf diesen Hitler hereinfallen konntet!"

    Papa steht auf: „Kommt sofort in den Luftschutzkeller!"

    Klara legt ihr Stopfzeug zusammen und ruft Papa nach: „Das eine sage ich noch: Die SS muss aus dem Haus, und zwar bald!"

    Meine Mutter kann nicht schlafen und setzt sich wieder an ihr Tagebuch: „Zurzeit leben wir von den Vorräten, die wir vom Land mitgebracht und eingeweckt haben. Das Tagebuchschreiben scheint sie abzulenken, zu entspannen, scheint ihr die Angst zu nehmen. „Es gab eine Zeit, da wollten wir in unserer deutschen Beamtenfamilie von den ungebildeten, halb polnisch, halb deutsch radebrechenden Verwandten bei Karthaus nichts wissen. Doch je länger der Krieg dauerte, desto wichtiger wurde es, Verwandte auf dem Land zu haben. Immer öfter fuhren wir in die Kaschubei, halfen bei der Ernte und aßen uns satt. Ich tauschte Kleider gegen Hühner, die nahmen wir lebend nach Hause mit...

    2.

    Am nächsten Tag steht überraschend Fräulein Plasse, meine Lehrerin, am Kellereingang. Ein Wunder, dass sie lebend bei uns angekommen ist. Tiefflieger machen tagsüber Jagd auf jeden, der sich in den Straßen sehen lässt. Noch zitternd vor Angst hält Fräulein Plasse Mama eine große Speckseite entgegen und bettelt, wir sollen sie aufnehmen. Meine Mutter schüttelt den Kopf. „Wir können uns im Luftschutzkeller kaum noch bewegen!"

    Auch Klara ist dagegen. Sie hat meine Lehrerin nie leiden können. Denn Fräulein Plasse liebt den Führer. In der Schule schwärmte sie von Adolf Hitler: „Wenn kleine Mädchen den Führer auf dem Obersalzberg besuchen, lässt er ihnen Erdbeeren mit Schlagsahne reichen, selber aber isst er nur Erbsensuppe mit Speck!"

    „Quatsch! schrie Klara immer, wenn ich ihr berichtete, was ich in der Schule gehört hatte. „Glaubt doch den Blödsinn nicht!

    Das letzte Mal besuchte Fräulein Plasse uns kurz vor Weihnachten. Bei der Begrüßung meckerte sie: „Fräulein Klara, Sie müssen darauf achten, dass die Kinder die Händchen schön hochheben, wenn sie ‚Heil Hitler’ sagen!" Da wurde

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