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Die Trommeln der Freiheit
Die Trommeln der Freiheit
Die Trommeln der Freiheit
eBook686 Seiten10 Stunden

Die Trommeln der Freiheit

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Über dieses E-Book

"Die Trommeln der Freiheit" erzählt von der tiefen Freundschaft zwischen einer jungen Frau und einem weltbekannten Schauspieler. Der Leser taucht in eine Welt aus Hoffnungslosigkeit, aber auch aus Vertrauen, Freundschaft und Liebe ein. Schicksalhafte Wendungen begleiten das Leben der jungen Catherine Roppert und ihren besten Freund, Connor Reilly, wobei sich die Frage stellt, wie viel Leid und Herausforderungen eine Freundschaft aushalten kann.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum26. Jan. 2018
ISBN9783742753465
Die Trommeln der Freiheit

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    Buchvorschau

    Die Trommeln der Freiheit - Andrea Hubrich

    Die Trommeln der Freiheit

    Regen, nichts als Regen. Ich wandle unter freiem Himmel, sehe kein Licht in der stockfinsteren Nacht. Die Straße liegt vor mir, über mir greifen die Äste der Bäume nach meinen Gedanken. Endlos scheint die Fahrbahn, und ich bin frei wie der laue Wind, der sanft mein Gesicht umspielt. Die Zeit fließt wie zäher Gummi dahin, vorbei an mir, wie das Haus auf der linken Seite meinem Blick entschwindet. Kein Licht schimmert hinter den Fenstern hervor, alles ist still. Ich höre nur das Rauschen von Abermillionen Wassertropfen, welche sich ihren Weg vom Himmel bahnen, auf das dichte Blätterdach der Bäume fallen und schließlich auf die Erde niederstürzen. Dazwischen bewege ich mich, werde getroffen, werde nass. Ich spüre es nicht. Mein Bett steht heute Nacht verlassen, denn ich denke nicht an Schlaf. Vor mir liegt die Landstraße wie ein schwarzes Band in der Dunkelheit, umsäumt und beschützt von Bäumen links und rechts. Ein pfeilschneller Schatten bewegt sich neben mir, und ich schrecke aus meinen Gedanken empor. Doch es war nur ein weit entfernter Blitz, der meinen ständigen Begleiter für einen Sekundenbruchteil auf den nassen Asphalt geworfen hat. Sonst umhüllt mich Stille, nichts als Stille, die kein Licht mir spendet, in der stockfinsteren Nacht."

    Der Mond leuchtete wie eine silberne Scheibe am Himmel und tauchte die schlafende Erde in ein geheimnisvolles Licht. Ein sanfter Wind strich durch die Bäume und Sträucher. Das Rauschen der Wipfel übertönte die allgegenwärtigen Geräusche des nächtlichen Waldes im Süden der Stadt Little Rock in Arkansas. Von einer Siedlung her drang das Bellen eines Hundes durch die klare Luft und vermischte sich mit dem Rascheln von bunten und abgestorbenen Blättern auf der Erde. Der Sommer ging zu Ende, und der herannahende Herbst schickte seit ein paar Wochen schon seine Vorboten ins Land. Aus einer nahegelegenen Flussniederung stieg Bodennebel empor. Er hüllte das kleine, verwitterte Ziegelhäuschen am Rande eines stillgelegten Bahndamms ein. Die alte Hütte trotzte seit unzähligen Jahren den unberechenbaren Gewalten der Natur. Obwohl das helle Licht des Mondes direkt durch ein schmutziges, von feinen Spinnweben benetztes Fenster schien, brannten Dutzende von Teelichtern in der aus einem einzigen Raum bestehenden Kate und verdrängten die dunklen Schatten der Finsternis. Die kleinen Lichter standen überall, auf dem maroden Dielenfußboden, dem schiefen Tisch und einem ebenfalls grob gezimmerten Schemel, welcher eher einer etwas zu groß geratenen Fußbank, als einem Stuhl glich. Der Schlafplatz verdiente in keiner Weise die Bezeichnung Bett. Da in dem Häuschen schon seit Jahrzehnten niemand mehr wohnte, stand die spartanische, von unzähligen Holzwürmern zerfressene Einrichtung noch immer so an ihrem Platz, wie sie einst zurückgelassen wurde. An der hinteren Seite der Behausung, dort, wo es kein Fenster gab, lagen insgesamt acht uralte, staubige Strohballen in einer Zweierreihe nebeneinander geschichtet. Über dem improvisierten Schlafplatz lag eine ausgebreitete Plüschdecke, auf der ein junges Pärchen in enger, vertrauter Umarmung ruhte. Der eigentliche Zauber der Nacht war erloschen, doch die beiden lagen stumm nebeneinander und genossen die Erinnerungen an ihr gemeinsames Wiedersehen. Keiner der beiden traute sich, die Magie des Augenblicks durch Worte zu zerstören, denn viel zu selten war es ihnen vergönnt, sich ungestört und ohne zeitlichen Druck ihren Gefühlen zueinander hinzugeben. Der junge Mann lag an der weiß getünchten Wand und umklammerte das Mädchen in beinahe verzweifelter Ohnmacht. Er suchte die Hand seiner Geliebten. Als er sie fand, hielt er sie fest umklammert. Das junge Paar war beinahe nackt. Nur eine weitere Decke schützte es vor der Kühle der Septembernacht. „Ich frage mich seit Wochen, wie es mit uns weitergehen soll, rief das zierliche Mädchen und löste sich nun sanft, aber bestimmt, aus den starken Armen ihres Freundes. Sie spürte, dass die Nacht vorbei war, sobald sie diese Worte ausgesprochen hatte, ebenso wie sie wusste, dass dieses Thema wie ein Damoklesschwert über ihre Verbindung schwebte. Dennoch wollte sie klare Verhältnisse, und so richtete sie sich auf, zog sich die Decke über ihre Brust und sah ihren Liebhaber in die Augen. „Ich möchte bei dir bleiben, Hank, fuhr sie mit gedämpfter Stimme fort, als er seine Hände hinter dem Kopf verschränkte, schweigend die nach Holz und muffigem Stroh riechende Luft einatmete und zum spitz zulaufenden Dach des morschen Ziegelbaus hinaufblickte. „Ich liebe dich, seit wir uns vor zwei Jahren zum ersten Mal begegnet sind! Ich will dich nicht immer wieder neu entdecken müssen, nur, weil wir uns manchmal monatelang nicht sehen! „Du weißt, dass es nicht geht, erwiderte Hank ein wenig schroff. „Wir haben doch schon tausend Mal darüber gesprochen! „Aber deine Begründungen kann ich nicht akzeptieren! Warum trennst du dich nicht endgültig von ihr? Wir könnten ganz neu anfangen! Lass und ein Haus kaufen, irgendwo dort, wo uns keiner kennt! Nur du und ich! Nur wir beide! Nun richtete sich auch Hank auf. Er strich dem Mädchen eine dunkle Haarsträhne hinter das Ohr und küsste sie sanft auf den rechten Oberarm. „Wir haben kein Geld, erwiderte er. „Ich kann geradeso die Miete für unsere Wohnung in Chicago bezahlen! Liz kümmert sich um die Kinder, und kleine Mädchen kosten nun mal eine Menge Geld! In Pipers Augen blitzte es wütend auf. „Natürlich kosten sie Geld", zischte sie verächtlich. „Geld, das ganz allein du verdienst, während dein Püppchen viel lieber um die Häuser zieht und jede Woche eine andere Macke heraushängen lässt! Auf welchem Trip ist sie denn diesmal, Hank? Ein neuer Club in der Stadt? Ein neuer Busen? Ein anderes Make-up? Das Fitnessstudio? Elisabeth sollte sich lieber um einen anständigen Job kümmern, anstatt deine Kohle für Dinge zu verpulvern, von denen du überhaupt nichts hast! Piper redete sich richtig in Stimmung. Sie stand auf, verhüllte ihre Blöße mit der Decke und ließ Hank, der nur mit Boxershorts bekleidet war, auf dem Lager zurück. Die junge Frau balancierte barfuß zwischen den Teelichtern und achtete darauf, dass kein Zipfel der Decke mit den kleinen Flämmchen in Berührung kam. Sie suchte nach ihren Kleidern, die in einem wilden Knäuel auf dem morschen Bretterfußboden verstreut lagen, und begann, sich hastig anzuziehen. „Du gehst rund um die Uhr schuften und kommst trotzdem einfach nicht mehr über die Runden! Wohlgemerkt hast du keine Ahnung, wie lange du deine Stelle im Supermarkt noch haben wirst, weil der Discounter vor etwas mehr als drei Wochen haarscharf an einer Pleite vorbei gerasselt ist und drastische Stellenkürzungen vorgesehen sind! Du regst dich pausenlos über deine derzeitige Lebenssituation auf, bist mit der Erziehung der Kinder nicht einverstanden und ziehst viel lieber allein von Party zu Party, anstatt irgendetwas an eurer Beziehung zu retten, was noch zu retten ist! Hab ich was vergessen? Oh ja, natürlich! Wie konnte ich nur? Weil du doch ein so überaus rücksichtsvoller Mensch bist, willst du meiner späteren Karriere in Vancouver keinesfalls im Wege stehen! Weißt du, als du noch mit deinem 40-Tonner unterwegs gewesen bist, warst du ein anderer Mensch, Hank! Du hast dich verändert, aber damit tust du niemanden einen Gefallen! Am Allerwenigsten dir selbst! Piper hatte sich fertig angezogen. Sie schlüpfte gerade in ihre Turnschuhe und band sich das lange Haar zu einem einfachen Zopf zusammen, als nun auch ihr Liebhaber aufstand und seine Sachen aufsammelte. Er fühlte sich in seiner Ehre als gestandener Mann gekränkt und baute sich vor dem Mädchen auf. Obwohl er Piper lange genug kannte und sehr schnell von ihrer impulsiven Art in den Bann gezogen wurde, kam er nicht umhin, ihre Argumente mit großer Überzeugung zu widerlegen: „Du stellst dir immer noch alles so einfach vor, Speedy! Du bist einundzwanzig Jahre alt, ich bin sieben Jahre älter! Die alte Mrs. Wayans ist wie eine Mutter zu dir, nur leider besitzt sie nicht die gleiche Meinung über mich! Ich kann dir mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass sie dich nicht im Entferntesten mit mir fortgehen lassen würde! Würden meine Eltern von unserer Sache Wind bekommen, dann sähe es auch nicht besser aus! Sie sind einfache Farmer, die ihr Leben lang hart gearbeitet haben und noch sehr an den alten Traditionen hängen! Hast du vergessen, wie Mrs. Wayans Mann mit einer Schrotflinte auf mich losgegangen ist, als wir zwei uns zufällig auf der Straße vor eurem Haus begegnet sind? Also, ich nicht! Verzeihe mir meine Offenheit, aber ich bin nicht gerade traurig darüber, dass der senile Opa im Frühjahr ins Gras gebissen hat! Dein großes Ziel ist ein Job in den Studios von Vancouver? Ja, glaubst du denn ernsthaft, so eine Stelle fällt dir einfach vor die Füße? Du wirst hart an deinem Traumberuf arbeiten müssen, und ich will nicht, dass ich in dieser Zeit womöglich die zweite Geige in deinem Leben spielen muss, weil sich alles nur noch um das Thema Filmstudium dreht! Du sagst, du hast kaum Erspartes, und ich verdiene auch nicht die Welt, wie du weißt! „Ja, Hank! Aber du würdest anders dastehen, wenn du deinen Arsch in den Wind gehalten und dich nach einem Fahrerjob im Nahverkehr umgesehen hättest! Leider hast du diesbezüglich jämmerlich versagt! Ich kann sehr gut nachvollziehen, warum dein Boss rechtzeitig die Reißleine gezogen hat! Du konntest nicht genug bekommen und wurdest vor die Tür gesetzt, damit er sich dieses verrückte Pokerspiel nicht noch länger mit ansehen musste! Nur mal so nebenbei: An seiner Stelle hätte ich dich auch rausgeworfen! Hank und Piper bliesen die Teelichter aus. Alle, bis auf drei Flammen waren erloschen, als Piper entschieden ruhiger und sachlicher fragte: „Und? Wie lange beehrst du deine alten Leute diesmal? Hank zuckte mit den Schultern. „Ich habe zwei Wochen Urlaub, sprach er. „In zwei Tagen muss mein Auto in die Werkstatt. Die Ölwanne ist kaputt. Wir werden sehen, wie es weitergeht." Hank blies die restlichen drei Lichter aus und folgte Piper in die klare Nachtluft hinaus. Er sah die bittere Verzweiflung nicht, die ihr zartes, blasses Gesicht bedeckte.

    Piper begann ihren Dienst in einem privaten 4-Sterne-Hotel an einem regnerischen Nachmittag. Das Gästehaus mit einem exklusiven Restaurant befand sich nur zwei Straßenzüge weiter in derselben Vorstadtsiedlung, in der auch sie zu Hause war. Die junge Frau arbeitete dort als Köchin, absolvierte vor etwas mehr als zwei Jahren ein mehrwöchiges Praktikum und beschloss, den ihr angebotenen Arbeitsvertrag doch noch zu unterschreiben. Eigentlich wollte sie die Stelle nicht annehmen, denn ihr schwebten ganz andere Pläne vor. Zuerst wollte sie nach New York, in den zahlreichen Clubs von Manhattan das Leben kennenlernen und ein Stück ihrer neu gewonnenen Freiheit während einer Reise quer durch die Vereinigten Staaten auskosten. Sie wünschte sich ein eigenes Haus, um ihr Leben nach so vielen Jahren des Leides und des Zurücksteckens vollends ordnen zu können, wollte neue Leute kennenlernen und weiter an ihrem Manuskript, einem Archäologie-Thriller, schreiben. Er sollte die Eintrittskarte in die Produktionshallen im Norden der Hauptstadt von British Columbia in Kanada sein. Verbunden mit einem Kontakt aus Pipers früherem Leben würde dieser Schritt keine Hürde darstellen, und so mancher ihrer neuen Freunde würde sich wundern, wie reibungslos und glatt der Zugang zu einer Produktionsfirma über die Bühne ginge. Sie wohnte jedoch noch immer bei der netten, ein bisschen verschrobenen Mrs. Wayans, die sie in einem Motel in der Nähe des Flughafens von Little Rock kennengelernt hatte. Die alte Frau, welche die siebzig schon weit überschritten hatte, arbeitete dort stundenweise als Zimmermädchen. Als sich die beiden näher kamen und Mrs. Wayans herausfand, dass Piper auf der Suche nach einer längerfristigen Bleibe war, redete sie so lange auf die junge Frau ein, bis diese schließlich mit Sack und Pack in eines der ehemaligen Kinderzimmer ihrer beiden längst erwachsenen Töchter einzog. Das Haus war zwar über hundert Jahre alt, aber es wurde von seinen Besitzern gut in Schuss gehalten. Mrs. Wayans war es auch, die ihre Untermieterin mit einem langjährigen, heute selbstständigen Arbeitskollegen bekannt machte, einem gewissen Albert Chipson. Er war mindestens zwanzig Jahre jünger als Pipers mittlerweile mütterliche Freundin, doch er sah genauso alt aus. Sehr schnell fand sie heraus, warum das so war. Mit Chipsons Sohn Hugh, dem Erben des Hotels seines Vaters, verband Piper ein mehr als kollegiales Verhältnis. Während ihres Praktikums kam es manchmal vor, dass sie nach Dienstschluss zusammen mit anderen Kollegen bis mitten in die Nacht hinein bei einem Glas Bier saß und Hughs Geschichten über die Anfänge des Gastbetriebes lauschte. Demnach stampfte Albert Chipson wahrlich aus nur einer abbruchreifen, leer stehenden Scheune eine kleine Pension aus dem Boden, die immer weiter erweitert und vergrößert wurde. Irgendwann stand eben das 4-Sterne-Hotel so da, wie Piper es zu jenem Zeitpunkt kannte, nämlich als ein edles, bis über die Grenzen von Arkansas hinaus bekanntes Haus. Doch sie hatte keine Ahnung, wie viel Schweiß und Arbeit in jedem Quadratmeter steckte, und welche Entbehrungen der Bau eines so gehobenen Hotels mit sich gebracht hatte. Die junge Frau konnte bestenfalls nur erahnen, welche Mühen und wie viel Geld die acht hauseigenen Bowlingbahnen, das Fitnessstudio, die Sauna, die Konferenzräume und die Schwimmhalle gekostet hatten. Hinzu kamen im Laufe der Jahre ein Beautysalon und ein hausinternes Kino. Dass Hugh mitsamt seinen beiden jüngeren Schwestern seine Jugend quasi auf einer immerwährenden Baustelle verbracht hatte, wusste Piper nicht. Er hatte ihr nur einmal von seinem großen Hobby erzählt und geriet allein schon bei dem Gedanken an seine Modellflugzeuge ins Schwärmen. Ungeachtet ihrer eigentlichen Zukunftspläne, unterschrieb Piper schließlich doch den Arbeitsvertrag. Irgendwann begann sie, diese Entscheidung zu bereuen, wenngleich ihre Besorgnis nicht ihren zurückgestellten Träumen galt, sondern vielmehr dem Verhältnis zwischen ihr und ihrem Vorgesetzten. Sie fand sehr schnell heraus, dass die Psyche des alten Chipson aufgrund der vielen Jahre auf dem Bau und der unzähligen, inbegriffenen schlaflosen Nächte, ziemlich gelitten hatte. Sie wusste demzufolge auch bald, dass Mr. Big Boss niemals darüber nachdachte, wie sehr seine ordinäre, herablassende Art und Weise die Mitarbeiter des Hotels verletzte und sich jene Menschen einzig und allein nur aus Angst um ihren Arbeitsplatz gegen die Tyrannei des Oberhauptes nicht zur Wehr setzten. Dennoch war Piper naiv genug, um zu glauben, daran würde sich irgendwann einmal etwas ändern. Sie kannte Albert Chipson wohl nicht gut genug, denn es geschah überhaupt nichts in diese Richtung. Tagein, tagaus nahm sie still und geduldig seine Spitzen in Kauf, wohl wissend, dass aus ihr schon längst nur ein weiteres Mitglied im Kreise ihrer bemerkenswert nachsichtigen Kollegen geworden war. Hier bekam jeder einmal sein Fett weg, egal, ob er nun etwas ausgefressen hatte oder sich wunderte, warum er eigentlich schon wieder als Buhmann des Tages herhalten musste. Eines Tages riefen Vater und Sohn eine kurzfristig anberaumte Personalbesprechung ein. Als Juniorchef des Hotels war Hugh Chipson zwar nicht das genaue Gegenteil seines immer seltsamer werdenden Vaters, aber Millionen Mal offener und verständnisvoller. Piper hatte inzwischen genug Chancen bekommen, um dies bestätigen zu können, denn es geschah oft genug, dass sich Chipson Junior vor seine Mitarbeiter stellte und sie so vor den Eskapaden seines Vaters beschützte. Jeder Angestellte des Hauses verstand sich mit ihm und seiner Frau Gloria prima. Sicherlich lag es zum größten Teil auch daran, dass er in mancherlei Hinsicht eine komplett andere Ansicht als sein alter Herr besaß. Piper schaute in die gelösten Mienen der Chefs und in die angespannten Gesichter ihrer Kollegen, als Hugh das Gespräch in Gang setzte: „Ich möchte euch zunächst einmal zu unserem Meeting begrüßen und danke euch für eure Aufmerksamkeit. Wir sind heute zusammengekommen, um eventuell aufkeimende Gerüchte zu beseitigen und euch über den gegenwärtigen Sachverhalt zu informieren. In letzter Zeit kam es immer öfter vor, dass ich meinen Vater in seinen Pflichten als Geschäftsführer vertreten habe, da er in Springfield, Missouri, geschäftliche Dinge zu regeln hatte. Diese Phase ist nun abgeschlossen. Mit sofortiger Wirkung zieht sich mein Vater aus der Position als Leiter unseres Hauses zurück und widmet sich verstärkt seinen neuen Aufgaben als Inhaber eines Fitness- und Beautystudios in Springfield. Im Klartext heißt das, dass ich zusammen mit Gloria den Posten meines Vaters übernehme und ihr eure betriebsinternen Probleme, Ideen und Wünsche an meine Frau und mich weiterreichen könnt. Alles in allem geschah dieser Wechsel trotz relativ langer Vorbereitungszeit für mich ziemlich schnell und unerwartet. Ich weiß jedoch, dass wir ein gutes Team sind und uns schnell mit den neuen Gegebenheiten vertraut machen werden! Piper ließ ihren Blick in die versammelte Menge ihrer Kollegen und Freunde schweifen und las in ausnahmslos allen Augen Erleichterung und frischen Mut. Endlich würde eine neue Ära beginnen, welcher jeder ihrer Kollegen mit neuer Zuversicht entgegentrat. Da sich das gesamte Personal bis auf wenige Ausnahmen aus Menschen zusammensetzte, die entweder Albert, oder seinen Sohn schon jahrelang kannten, wirkte der weitere Verlauf der Versammlung ziemlich familiär. Die Sitzung löste sich nach einer reichlichen halben Stunde auf, und nicht nur Piper ging mit neuer, aufgepeppter Moral an ihre Arbeit. Das alles lag nun schon sieben Monate zurück. Doch obwohl ihr Job als Köchin in einem Sport- und Naturhotel hart und anstrengend war, ging ihr so manches in der entspannteren, wohl gestimmten Atmosphäre leichter von der Hand. So geschah es auch an jenem Nachmittag, wenngleich sie bereits wusste, dass sich der alte Chipson als Urlaubsvertretung für einen Masseur sozusagen in heimischen Gefilden aufhielt. Piper nahm sich vor, ihrem ehemaligen Boss den nötigen Respekt entgegenzubringen, den er als Erbauer dieses Objektes und als Schöpfer vieler, gewinnbringender Verkaufsstrategien schließlich auch verdiente. Knapp vier Stunden lang lief alles bestens, doch dann begab sich Chipson auf eine folgenschwere Stippvisite in die Küche. Zu seinen Angewohnheiten gehörte es seit Jahr und Tag, mit den unmöglichsten Klamotten dort aufzutauchen. Dabei schien es keine Rolle zu spielen, ob er gerade in vor Dreck starrenden Bauoveralls, ölverschmierten Massageoutfits oder seiner heiß geliebten Motorradkluft steckte. Piper missfiel Chipsons Auftritt in verschwitzten, nach ätherischen Ölen riechenden Sachen gewaltig, doch sie ließ sich nichts anmerken. Sie wollte einen Zwist unbedingt vermeiden und nervenaufreibenden Streitereien aus dem Wege gehen. Der obligatorische Rundgang des Seniorchefs setzte ein. Er schnappte sich einen Löffel, schaute in sämtliche Töpfe und Pfannen, die gerade auf dem Herd standen, und probierte von jeder der kochenden und bratenden Speisen, ohne den benutzten Löffel auch nur ein einziges Mal zu wechseln. Piper schickte daraufhin ein stummes Stoßgebet gen Himmel, denn sie würde die widerlichen Manieren dieses Flegels womöglich nicht mehr allzu lange so geduldig ertragen können, ohne gehörig auszurasten. Sie verrichtete ihre Arbeit, immer in der Erwartung eines Kommentars, welches früher oder später über Chipsons Lippen kommen würde. An diesem späten Nachmittag geschah das Unvermeidliche eben früher. Piper war mit dem Anrichten von pochierten Seezungenröllchen auf einem Lauchbett beschäftigt, als unter lautem Schmatzen die erste Frage ertönte: „Für wen kochst ’n das, Speedy? In Piper erwachte in Bezug auf diese vollkommen überflüssige Frage lange unterdrückte, zynische Frechheit. „Keine Ahnung, Boss, antwortete sie gleichgültig. „Ich kann selbstverständlich auch ins Restaurant gehen und die Leute fragen, wie sie heißen, wo sie herkommen, und vor allem, warum sie das tun! Aber ich verlasse mich mal auf meine Fähigkeiten als Hellseherin und tippe ganz stark auf den Hashimoto aus Tokio, nebst Gemahlin! Chipsons Blick verriet Piper, dass er sie auf der Stelle fressen könnte, am liebsten gleich roh und ohne Senf. Aber er beherrschte sich, richtete sich vor den Augen der angeekelten Köchin mit einem geübten Griff in den Schritt seine Männlichkeit und stellte stattdessen weitere überflüssige, nervende Fragen: „Sind die Röllchen durch gegart? Ist der Mandelreis gewürzt? Seine absolute Lieblingsfrage lautete allerdings seit eh und je: „Sind die Teller richtig heiß? Piper konnte die Speisekarte des Restaurants im Schlaf kochen und hatte schon am Nachmittag das Wärmerechaud für das Geschirr auf die höchste Stufe gestellt, sodass sie sich ganz beruhigt ihrer Tätigkeit widmen konnte. Sie beantwortete stets mit einem ruhigen, einsilbigen Ja, obwohl sie innerlich kurz vorm Platzen stand. Gerade, als sie die Glocke auf der Wärmebrücke betätigte, um einen Kellner zu rufen, betatschte Chipson einen der beiden Teller und brauste in glühendem Zorn auf: „Die Dinger sind doch pisswarm! Wie blöd bist denn du? Zuerst war Piper einfach nur erschrocken, weil dieser Angriff völlig ungerechtfertigt war. Schließlich glühte das weiße Porzellan beinahe. Doch gleich darauf sammelte sie sich wieder und schrie nicht minder leise: „Wahrscheinlich nicht viel blöder als Sie, Sie arroganter Kotzbrocken! Sie schleuderte ihr Touchaut, den sogenannten Anfasser, auf eine freie Arbeitsfläche und fuhr selbst dann noch in wilder Rage fort, als Hugh, durch den Krach in der Küche aufgeschreckt, den hohen, sauberen Raum betrat. „Sie kommen hier rein, kratzen sich am Sack und gackern in einer Tour herum! Wenn Sie schon so dermaßen überzeugt sind, Sie bringen alles besser, wissen alles und können alles, dann will ich Sie um Gottes Willen bloß nicht aufhalten! Sie band ihren Vorbinder ab und riss sich die Kochmütze mit einem Ruck vom Kopf, obwohl sie das Kleidungsstück mit zwei Haarnadeln fixiert hatte. „Suchen Sie sich jemanden, der es sich gefallen lässt, wenn ständig an seinen Kompetenzen herumgenörgelt wird, aber ich habe den Kanal voll! Mir reicht’s! Pipers Blick wanderte zu Hugh hinüber, der neben seinem Vater stand und so verdutzt über den Ausraster seiner Angestellten war, dass er sie nur mit großen Augen anstarren konnte. So aufgebracht hatte er sie noch nie erlebt. „Und du glotzt mich gefälligst nicht so dämlich an, fuhr sie ihn an. „Ich bin enttäuscht von dir, Hugh! Ich habe gerade von dir erwartet, dass sich unter deiner Führung etwas ändern würde, aber immer, wenn dein Alter in diesem Scheißhaus auftaucht, schleichst du mit eingezogenem Schwanz durch die Prärie! Es scheint, als würde die Aufgabe eines Geschäftsführers dein Limit um ein Vielfaches überschreiten, und zwar nach allen Seiten! Einen wunderschönen, guten Tag, den Herrschaften! Piper stapfte erhobenen Hauptes in Richtung des Lieferanteneingangs, als ihr etwas einfiel, was sie unbedingt noch loswerden wollte: „Ach übrigens! Ich wünsche euch noch viel Spaß! Ich möchte nur nicht wissen, welche Pampe ihr Zwei noch zusammenschustern werdet! Mir tun nur die nächsten Gäste leid, die euren Kleister zum Fraß vorgesetzt bekommen! Was mich betrifft, so verlasse ich vorher noch fluchtartig die Lokalitäten! Ich will mich ja nicht schämen müssen! „Speedy ..., rief Hugh, doch es war bereits zu spät. Die Hintertür krachte mit solcher Wucht zu, dass die massiven Wände erzitterten. Kaum war Piper gegangen, erwachten Albert und Hugh Chipson aus ihrer Lähmung und verloren sich in einem heftigen, bitterbösen Streit, den sich nicht nur das Personal anhören musste, sondern auch die Gäste im Restaurant. Piper scherte sich nicht darum. Sie würde dieses Haus nie wieder betreten.

    Unterwegs zu den Umkleidekabinen für das Personal begegnete der noch immer rasenden, jungen Frau eine der diensthabenden Kellnerinnen. Die hochgewachsene, schlanke Angestellte klopfte ihrer wütenden Ex-Kollegin anerkennend auf die Schulter. „Hey! Das war vielleicht krass, Speedy, rief sie begeistert. „Hätte nicht gedacht, dass du so aus dem Korsett springen kannst! Piper sah Cheryl nur einen Moment lang an. Sie war an ihrem Spind angelangt, griff in aller Hast nach den Ersatzgarnituren ihrer Arbeitskleidung und stopfte sie in einen olivgrünen Baumwollrucksack. Dabei fiel ihr Blick auf ein Foto, welches mit Klebeband an der Innenseite der grauen Metallbox festgeheftet worden war. Es zeigte eine Gruppe von Personen, unter denen sich auch Cheryl und Piper befanden. Die beiden jungen Frauen standen in der Mitte und wurden von einer ganzen Meute strahlender Menschen umzingelt. Sie alle standen vor Mrs. Wayans Haus, über dessen Eingang ein weißes Banner mit aufgedruckten, bunten Buchstaben hing. „Happy Birthday, Speedy, war darauf zu lesen. Piper erzählte Cheryl einmal, dass sie an jedem Morgen zwischen sechs und sieben Uhr zum Joggen ging und handelte sich daraufhin ihren liebevoll ausgedachten Spitznamen ein. Inzwischen haftete Speedy wie ein zweiter Name an ihr. Selbst die Nachbarn in der Siedlung, all ihre Kollegen und manchmal auch Hank nannten sie so. Doch das war nun vorbei, zumindest, was die Chipsons betraf. „Frag mich bloß nicht, ob mir irgendetwas davon leidtut, Kleine, entgegnete Piper, obwohl sie selbst um einiges kleiner als ihre Kollegin war. Die Inbrunst, mit der sie ihre Freundin beglückte, ließ diese nicht an der Intensität der Worte zweifeln. „Oh, keine Bange! Ich fand es doch voll okay! So was musste doch mal gesagt werden! Wir haben es nämlich satt, uns die Finger an den brütend heißen Tellern zu verbrennen. Piper zischte: „Ihr erzählt es mir jeden Tag aufs Neue! Aber nachdem ich nun so grandios die Kurve gekratzt habe, bin ich froh, dass ich es endlich nicht mehr hören muss! Und weißt du was? Mir geht es absolut prächtig, ganz im Gegensatz von vor zehn Minuten! „Du bist ganz schön mutig! Was wirst du jetzt tun? Piper riss das Foto von der Tür des Spindes und steckte es ein. Sie zog ihre Arbeitskleidung aus und schlüpfte in eine leichte Baumwollhose, die sie mit einem hellen T-Shirt kombinierte. „Du kennst ja meine Pläne, Cheryl! Lass uns bei einem Martini darüber reden, okay? Was allerdings den Rest dieses wundervollen Abends betrifft, so werde ich meine Bestzeiten im Lauftraining um Minuten unterbieten! Danach freue ich mich auf einen Scotch on the Rocks und eine riesige Schinkenpizza mit einer doppelten Portion Käse, schön knusprig gebacken, aber nicht zu kross! Die habe ich mir auf der ganzen Linie verdient, oder was meinst du? Und mit Mut hat dieser Ausraster bestimmt nichts zu tun! So etwas nennt man wohl Befreiungsschlag! Piper schulterte ihren prall vollen Rucksack und umarmte Cheryl zum Abschied, so fest sie nur konnte. „Hau rein, Speedy", waren für lange Jahre die letzten Worte, welche die junge Frau von ihrer Freundin hören sollte. Ihr Entschluss, dieses Gebäude niemals wieder zu betreten, stand fest, wenngleich sich Piper nur zu gern gewünscht hätte, sich von all den ihr lieb gewonnenen Kollegen verabschieden zu können. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, für ausreichenden Gesprächsstoff für mindestens vier Wochen gesorgt zu haben. Es funktionierte bis weit darüber hinaus. Nicht die Kündigung selbst hinterließ dabei einen bleibenden Eindruck bei dem verbliebenen Personal, sondern die Art und Weise, wie sie vonstatten ging. Niemand der über vierzig Angestellten äußerte sich jemals missbilligend über Piper Buchanons Entscheidung.

    Piper saß noch keine zehn Sekunden in ihrem feuerroten Landrover, als das Smartphone piepste. Sie wollte nach Dienstschluss eigentlich noch ins Kino fahren, aber die Lust auf einen spannenden Actionfilm war ihr gehörig vergangen. Am Klang des Signaltons erkannte sie, dass es sich um eine Textmitteilung handelte. Sie nahm das Mobiltelefon vom Beifahrersitz, rief das Nachrichtenmenü auf und las die Worte auf dem hell leuchtenden Display: „Mach's gut, Speedy! Ich fahre morgen wieder nach Chicago zurück! Halte die Ohren steif! Hank!" Sie lehnte sich zurück, ließ das Handy in ihren Schoß fallen, als hätte es sie gerade gebissen, und schlug mit zu Fäusten geballten Händen mehrmals auf das schwarze Lederlenkrad ein. Manchmal dauert das Begreifen einer Sache ziemlich lange, doch diesmal konnte sich Piper nicht mehr um die Wahrheit drücken. Endlich kapierte sie, dass ihre Unerfahrenheit und ihre Sehnsucht nach der Liebe eines Mannes unbarmherzig ausgenutzt wurden. Sie fühlte sich betrogen und verletzt. In ihren Augen spiegelte sich Niedergeschlagenheit, Wut, Fassungslosigkeit und Trotz wider, alles auf einmal. Doch auch ein anderes Gefühl breitete sich in ihr aus – Entschlossenheit nämlich, die immer größer wurde und alles andere zu verdrängen schien. Piper Buchanon startete den Motor ihres Landrovers, legte den Gang ein und fuhr mit durchdrehenden Rädern vom Parkplatz ihrer gerade verlorenen Arbeitsstelle zu Mrs. Wayans Haus. Als sie zwanzig Minuten später wieder in ihrem Auto saß, stand für sie fest, dass sie die Vorstadtsiedlung von Little Rock zum letzten Mal verlassen würde. Wohin ihr Weg sie führen würde, stand völlig in den Sternen.

    Drei Jahre später.

    Pembroke lag im Westen des Bundesstaates Virginia und war genau das, was man meint, wenn man vom viel zitierten „Arsch der Welt" spricht. Der Ort in den Appalachen zählte noch nicht einmal eintausend Einwohner, die nächste, größere Stadt lag knapp zehn Meilen entfernt, und die einzige, wirklich beständige Touristenattraktion stellte Samuel Delisle dar, wenn er mit seinen achtundneunzig Jahren beinahe an jedem Abend hackedicht aus der Kneipe torkelte, um mitten auf der Straße einen bühnenreifen Tango aufs Parkett zu legen. Die Bürgermeisterin, Hannah Moore, setzte sich in der Nachbarstadt Blacksburg vehement dafür ein, dass in Pembroke endlich das lange versprochene, geplante Freibad gebaut würde, doch trotz ihrer Hartnäckigkeit blieb die Genehmigung für ihre Finanzierungspläne bislang aus. Dieses kleine Nest, in dem es weder ein Kino, noch ein anständiges Einkaufszentrum gab, konnte dennoch auf eine fast 270-jährige Geschichte zurückblicken, worauf jeder einzelne Einwohner mächtig stolz war. Es war mitten in der Woche gewesen, noch sehr früh am Morgen. Die Eltern schickten ihre Kinder zum Schulbus, der laut hupend an den Auffahrten der Einfamilienhäuser wartete und typisch gelb lackiert war. An den Seiten stand in schwarzer Schrift Blacksburg Highschool, ein weiteres Thema, bei dem Hannah Moores Kampfeslust erwachte. Sie wusste zwar, das Pembroke nicht den Hauch einer Chance haben konnte, um neben der Junior High eine weiterführende Schule anzugliedern, doch sie setzte alles daran, bei den Stadträten im Nachbarort und in Roanoke nicht in Vergessenheit zu geraten. Nur so erreichte sie neben der alljährlichen Finanzspritze aus dem Spendentopf des Bundesstaates Virginia auch einige Zuschüsse, um eben nicht nur das jährliche Stadtfest auszurichten und Reparatur- und Instandhaltungsmaßnahmen für öffentliche Gebäude und Straßen zu bezahlen, sondern auch Zuschüsse, um den Liftbetrieb außerhalb des Ortes in der Wintersaison aufrecht zu erhalten. Zwar gab es bis vor knapp zwei Jahren noch einen privaten Betreiber, doch ein einziger, milder Winter, der gerade einmal insgesamt drei Wochen ausreichenden Pulverschnee und kalte Temperaturen mit sich brachte, reichte aus, um den Pächter der Skianlage in die Flucht zu schlagen. Da sich nach mehreren erfolglosen Ausschreibungen niemand fand, der das Risiko eines weiteren einnahmeschwachen Winters auf sich nehmen wollte, beschloss Mrs. Moore schließlich, den Liftbetrieb in die Hände des Ortes selbst zu legen. Dieser Entscheidung gingen zähe Absprachen mit den Gemeinderatsmitgliedern voraus, denn nicht jeder konnte sich vom Erfolg des vorgelegten Konzepts überzeugen. Unter den Versammlungsteilnehmern befanden sich nämlich auch die drei führenden Gastronomen Pembrokes, deren einflussreiches Handeln und rednerisches Geschick erst nach insgesamt fünf über Stunden andauernde Gespräche schließlich auch die letzten Zweifler umstimmen konnten. Schließlich lockte eine gut präparierte Piste eine Menge Gäste an, auf deren Geld das Pembroke Inn Hotel, sowie zahlreiche weitere Pensionen und Gaststätten eben angewiesen waren. In einer guten Saison konnte man als gewiefter Geschäftsmann eine Menge Kohle absahnen, doch jeder einzelne Gastronom und Souvenirverkäufer musste damit ein ganzes Jahr über die Runden kommen. Jetzt war gerade einmal Halbzeit angesagt, denn es war Mitte Juni. In dieser Zeit hielten sich nur eine Handvoll Gäste in Pembroke auf und genossen die himmlische Ruhe in der verträumten Stadt. Die Sonne schien und versprach einen warmen, wunderschönen Frühsommertag. Auf den Treppenstufen vor dem Haus an der Pembroke Park Avenue 117 standen zwei volle Milchflaschen. Als Buzz, der Zeitungsjunge, die Tagespresse in einem hohen Bogen über den Gartenzaun warf und ausgerechnet die Milchflaschen traf, gerieten sie bedrohlich ins Wanken. Sie klirrten nur kurz, als sie aneinander trafen, dann war es wieder still. Es wiederholte sich an fast jedem Morgen, Tag für Tag, Woche für Woche. Die Vögel zwitscherten in den Bäumen, der Wind strich sanft durch die Äste und über das kniehohe, mit Tau bedeckte Gras. Ansonsten schien die Zeit über dem Grundstück stillzustehen. Alles war so ruhig, so unglaublich friedlich. Doch plötzlich öffnete sich langsam und zögerlich die einstmals weiße Haustür. Die nach Öl lechzenden Scharniere quietschten jämmerlich und anhaltend, je weiter die Tür geöffnet wurde. Es schien, als würde sämtliche Dunkelheit der Erde in diesem heruntergekommenen, verschlafenen Haus wohnen, denn hinter der nun offenstehenden Tür gab es nichts, außer alles verschlingende, schier unendlich tiefe Finsternis. Minutenlang bewegte sich absolut nichts in dieser unheimlichen Schwärze, bis endlich eine Gestalt aus dem Schatten des Hauses hervor wankte. Es gab nichts, was an diesem ausgemergelten, dünnen Frauenkörper normal war, außer vielleicht das Tattoo auf ihrem linken Oberarm. Es zeigte das Haupt eines Wolfes und wurde irgendwann einmal in die zarte Haut dieses Geschöpfes eingebrannt, als es noch fähig war, irgendetwas zu fühlen. Der Körper dessen, was im Grunde genommen nur ansatzweise wie der einer Frau aussah, glich einer einzigen, blutigen Schramme. Das fettige, ungepflegte Haar fiel in langen Strähnen in das Gesicht des Wesens und verdeckte eine klaffende Platzwunde über dem linken Auge. Das herabtropfende Blut hatte sich mit dem aus der Nase, der Lippen und dem rechten Mundwinkel vermischt und war schon längst verkrustet. Überall, an den Armen, den Beinen und selbst auf dem Dekolleté, prangten blaue Flecken und rote Striemen, ein Zeichen von grauenhafter, roher Gewalt. Das hellblaue, ärmellose Trägertop und die kurze Jeanshose waren blutverschmiert und zerrissen. Die blassen, dünnen Arme trugen lange Narben. Die wenigsten von ihnen waren verheilt, die meisten anderen durch neue Schnitte aufgeschlitzt. Blut rann auch an den fast weißen, dünnen Oberschenkeln hinab, doch diese Flüssigkeit war noch nicht eingetrocknet. Die Gestalt torkelte die Treppenstufen des Hauses hinunter, stolperte und fiel der Länge nach auf den asphaltierten Weg. Ein unmenschlicher Laut entrann ihrer Kehle, als ihr Körper aufschlug und sie den Druck und die Schmerzen des Aufpralls spürte. Als sie sich aufrappelte, reichte ihre Kraft nur noch, um auf allen Vieren vorwärts zu kriechen. Dass sie sich dabei auf den aufgeschürften Handflächen und den ebenfalls verletzten Knien fortschleppte, wusste sie nicht. Sie konnte es nicht fühlen. Ihr Blick richtete sich auf das Gartentor an der Straße, doch das rechte, noch nicht blutunterlaufene und geschwollene Auge schaute in eine andere Welt. Am Ende des Weges brach sie zusammen.

    Connor Reilly fühlte sich großartig. Er hatte noch vor dem Morgengrauen seine Harley Davidson gesattelt, sodass zu dieser frühen Stunde bereits beinahe sechzig Meilen hinter ihm lagen. Nachdem er aus dem kleinen Motel in Roanoke ausgecheckt war, fuhr er zu einer Tankstelle, um seine Maschine für die anstehende Tagesstrecke zu rüsten und um mit seiner Frau Renée in Falconfort zu telefonieren. Nun genoss er den lauen Fahrtwind in seinem braunen, von wenigen grauen Strähnen durchzogenen Haar und atmete tief die klare Luft der Appalachen ein. Seit vier Jahren schon hatte der über einem Meter neunzig große Hüne diesen Ausflug geplant und sorgfältig vorbereitet, doch erst in diesem Jahr kam er dazu, ihn in die Tat umzusetzen. Die Geschäfte in seiner eigenen Filmproduktionsfirma in Los Angeles, sowie die Expansion und die ständig steigende Rentabilität der White Denning Farm in Arizona, verlangten nach Connors Anwesenheit und ließen ihm nur selten ein paar freie Tage im Jahr. Doch es lag nicht nur am beruflichen Erfolg, der ein Lächeln in das milde, leicht faltige Gesicht des Bikers zauberte. Sein ganzer Stolz galt Renée und den vier Kindern. Der älteste Sohn, Jason, war gerade fünf geworden, die Zwillinge Jordan und Catherine zählten dreieinhalb Lenze, und der Jüngste des flotten Quartetts hieß Jerry. Er war noch nicht einmal acht Monate alt. Zusammen mit seiner Frau und zwölf Festangestellten betrieb Connor neben dem Farmbetrieb auch eine kleine Pension, die er auf seinem Hof eröffnet hatte und ein gutes Zusatzeinkommen abwarf. Nicht zuletzt lag es wohl daran, dass sich schon zahlreiche seiner Schauspielkollegen auf der White Denning einquartiert hatten, um für einige Tage im Jahr dem Trubel und dem ständigen Blitzlichtgewitter zu entkommen. Schon vor Jahren, zu Beginn seiner sehr erfolgreichen Karriere in Hollywood, ließ er über seinem Cousin und damaligen Agenten Clifford Norton eine Pressemitteilung herausgeben, die besagte, dass jedem Fotografen, Reporter oder Paparazzi, der heimlich Aufnahmen aus seinem Leben schoss und der Öffentlichkeit zugängig machte, eine saftige Geldstrafe drohte. Natürlich beinhaltete dies auch sein familiäres Umfeld. Besaß dennoch jemand die Dreistigkeit, gegen Connor Reillys Kodex zu verstoßen, standen dem Weltstar die richtigen Anwälte zur Verfügung, die das berufliche Leben des Störenfrieds ein für alle Mal ruinierten. Inmitten seiner Gedanken passierte der Biker die Stadtgrenze von Pimbroke, oder so ähnlich. Connor drosselte das Tempo und nahm sich vor, nach einer geeigneten Stelle am Straßenrand zu suchen, an der es vielleicht eine Bank gab. Noch mehr würde er allerdings eine Tankstelle begrüßen, denn dann konnte er sein 200 PS starkes Baby volltanken, um an diesem Tag noch bis nach Washington, D.C. zu gelangen. Anschließend wollte er etwas essen und trinken. Ein Becher Kaffee wäre wunderbar, schön heiß und so schwarz wie die Nacht, aus der Reilly vor weit über einer Stunde getaucht war. Das Chrom seiner Maschine blitzte im Morgenlicht, während er in die Idylle einer typischen, amerikanischen Kleinstadt eindrang. Sicher mochte es schön sein, in solch einem abgelegenen Kaff seinen Lebensabend zu verbringen, hier zum Beispiel, in Plumsbroke, oder wie auch immer dieses Nest im Tal der Vergessenen auch heißen mochte. Aber momentan sah es sehr danach aus, als würde es hier noch nicht mal eine einzige Zapfsäule geben, geschweige denn ein Diner, welches zu dieser frühen Stunde geöffnet hatte. Außerdem meldete sich der kleine Connor, der mit aller Macht den Duft der großen, weiten Welt schnuppern wollte. Im Klartext hieß das: Connor musste mal pinkeln, und zwar ziemlich dolle. Wenn er also nicht bald ein Lokal fand, in dem ihn sein erster Weg aufs Klo führen würde, dann würde er wahrscheinlich arge Probleme bekommen. An einem Baum am Straßenrand wollte er sich nicht stellen – das hätte zwar bei den Schulkindern im Bus für Lacher gesorgt, wäre aber bei deren Eltern nicht sonderlich gut angekommen. Und bis zum Ortsausgang würde Connor es bestimmt nicht mehr schaffen. In Gedanken bei einem stillen Örtchen, bog er in die Park Avenue ein. Du lieber Himmel, so was Spießiges konnte es seiner Meinung nach eigentlich nur in diesen bescheuerten Seifenopern geben, die es tagtäglich im Fernsehen zu sehen gab. Connor betrachtete während der Fahrt mit einer beinahe abschätzigen Miene die Reihenhäuser. Meist waren es Einfamilienhäuser, die allesamt weiß angestrichen waren und einen Vorgarten besaßen, dessen Rasen in sattem Grün gehalten und kurz geschnitten war. Ein jedes Grundstück wurde durch Hecken und Sträucher, teilweise aber auch mit Zäunen voneinander getrennt. Vor manchen Garagen parkten Autos, hier und da lag ein Ball oder sonstiges Spielzeug herum, und fast überall hing über dem Garagentor ein Basketballkorb. Der ganze Straßenzug wurde beiderseitig von Laubbäumen umsäumt. Genau in dem Moment, als Connor das auffiel, taumelte hinter einer der Platanen eine völlig orientierungslose Gestalt hervor. Sie steuerte direkt auf die Straße zu und schien sich nicht darum zu kümmern, ob jemand mit seinem Motorrad angesaust käme, oder nicht. Connor trat auf die Klötzer, sobald er die elendige Kreatur erblickte. Das Hinterrad seiner Harley scherte aus. Mit erheblicher Mühe hielt er die Maschine unter seiner Gewalt. Aber Connor übersah, dass links und rechts am Straßenrand auch Autos parkten, denn er steuerte geradewegs auf einen schwarzen Ford Mondeo zu. Reflexartig riss er den Lenker herum, trat erneut auf die Bremsen und brachte seine heiß geliebte Maschine mit knapper Not zum Stillstand. Connor fiel eine Zentnerlast von der Seele, denn viel fehlte nicht mehr, und Easy Rider hätte das Auto geknutscht. „Hey, Mann, fluchte er, nachdem er mit schlotternden Beinen abgestiegen war und sich nach der klapperdürren Frau umsah. „Können Sie nicht aufpassen? Wissen Sie eigentlich, wie knapp das war? Verdammt! Die Frau befand sich immer noch dort, wo sie stehen geblieben war, als Connor ihr in letzter Sekunde ausweichen konnte. Sie stand zitternd auf dem Asphalt, hielt sich die linke, dünne Hand an die Stirn und starrte in seine Richtung, ohne überhaupt zu registrieren, dass jemand mit ihr sprach. Connor hatte sie inzwischen schon fast erreicht und vernahm leises Wimmern und Glucksen. „Kommen Sie schon, Lady! Schauen Sie mich an! Obwohl er sich ziemlich zusammenreißen musste, um nicht noch weiter zu fluchen, klang seine Stimme ganz schön wütend. Eigentlich wollte er nicht aufs Geradewohl losdonnern, aber für Miss Dornröschen musste sich seine Aufforderung ziemlich rüde angehört haben. Jedenfalls bewegte sie sich plötzlich im Kreis, so, als suche sie nach der Person, die sie angesprochen hatte. Ihren Kopf hielt sie dabei seltsam schief. Sie murmelte unablässig ein Wort. Es klang monoton und kam fortwährend über ihre aufgeplatzten, blutenden Lippen. „Neinneinnein! Sie nahm von der Welt um sich herum in keiner Weise Notiz, sondern stammelte immer nur dieses ausdruckslose „Neinneinnein! „Auch das noch, rief Connor mehr zu sich selbst und blieb ruckartig stehen, als er endlich erkannte, wie schlimm sein potenzielles Unfallopfer zugerichtet war. Obwohl es die gegenwärtige Situation eigentlich nicht zuließ, kam dem großen Mann ein äußerst unangebrachter Gedanke: Deine Nacht war eindeutig schlimmer gewesen, als meine! Er musste es laut ausgesprochen haben, denn zum ersten Mal in der kurzen Zeit seit ihrer Begegnung, verirrte sich ihr glasiger Blick nicht in eine Welt jenseits des gesunden Menschenverstandes, sondern blieb an ihm haften. Connor verwettete seinen gesamten Zigarettenvorrat darauf, dass sie unter Drogen stand und unter einem gehörigen Schock litt. Irgendetwas an diesem erbärmlichen Geschöpf jagte ihm einen eiskalten Schauer nach dem anderen über den Rücken. Es war jedoch nicht das miserable Erscheinungsbild, welches ihm seine neue Bekanntschaft bot, und ganz bestimmt auch nicht – so redete es sich Connor jedenfalls ein – die Tränen, die plötzlich in ihren Augen standen. Sie streckte ihren zerschundenen Arm aus und deutete mit bebender Hand auf ihn, wobei ihr unablässiges Gejammer plötzlich verstummte. Connor atmete erleichtert aus und glaubte schon, sie würde ihren Schock überwinden, doch das, was dem scheinbar endlosen „Neinneinnein! folgte, war schier wahnsinniges, kindliches Gelächter. Die blutenden Lippen verzogen sich zu einer grässlichen Fratze, als die verwirrte Frau zu kichern begann. Ihre Tränen rannen inzwischen in Sturzbächen über das angeschwollene, unförmige Gesicht und weichten die bereits eingetrocknete, rostbraune Kruste aus Blut und Schmutz wieder auf. Connor stand noch nicht einmal einen halben Meter vor ihr. Er konnte die tiefen Fleischwunden und die entzündeten Venen erkennen, sah Einstiche von Spritzen und erkannte in dem nicht zugeschwollenen, rechten Auge das verzweifelte Aufflammen einer menschlichen Seele. Es dauerte nur einen Bruchteil einer Sekunde, doch der zunehmend überforderte Mann sah ganz deutlich, dass in dem misshandelten Körper dieser Frau noch eine Winzigkeit von dem steckte, was früher womöglich einmal ein gesunder, stabiler Geist gewesen sein mochte. Zeit zum Nachdenken blieb ihm nicht mehr, denn noch während er den in sich zusammensackenden Körper auffing, beschloss er, diesen sterbenden Fetzen Hoffnung irgendwie zurückzuholen. Was ihn zu diesem Vorhaben antrieb, konnte er nicht sagen. Es war, als würde sich in diesen Minuten ein unsichtbarer Bann über den Amerikaner legen und sein Denken und Handeln leiten. Connor trug die bewusstlose, federleichte Gestalt von der Straße herunter, betrat das Grundstück durch das offenstehende Gartentor und legte die verletzte Frau in das weiche, hohe Gras. Dann zog er sein Smartphone aus der Tasche, wählte den Notruf und überlegte sich, während die Leitung aufgebaut wurde, wie viel Pfund das junge Ding wohl auf die Waage bringen mochte. Er war bei einer Schätzung von vielleicht hundert, höchstens hundertzehn Pfund angelangt, als es in der Leitung knackte und sich eine weibliche Stimme meldete: „Notrufeinsatzzentrale Blacksburg, was kann ich für Sie tun? Connor räusperte sich und würgte seine plötzlich aufkommende Übelkeit herunter. „Reilly mein Name! Ich klappte sein bin hier in – verdammt noch eins – Procksbroke ..., äh Pembroke, an der Park Avenue ... 117! Er entdeckte die Hausnummer an einem Stützpfeiler, der die überdachte Treppe abschloss. „Es gibt eine schwerverletzte, weibliche Person! Sie ist allem Anschein nach mit Drogen vollgepumpt und stark alkoholisiert! Sie lebt noch, aber sie ist bewusstlos! Ich weiß nicht, wie sie heißt und wie alt sie ist! Sie hat am gesamten Körper blaue Flecken, Schnittwunden und Abschürfungen! Connor sprach noch weiter, tastete am linken Handgelenk der Frau nach einem Puls und beantwortete die Fragen des Dispatchers immer einsilbiger werdend, entweder mit Ja, Nein, oder Ich weiß es nicht. Inzwischen war er es, der seine Umgebung nicht mehr wahrzunehmen schien, denn er betrachtete mit zunehmender Neugier das verunstaltete Gesicht der Verletzten. Die Bestätigung seines Anrufs, verbunden mit der Bitte, am Unfallort auf die Rettungskräfte zu warten, hörte er nur noch aus unendlich weiter Entfernung. Connor unterbrach die Verbindung, steckte das Mobiltelefon in die Hosentasche zurück und hockte sich vor dem Kopf der Frau nieder. Ihre blutverkrusteten, fettigen Haare bedeckten die Hälfte ihres Gesichtes, doch als er sie beiseite strich, durchfuhr ihn ein fürchterlicher Schock. Ein animalisch anmutender Schrei entrann seiner Kehle. Er stammelte ein entsetztes Nein und fiel rücklings auf den Hintern. Connor kroch hastig eins, zwei Meter rückwärts und schüttelte heftig mit dem Kopf, wie, um seine neu gewonnene Erkenntnis mit Kräften abzuschütteln. Die Gedanken des Bikers schlugen Purzelbäume. Er starrte aus seiner Entfernung wie paralysiert zu der besinnungslosen Kreatur hinüber und war plötzlich unfähig, auch nur einen Finger zu krümmen. „Nein, stammelte er noch einmal. „Das kann nicht sein! Mein Gott, das ist nicht möglich! Connor schluckte den sauren Geschmack in seinem Mund herunter, stieß sich mit einer Hand von der Wiese ab und watschelte in geduckter Haltung erneut zu ihr vor. Er streckte vorsichtig seinen linken Arm aus und berührte mit den Fingerspitzen sanft ihr rechtes, blutendes Knie. Sie löste sich nicht vor seinen Augen auf, so, wie er es sich in seinem Innersten gewünscht hatte. Er bettete den Oberkörper der ohnmächtigen Frau in seinen Armen und wiegte sie sanft hin und her, während er nicht fassen konnte, wen er eigentlich vor wenigen Minuten beinahe überfahren hätte. Erst die Sirene des Rettungswagens ließ Connor aus seiner Trance erwachen. Er legte die Verletzte behutsam ins Gras zurück und stürzte auf die Straße. Während er den sich nähernden Einsatzwagen, den nachfolgenden Notarzt und ein Polizeiauto heranwinkte, war er sich plötzlich nicht mehr sicher, ob er vor zwei Stunden nicht doch in dem Motel geblieben war und noch immer in dem sauberen, mit einfachen Möbeln ausgestatteten Zimmer weilte und in dem durchgelegenen Bett ruhte. Reilly wusste nicht, ob er wach war oder noch schlief, doch er hoffte aus tiefstem Herzen, dies alles würde nur der schlimmste Albtraum seines Lebens sein.

    Seinen Motorradausflug konnte er getrost vergessen, denn nachdem er diese Entdeckung gemacht hatte, fühlte er sich nicht mehr dazu in der Lage, seine Harley auch nur einen Meter weit über den Asphalt zu lenken. Jetzt befand sich Connor in einem Krankenhaus, dem Blacksburg Memorial Hospital, saß auf einem der Stühle vor dem Operationsbereich und wartete seit mehr als zweieinhalb Stunden auf einen Arzt, der ihm sagen konnte, wie es um das mehr tote, als lebendige Wesen stand, um dessen klägliches Dasein die Chirurgen in diesen Minuten kämpften. Noch während die junge Frau hierher gebracht wurde, klickten in der Park Avenue 117 in Pembroke die Handschellen. Man fand einen völlig zugedröhnten Mann mit dem Namen Hank Sullivan auf einer Couch im Wohnzimmer. Er lag genau dort, wo er sich niedergelassen hatte und sturzbetrunken eingeschlafen war. Leute aus der unmittelbaren Nachbarschaft wurden befragt und berichteten von Schreien und lautem Krach, doch niemand konnte oder wollte nähere Auskünfte geben. Auch Connor Reilly wurde vernommen. Er erzählte dem jungen, schlaksigen Officer alles, was er wusste, angefangen von seiner Tour mit dem Bike, bis hin zu den Einzelheiten des Auffindens der Person, die laut dem Türschild und dem bei einer Hausdurchsuchung gefundenen Führerschein als Piper Buchanon identifiziert wurde. Connor verschwieg, dass er es besser wusste, denn allein schon der Zustand der misshandelten Person beschäftigte ihn ununterbrochen. Er konnte nicht sagen, ob ihn seine Entdeckung ebenfalls so berührt hätte, wenn die junge Frau eine x-beliebige Person gewesen wäre. Er durfte nicht so denken, und das wusste er. Doch diese Frage drängte sich gerade jetzt, wo er allmählich zur Ruhe kam und nachdenken konnte, immer wieder auf. Dabei brachte es den Schauspieler schon immer zur Weißglut, wenn Frauen oder Kinder zu den wehrlosen Opfern eines Verbrechens zählten. Als der frisch von der Polizeischule entlassene Officer seine Konsultation beendet hatte, fragte Connor ihn das, was ihm die ganze Zeit über schon auf der Zunge gelegen hatte: „Was hat man ihr angetan? Wurde sie ... ist sie ... Sie wissen schon ...! Der Officer wurde sehr ernst, als er antwortete: „Sir, ich darf Ihnen darauf keine Antwort geben! Ich sage nur soviel: Wir bekommen leider viel zu oft solche Bilder zu sehen, doch so was haben selbst meine Kollegen noch nicht erlebt! Er rückte ganz nah an Connor heran und flüsterte: „Sir, im Vergleich zu ihr erging es den meisten anderen Opfern wie Alice im Wunderland!" Er wandte sich ab, widmete sich seinen weiteren Aufgaben und ließ den großen Mann allein zurück. Als Reilly sich der gesamten Bedeutung dieser Worte bewusst wurde, schwankte er davon und kotzte solange in ein Gebüsch, bis ihm die Galle hochkam. Der Krankenwagen raste mit Blaulicht und Martinshorn davon, als Connor käseweiß und völlig niedergeschlagen endlich seine Harley von der Straße holte und die Gaffer aus der Nachbarschaft sehen konnte, die ständig zwischen ihm und den Einsatzkräften der Polizei hin- und herschauten. Ihm ging spätestens jetzt auf, dass er doch nicht träumte. Er wusste nicht mehr, was er denken sollte, ob er überhaupt dazu in der Lage war, irgendetwas zu denken. Das, was er seit dem Befahren der Stadtgrenze an diesem Morgen erleben musste, ließ sich mit einfachen Worten nicht beschreiben. Nur zu gern wäre Connor diesem Hank Sullivan solange in den Arsch getreten, bis er oben wieder rauskam, denn inzwischen, so fand er heraus, deutete alles darauf hin, dass der Verhaftete für Piper Buchanons Zustand verantwortlich war. Stattdessen besann sich Reilly eines Besseren und bat seinen Befrager, ihn in das Blacksburg Memorial zu fahren. Nun saß er hier und grübelte darüber nach, warum dieser elende Bastard eine halb so schwere, schutzlose Frau fast tot prügeln musste und ihr Dinge angetan hatte, bei deren bloßen Gedanken Connor schmerzerfüllt zusammenzuckte. In ihm stieg ein altbekanntes Gefühl auf. Es war lange her, seit er es zum letzten Mal gespürt hatte. Beinahe sechs verdammte, beschissene Jahre, und plötzlich, so kam es ihm vor, wollte diese lange verschollene Empfindung mit aller Gewalt zurückkehren, ihn einnehmen und seine Sinne benebeln. Connor wollte es für keine Macht der Welt zulassen, aber er konnte nichts dagegen unternehmen. Dieser Umstand machte ihn hilflos, doch in diese Willenslähmung mischte sich noch etwas anderes. Es war Wut gewesen, starke, unbeherrschbare Wut, denn jene gewisse Piper Buchanon, die in diesen Minuten mit dem Tod rang und nur schwer gewinnen würde, war Schuld daran, dass Connors Leben innerhalb eines einzigen Moments gründlich aus den Fugen geraten war. Dieses Gefühl war nicht nur mal ein so vorhergesagtes Omen. Es war eine Feststellung. Gott, es war nicht fair vom Schicksal gewesen, ihn hierher zu führen! Verflucht noch mal, das war es nicht! Connor griff sich geistesabwesend an seine Brust. Diese unscheinbare Bewegung reichte aus, um ihn knallhart in die Gegenwart zu katapultieren. Vergangenheitsbewältigung und aufbegehrende Empörung hin oder her, hinter den verschlossenen Türen zu den Operationsräumen lag jemand, der sehr viel Beistand und Hilfe brauchte, egal, wie sehr sich Connor Reilly mit sich selbst im Aufruhr befand.

    Es dauerte eine weitere, unendlich lange Stunde, bis sich die Tür zum OP-Bereich öffnete. Eine große, schlanke Chirurgin trat heraus und strich sich die Stoffmütze vom Kopf. Sie entfernte den Mundschutz vom Gesicht und atmete tief ein. Eingetrocknete, große Blutflecken auf nahezu der gesamten Vorderseite des blauen Kittels verrieten Connor, dass es sich bei der Ärztin um ein Mitglied jenes Teams handelte, dessen Mediziner die eingelieferte Miss Buchanon nach allen Regeln der Heilkunst zusammengeflickt hatten. Der ernste Gesichtsausdruck ließ Reillys Hoffnungen auf gute Nachrichten rapide sinken. Er stand auf und begrüßte die Ärztin mit belegter Stimme: „Ich bin Connor Reilly! Wie geht es Miss Buchanon? „Guten Tag! Mein Name ist Dr. Miranda Finn! Sind Sie mit der Patientin verwandt? „Nein, das bin ich nicht! Aber ich habe sie gefunden, und ich glaube, ich bin im Moment so ziemlich der Einzige, den sie jetzt noch hat! Ich weiß, es klingt verrückt, aber ...! Die Chirurgin musterte Connor tiefgründig aus ihren grauen Augen. „Sie haben Recht, räumte sie trocken ein. „Es klingt verrückt! „Sie brauchen sich keine Mühe zu geben, platzte es aus Connor hervor. „Ich bin mit Ihren Vorschriften sehr gut vertraut! Ein Freund von mir leitet eine Klinik in Österreich! Außerdem kenne ich Miss Buchanon seit über zehn Jahren besser, als jeder andere Mensch auf diesem Planeten, Dr. Finn! Ich werde hier stehen bleiben und verlange von Ihnen, dass Sie mich über ihren Zustand aufklären! Sie würden mir glauben, wenn ich Ihnen einen anderen Namen nenne und Sie Nachforschungen anstellen würden! Dr. Finn stand nach einem harten Tag absolut nicht der Sinn nach einer Diskussion. Sie nahm Reillys Aussage verärgert zur Kenntnis, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass sich tatsächlich kein weiterer Verwandter, sondern nur dieser aufgebrachte Bekannte im Wartebereich befand. „Nun, ich glaube nicht an Wunder oder Schutzengel, Mr. Reilly, begann sie. „Aber ich bin der Meinung, dass Miss Buchanon eine ganze Heerschar von unglaublich aktiven Beschützern zur Seite gestanden haben muss. Sie kam mit zahlreichen Prellungen, Quetschungen und einer Gehirnerschütterung davon. Das rechte Handgelenk ist angebrochen, auch ergaben Röntgenaufnahmen zwei gebrochene Rippen und ebenso viele verschobene Halswirbel. Wir mussten ihren Magen auspumpen und einige tiefe Schnittwunden an beiden Unterarmen nähen. Es gibt jedoch keine Hinweise auf Verletzungen der inneren Organe, und der Kreislauf konnte weitestgehend stabilisiert werden. Ich würde sagen, dass sie sehr großes Glück hatte!" In Connor flammte heftiger Groll auf. „Glück nennen Sie das?, rief er erzürnt. „Es reicht wohl noch nicht, dass sie aussieht, wie durch einen Fleischwolf gedreht! Haben Sie überhaupt eine Ahnung, was sie durchgemacht haben muss? „Mr. Reilly! Ich muss doch sehr bitten, entgegnete Dr. Finn nicht weniger streng. „Sie sollten bedenken, dass die Menge der Tabletten und der Alkohol in Verbindung mit dem injizierten Heroin – was übrigens ganz beachtlich hoch dosiert war – ausgereicht hätte, um einen ausgewachsenen Elefanten schachmatt zu setzen! Sie können wirklich froh sein, dass ihre Bekannte überhaupt mit dem Leben davongekommen ist! Das ärztliche Gutachten liest sich wie ein erstklassiges, medizinisches Lehrbuch! Ich hoffe inständig, dass derjenige, der für Miss Buchanons Wunden verantwortlich ist, nach seiner Verurteilung nie wieder freikommt! Sollte dies dennoch der Fall sein, sollten mein Team und ich davon nichts erfahren! Wir Ärzte stehen mit den besten Anwälten unseres Landes in Verbindung! Die Augen der Chirurgin funkelten ihn böse an. Plötzlich kam die Wucht der gesamten Tragweite der Geschehnisse in den letzten vier, fünf Stunden zurück. Die Einsicht, dass entsetzliche Dinge mit der jungen Frau geschehen waren, traf Connor so unerwartet und vor allem dermaßen mit Nachdruck, dass er sich auf seinen Stuhl zurücksetzen musste. Er stützte seine starken Arme auf den Oberschenkeln ab, sah auf seine ineinander geschlungenen Hände und schüttelte mit dem Kopf. „Wann ... wann wird man sie entlassen können?, fragte Connor und lenkte seinen Blick auf das schmale, von Erschöpfung gezeichnete Gesicht von Dr. Finn. Ihm fiel auf, dass sie unter Augenringen litt. Irgendwie schien dies ein Markenzeichen von Ärzten zu sein. Sie dämpfte die Lautstärke ihrer Stimme, als sie an Connor herantrat und in die Hocke ging, um sich mit ihm in einer Augenhöhe zu befinden. „ Das kann ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen, Sir. Doch es gibt noch etwas, was Sie wissen sollten, entgegnete sie und fügte hinzu, ohne den Besucher zu Wort kommen zu lassen: „Wir können uns nicht sicher sein, solange sich Miss Buchanon noch im Koma befindet, doch es besteht die Gefahr einer zeitlich begrenzten Amnesie! Connors Kinnlade klappte herunter. Er sah die Chirurgin abschätzig und wütend zugleich an. „Und Sie erzählen mir allen Ernstes etwas von Glück?, entfuhr es ihm aufgebracht. „Sie erzählen mir in aller Seelenruhe, dass sie als ein völlig anderer Mensch aufwachen könnte, und fühlen sich womöglich auch noch wohl dabei? Hören Sie, sollte es Ihnen nicht gelingen, Miss Buchanon völlig und ausnahmslos heilen zu können, dann Gnade Ihnen Gott! Ich muss Sie nicht über Ihre Pflichten als Medizinerin aufklären,

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