Junge, komm bald wieder… – Ein Junge aus der Seestadt Bremerhaven träumt von der großen weiten Welt: Band 35 in der maritimen gelben Reihe bei Jürgen Ruszkowski
Von Günter George
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Buchvorschau
Junge, komm bald wieder… – Ein Junge aus der Seestadt Bremerhaven träumt von der großen weiten Welt - Günter George
Vorwort des Herausgebers
graphics1Von 1970 bis 1997 leitete ich das größte Seemannsheim in Deutschland am Krayenkamp am Fuße der Hamburger Michaeliskirche, ein Hotel für Fahrensleute mit zeitweilig 140 Betten. In dieser Arbeit lernte ich Tausende Seeleute aus aller Welt kennen.
graphics2Im Februar 1992 begann ich, meine Erlebnisse bei der Begegnung mit den Seeleuten und deren Berichte aus ihrem Leben in einem Buch zusammenzutragen, dem ersten Band meiner gelben Reihe „Zeitzeugen des Alltags": Seemannsschicksale.
Insgesamt brachte ich bisher über 3.800 Exemplare davon an maritim interessierte Leser und erhielt etliche Zuschriften zu meinem Buch. Diese positiven Reaktionen auf den ersten Band und die Nachfrage ermutigen mich, in weiteren Bänden noch mehr Menschen vorzustellen, die einige Wochen, Jahre oder ihr ganzes Leben der Seefahrt verschrieben haben. Diese Zeitzeugen-Buchreihe umfasst inzwischen fast sechs Dutzend maritime Bände.
Rezensionen, etwa: Ich bin immer wieder begeistert von der „Gelben Buchreihe". Die Bände reißen einen einfach mit und vermitteln einem das Gefühl, mitten in den Besatzungen der Schiffe zu sein. Inzwischen habe ich ca. 20 Bände erworben und freue mich immer wieder, wenn ein neues Buch erscheint. oder: Sämtliche von Jürgen Ruszkowski aus Hamburg herausgegebene Bücher sind absolute Highlights der Seefahrts-Literatur. Dieser Band macht da keine Ausnahme. Sehr interessante und abwechselungsreiche Themen aus verschiedenen Zeitepochen, die mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt haben! Man kann nur staunen, was der Mann in seinem Ruhestand schon veröffentlich hat. Alle Achtung!
In diesem Band 35 können Sie wieder Erinnerungen, Erlebnisberichte und Reflexionen eines ehemaligen Seemanns kennen lernen, der von 1965 bis 1970 zunächst als Messejunge, später als Küchenhelfer, Kochsmaat und verantwortlicher Koch unterwegs war. Er erzählt in farbigen Milieubeschreibungen ausgiebig von seiner Kindheit in der Seestadt Bremerhaven, wo seine Eltern im Fischereihafen ihr Geld zum Unterhalt der Großfamilie verdienten und von seinen Seereisen.
Herrn Egbert Kaschner (†) sei für die Korrekturhilfe herzlich gedankt.
Hamburg, im September 2007 / 2015 Jürgen Ruszkowski
graphics3Widmung und Vorwort des Autors
Ob Nebensächliches erwähnt, oder Wichtiges vergessen. Erst später stellt es sich heraus.
In Dankbarkeit meinen Eltern gewidmet.
Vorwort des Autors:
graphics4Die gegenwärtige Überhäufung der Kinder und Jugendlichen mit der Masse an Konsumgütern und die oft damit einhergehende Unzufriedenheit und Ideenlosigkeit der jungen Generation haben mich bewogen, einfach mal aufzuschreiben, wie es mir in meiner Kindheit erging, unsere Wertvorstellungen und die Art und Weise unserer Erziehung zu schildern. An die schönen und weniger guten Begebenheiten denke ich noch heute zurück. Mancher in meinem Alter wird sich ebenfalls an kleine zeitgeschichtliche Einzelheiten gut erinnern können.
Günter George
graphics5Meine Kindheit in Bremerhaven
Ich wuchs in einer norddeutschen Hafenstadt auf. Meine Kindheit war frei von Einflüssen, die in heutiger Zeit u. a. durch Fernsehwerbung, Konsumzwang und technischen Fortschritt insbesondere auf das Verhalten der Kinder und Jugendlichen einwirken und in fast alle Bereiche unseres Lebens vordringen und sie oft sogar bestimmen.
Durch diesen Druck vollzieht sich eine massive Werteverschiebung zu Ungunsten unserer Gesellschaft.
Damals bereiteten uns Kleinigkeiten, worüber man heute verächtlich lachen würde, riesige Freude. Wir kannten nicht die erschreckenden Worte wie Terrorismus, Arbeitslosigkeit, Politikverdrossenheit oder Globalisierung. Umweltschäden oder Tierseuchen waren kaum bekannt.
Unser geographischer Horizont reichte soweit, wie uns der Erdkundeunterricht in der Hauptschule führte.
Unsere Siedlung mit ihren engen Straßen und die nähere Umgebung kannten wir in- und auswendig. Die voll gelaufenen Entwässerungsgräben, die Felder, Wiesen und Wälder, die Baggerkuhlen und Sandgruben waren unsere Spielplätze. In jedem See oder Tümpel konnte man bedenkenlos baden. Wir brauchten keine angelegten Spielplätze. Draußen fand man alles, was zum Spielen, Verstecken und Toben benötigt wurde: die freie Natur. Wurden wir mal in die Stadt mitgenommen, war das wie der Besuch in einem fremden Land. Eine Orange zu essen zählte eher zu den Ausnahmen. Wir hatten trotz vieler Entbehrungen eine schöne Kindheit.
Ich träumte schon immer von der Seefahrt.
graphics6Lederhose und Sandalen
Waren fünf Kinder nicht schon genug für eine Familie? Nun sollte doch tatsächlich noch eines dazu kommen. Wann ist es soweit? Schon seit Tagen versuchten meine Eltern mir, dem jüngsten Spross der Familie, klar zu machen, dass wir Nachwuchs erwarteten. Ich absolvierte gerade das zweite Jahr in der Hauptschule und wurde bis dahin immer der „Kleine" genannt. Das sollte ja wohl endlich bald vorbei sein.
Mit über 40 Jahren galt meine Mutter eigentlich schon als zu alt, um noch einmal Nachwuchs zu bekommen. Mein Vater trug schon einige graue Haare, doch wegen seiner Kraft und seiner ausdauernden Vitalität erschien er mir immer jung. Und jetzt sorgten sie noch einmal für Familienzuwachs. Welch ein Ereignis?!
Mein ältester Bruder trug den Vornamen unseres Vaters, und seitdem er wusste, was unserer Familie bevorstand, sprach er noch weniger mit uns und den Eltern. Vielleicht protestierte er so auf seine Art gegen die Familienerweiterung.
Er war auch sonst das direkte Gegenteil eines redseligen Zeitgenossen, ruhig und oft in sich gekehrt, wie eigentlich alle meine Brüder. Ich hatte nämlich noch zwei weitere. Sie alle galten nicht gerade als Plaudertaschen, die einen Saal voller Menschen unterhalten konnten. Mit meiner Schwester, acht Jahre älter als ich, kam ich gut zurecht. Sie musste auch immer herhalten, wenn ich früher als kleiner Pimpf den Weg zum Klo nicht mehr schaffte. Ein stets gut gelaunter Mensch mit Humor und Lebensfreude.
Wie sollte denn wohl der oder die geartet sein, der oder die jetzt kurz davor stand, das Licht dieser Welt zu erblicken? Der Gewinn der Fußballweltmeisterschaft in der Schweiz lag nun schon einige Jahre zurück. Was sollte es sonst denn schon Interessantes zu dieser Zeit geben?
chapter4Image1.pngHeute fiel der erste Schnee. Und gleich eine Menge. Mein geliebtes kleines Fahrrad musste im Schuppen bleiben. Man käme sowieso nicht vorwärts damit. Also ging es zu Fuß zur Schule, die ca. fünf Kilometer von unserer Siedlung entfernt lag, ein alter Jahrhundertwende-Backsteinbau, in dem es ständig nach Bohnerwachs roch. Der kürzeste Weg führte durch den Wasserwerkswald. Es bedurfte größter Geschicklichkeit, wenn wir frühmorgens in der Dunkelheit abseits vom Waldweg liefen. Vor allem jetzt im Winter, wenn wegen der geschlossenen Schneedecke kaum zu erkennen war, wohin man trat. Geheimnisvoll und verwunschen, so sah ich immer diesen Wald und seine Umgebung.
Unsere Lehrerin hieß Frau Lösser. Sie war bei uns Jungs nicht gerade sehr beliebt. Ständig nörgelte sie an uns herum. Fast täglich hatte sie einen von uns Jungen im Visier. Immer wieder wurden wir mit Nachsitzen und oder mit anderen Strafarbeiten belegt. Meistens wurde als Bestrafung das seitenlange Niederschreiben von Verhaltensregeln gewählt: „Ich darf während des Unterrichtes nicht schwätzen" oder so ähnlich. Auf dem Schulweg diskutierten wir oft, wie wir uns für all die Bestrafungen irgendwann mal angemessen revanchieren könnten und malten es uns schon bildlich aus.
Frau Lösser, klein und von rundlicher Statur, führte ein strenges Regiment. Über ihre Oberlippe stach ein dunkler Damenbart hervor, der stets für unsere Späße herhalten musste. Wir rätselten, ob sie sich vielleicht nass oder trocken rasierte, und ob es zwischen ihr und ihrem Ehemann morgens im Bad Streit um den Rasierer geben würde. Sie lachte selten und verteilte auch ganz gern mal Backpfeifen oder zog an unseren Ohren, dass man fast vom Boden abhob.
Ihr Gatte, ebenfalls Lehrer an einer anderen Schule, brachte sie jeden Morgen mit dem Auto zum Unterricht. Er parkte direkt vor dem Schulgebäude und stieg aus, um ihr Fahrrad aus dem Kofferraum zu heben, mit dem sie nach Schulschluss nach Hause radelte, ein kleines Klapprad, das man mit zwei Handgriffen auseinander bauen konnte. Sie stellte es in einem eigens für das Lehrerkollegium reservierten Fahrradständer ab. Bei schlechtem Wetter kam Frau Lösser oft allein mit dem Auto. Wahrscheinlich setzte sie dann ihren Mann zuerst an seiner Schule ab, bevor sie zu ihrem Unterricht fuhr.
chapter4Image2.pngHeute sollte es also soweit sein. Der Nachwuchs wollte auf die Welt. Mein Vater schickte mich zum Spielen nach draußen. Es war ja sowieso nicht außergewöhnlich, dass wir auch im Winter tagsüber ständig draußen spielten. Wir hielten uns meistens so weit entfernt wie möglich vom Elternhaus auf. So konnte man auf uns weniger schnell zugreifen. Nur bei extrem schlechtem Wetter blieben wir im Haus.
Ich ging zu Schuhmanns, um mit Hans-Jürgen zu spielen. Sie wohnten ein paar Häuser weiter. Hans-Jürgen Schuhmann, ein Junge in meinem Alter, war mein bester Freund. Wir gingen in dieselbe Klasse, saßen in einer Bank.
Frau Schuhmann war eine nette stille Person, die wenig sprach. Sein Vater war Straßenbahnfahrer, was damals für uns wohl der aufregendste Beruf sein musste. Wir beneideten unseren Freund oft um den interessanten Arbeitsplatz seines Vaters.
Mein Vater arbeitete am Fischereihafen. Es wurde dort fast immer nur nachts gearbeitet. Denn es musste ja kühl sein, wenn die Fischdampfer entladen wurden, damit die Fische nicht verdarben.
Wenn Papa dann mal länger arbeitete, bekam er auf der Arbeit ein Paar Wiener Würstchen als kostenlose Schichtzulage, die er jedoch stets mit nach Hause brachte. Als außergewöhnliches Frühstück nahm ich sie mit in die Schule und teilte sie natürlich jedes Mal mit meinem Freund Hans-Jürgen.
Auch dieses angenehme Gewohnheitsrecht stand mit der Geburt des Nachwuchses für mich auf dem Spiel. Ich lief Gefahr, durch die Geburt eines Bruders oder einer Schwester das Privileg des Vorrechtes auf die Würstchen zu verlieren. Wir werden ja sehen.
Als es dunkel wurde, schickte mich Frau Schuhmann nach Hause. Meine Mutter lag im Wohnzimmer auf der Couch, wo sie von einer Nachbarin versorgt wurde. Zum Kinderkriegen gingen die Frauen damals selten in eine Klinik, sondern gebaren den Nachwuchs meistens in heimischer Umgebung.
Man klappte das alte Sitzmöbel aus und machte so ein Bett daraus. Der Kohleofen, der doch eigentlich nur an den Wochenenden angezündet wurde, heizte das Wohnzimmer mollig warm. Das tägliche Leben spielte sich sonst in unserer Küche ab.
Da lag sie nun, meinen neuen Bruder im Arm haltend. Man wollte mir weismachen, der Weihnachtsmann habe uns diesen Bruder schon mal im Voraus geschenkt. Ob ich mich über dieses Geschenk freuen sollte?
Wo sollte dieses Kind schlafen? Kurti und ich teilten uns ein Zimmer. Edgar schlief allein, das auch nur, weil Walter zur See fuhr. Und Kurti wollte auch bald wieder auf einem Schiff anmustern. Dann wäre auch ein Zimmer frei, für mich ganz allein. Auch dieses schöne Gefühl, bald in einem eigenen Zimmer zu schlafen, wurde durch ihn, der in den Armen meiner Mutter seinen ersten irdischen Schlaf abhielt, erheblich getrübt.
Doch von jetzt galt ich nicht mehr als der Kleine. Dieses rosa Kerlchen nahm meinen Platz ein. Durch seine Geburt rutschte ich in der Familienhierarchie eine Stufe höher. Und bis Rudi (so sollte er heißen) eingeschult würde, blieben mir auch die Wiener Würstchen von Papa erhalten, denn ich stand immer noch als erster auf, und hatte somit den ersten Zugriff auf die geliebten Würstchen.
Der Winter ging schnell vorbei, und es drehte sich eigentlich alles nur um den neuen Bruder. Meine Mutter kam schnell wieder auf die Beine. Längeres Erholen konnte sie sich wegen der notwendigen Arbeiten nicht erlauben, und auch ihre sonstige körperliche Konstitution wurde durch die Geburt kaum in Mitleidenschaft gezogen.
Auch sie arbeitete am Fischereihafen. Sie verpackte gefrorenen Fisch in Kisten, die danach in den Handel gingen. Während der Schwangerschaftspause, die nur wenige Wochen dauerte, war sie von meiner Schwester vertreten worden.
Hinten auf unserem Hof befand sich in einem Anbau die Waschküche, wo meine Mutter Rudis voll geschissene Windeln wusch. Sie wurden in einem an der Außenwand befindlichen Gossenstein, wo nur kaltes Wasser den Hahn verließ, grob vorgewaschen. In der Waschküche stand an der hinteren Wand ein Waschkessel, um dessen Rauchrohr eine Vorrichtung mit lauter Drahtstäben zum Trocknen der Wäsche klemmte. Daneben hing an einem Haken der Wäschestampfer, ein langer Holzstiel, an dessen unterem Ende zwei ineinander gestülpte Metallglocken angebracht waren. Man stellte sich auf einen Schemel und stampfte damit kräftig die kochende Wäsche.
Es roch sauber nach Kernseife und Waschlauge. Rechts stand die Wringmangel, die ich oft bediente. Meine Mutter führte die Wäsche zwischen zwei gegeneinander laufende Gummirollen, die ich mit einer großen Kurbel drehte. So presste man das Wasser aus Rudis gewaschenen Windeln.
Einmal im Jahr wurde in dem Waschkessel auch die Wurst von der Hausschlachtung gekocht. Mein Vater fütterte jährlich mindestens ein Schwein fett, das reichlich Fleisch und Wurst lieferte. Nach der Schlachtung ließ sich der Wurstschrank im Keller kaum schließen, und die Regale konnten die „eingeweckten" Gläser kaum tragen. Es roch dann überall herrlich nach Gewürzen.
War die Sau schlachtreif, wurde Freddy Klinger gerufen, der auch in der Siedlung wohnte und vor einem halben Jahr die Metzgerlehre beendet hatte.
chapter4Image3.pngEin großes Fest stand bevor. Meine Eltern feierten Silberhochzeit und Rudis Kindstaufe. Beides sollte an einem Tag stattfinden. Es ist für ein Ehepaar bestimmt selten, dass diese zwei Ereignisse auf einen Tag fallen.
Das ganze Haus wurde hierfür auf den Kopf gestellt. Im Schlafzimmer meiner Eltern, das total leer geräumt wurde, sollten Stühle und Tische aufgestellt werden, die in der Nachbarschaft zusammen geliehen wurden. Die schweren Betten wurden auseinander gebaut und im Schuppen aufbewahrt. Auch das Engelsbild, das sonst über der Kopfseite der Betten hing, bekam vorübergehend einen neuen Platz.
Um unsere Haustür rankte sich eine mit silbernen Schleifen verzierte Tannenzweiggirlande. Und in der Mitte prangte eine große 25.
An den Tagen vor diesem Ereignis wurden mir mehrmals am Tag die üblichen Verhaltensregeln eingetrichtert. Praktisch solle ich mich nicht bewegen, damit nichts passieren und ich nichts anstellen konnte, was die Feierlichkeiten in irgendeiner Weise trüben würde. Wie immer drohte man u. a. mit der Polizei, denn sie wussten, dass ich mir vor diesen uniformierten Herren vor Angst fast in die Hosen machte.
Meine größte Sorge an diesen Feiertagen sollte das Herausschmuggeln der Tortenstücke für Hans-Jürgen Schuhmann und meine anderen Freunde sein. Ich wollte sie unbeschadet und für die Eltern unbemerkt aus dem Haus schaffen. Mir würde schon etwas Passendes einfallen.
In unserer Küche stand beim Betreten links von der Tür der große Kochherd. Im linken Bereich befanden sich eine kleine Klappe zum Befeuern und darunter eine größere bauchige für den Backofen. Hierin wurden im Winter die Backsteine erwärmt, die man dann vorm Schlafengehen ins Bett gelegt bekam, damit man nicht erfror, denn eine Heizung oder einen Ofen gab es in den oberen Zimmern unseres Hauses nicht. Im Winter verzierten Eisblumen in filigranen Ornamenten die Fenster und ließen meiner Phantasie freien Lauf, in ihnen irgendwelche Figuren oder Gesichter zu erkennen. Diese hübschen frostigen Gebilde verschwanden schnell, nachdem die ersten Sonnenstrahlen die Scheiben berührten. Am nächsten Morgen erschienen sie in gänzlich veränderten Umrissen aufs Neue, und meine Phantasie begann wieder mit mir durchzugehen. Ich hauchte ihnen hier und da ein paar Löcher in ihr Gewand, wodurch sich Form und Größe veränderten. Keinen Gedanken verschwendete ich an den Hintergrund Ihrer Entstehung, über das Verhältnis von Luftfeuchtigkeit und Raumtemperatur, das herrschen musste, um ihr Erscheinen zu gewährleisten. Waren die Scheiben frisch geputzt, konnten die Eisblumen sich nicht bilden, erst Staub und Schmutz garantierten ihre Geburt.
Ob die Kinder in heutiger Zeit das Phänomen der Eisblumen jemals kennen lernen werden? Unwahrscheinlich, denn ihre wohl geheizten Kinderzimmer mit klinisch reinen Fenstern werden diese Erscheinung nie zulassen.
Die Kälte störte mich nicht, denn im Bett lag der warme Stein, er machte es gemütlich und kuschelig.
Die Seiten des Küchenherdes umspannte ein silbrig glänzendes Rohr, an dem links der Feuerhaken hing. Heute befand sich in der Backröhre kein Stein, sondern ein riesiger Gussbräter mit Gulasch. Und auf dem Herd, wo die Feuerstelle durch verschieden große Eisenringe verdeckt wurde, stand ein zweiter Topf, in dem die gleiche Menge dieses Fleischgerichtes brutzelte, das als Abendessen für unsere Feier vorgesehen war. Dazu sollte es Kartoffeln und Rotkohl geben.
Nachdem der Pastor meinem Bruder die erforderliche Menge Wassers über den Glatzkopf verteilt und die entsprechenden Worte gesprochen hatte, ging man zum gemütlichen Teil über. Die Torten wurden serviert, und jemand brühte in der Küche ständig frischen Kaffee auf. Die Bohnen wurden per Handbetrieb in einer hölzernen Kaffeemühle gemahlen, die sonst an der Wand hing. Bohnenkaffee galt für die Erwachsenen wohl immer als ein Hauch vom besseren Leben. Für uns gab es Lindes oder Kakao und gegen den Durst wie immer Leitungswasser.
Draußen wartete Hans-Jürgen Schuhmann im Kreise meiner Freunde auf die versprochene Torte. Ich nutzte das kleine Chaos in unserem Haus, um meine Kumpelschar mit dem Festtagskuchen zu versorgen. Als sich die Gesellschaft angeregt bei Kaffee und Kuchen unterhielt, schlich ich mich in die Speisekammer und wollte gerade ein großes Stück Torte auf einen Teller heben, als ich die Stimme meins Vaters hörte. Ich ließ den Kuchen schnell in meiner Hosetasche verschwinden und ging mit ziemlich steifem Bein und die Buttercreme von den Fingern schleckend aus dem Haus, um die meine Hose durchweichende Fracht endlich loszuwerden. Die als Torte nicht mehr erkennbare breiige Masse hat meinen Freunden trotz ihrer Deformation hervorragend geschmeckt.
Natürlich bemerkte meine Mutter die Kuchenflecken