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MEIN SOHN LÄSST SICH NICHT DUMM KOMMEN!: Berichte aus Berliner Schulen
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MEIN SOHN LÄSST SICH NICHT DUMM KOMMEN!: Berichte aus Berliner Schulen
eBook413 Seiten6 Stunden

MEIN SOHN LÄSST SICH NICHT DUMM KOMMEN!: Berichte aus Berliner Schulen

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Über dieses E-Book

In diesem Buch geht es darum, Unterricht und Erziehung aus Sicht eines Lehrers zu beschreiben. Viele Eltern geben ihre Kinder in der Schule ab und überlassen den Rest der Schule, sind nicht mehr bereit, ihre Kinder zu erziehen, unterstützen somit die Schule und die Lehrer in ihrem Bemühen nicht.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum21. Juni 2015
ISBN9783738004687
MEIN SOHN LÄSST SICH NICHT DUMM KOMMEN!: Berichte aus Berliner Schulen

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    Buchvorschau

    MEIN SOHN LÄSST SICH NICHT DUMM KOMMEN! - Felix Gentil

    Zitat

    WIR BRAUCHEN UNSERE KINDER

    NICHT ZU ERZIEHEN,

    DIE MACHEN UNS SOWIESO ALLES NACH

    (Vermutlich Karl Valentin)

    Vorwort

    Der tschechische Langstreckenläufer Emil Zatopek vertrat eine sehr merkwürdige Logik. Als man ihn nach dem Geheimnis seines Erfolgs fragte, gab er zur Antwort: >>Wenn du wirst miede, musst du laufen schneeeller ...<< Eine ähnliche Logik verfolgen Bildungspolitiker: Wenn die Lehrerinnen und Lehrer die Schüler individuell fördern sollen, sich individuell um jeden einzelnen Schüler kümmern sollen, dann muss man ihnen mehr Stunden des Unterrichtens somit mehr Schülerinnen und Schüler geben.

    `Willst du ferdern individuell, brauchst du mehr Schiieler ...`

    Als man nach dem Pisa-Test feststellte, dass in Finnland die individuelle Förderung zum Erfolg geführt hat, machte ein Schlagwort unter Bildungspolitikern die Runde, nämlich das der individuellen Förderung. Dieses bedeutet in Finnland, dass schwache Schüler aus dem Klassenverband herausgenommen werden und von Pädagogen individuell wieder an den Stoff herangeführt werden. In Deutschland soll das jeder Lehrer im Klassenzimmer alleine machen. Hat man in einem Klassenraum 30 Schülerinnen und Schüler, in den meisten Fällen sind es mehr, hat man in 45 Minuten exakt 90 Sekunden für jeden einzelnen Schüler, abzurechnen sind die Minuten der Begrüßung, der Hausaufgabenkontrolle, der Reinigung des Klassenzimmers, der Eintragungen ins Klassenbuch, der disziplinarischen Maßnahmen, etc., etc., somit verbleiben nicht mehr als eine Minute für jeden Schüler.

    Will man finnische Verhältnisse kopieren, nichts dagegen, ich begrüße das, sollte man dieses auch mit allen Konsequenzen tun.

    In Finnland stehen ein Lehrer und ein Assistent vor einer Klasse mit maximal 20 sehr disziplinierten Schülern in modernen Schulen, in ruhiger Atmosphäre. Schüler und Lehrer essen zusammen in ruhigen, sauberen Mensen. In Berlin kann nur alleine die Pausenaufsicht in der Mensa zu einer Art Albtraum werden, denn jeder Lehrer, jede Lehrerin kennt das Geschrei in der völlig überfüllten Mensa, wenn es denn überhaupt eine gibt, die Drängelei, die Pöbelei einzelner Schüler, das Herumwerfen mit Gegenständen, oft stehen Schüler fünfzehn Minuten an, bis sie ihr Essen haben, um es dann in wenigen Minuten zu verschlingen.

    Um die finnischen Verhältnisse in Deutschland herzustellen, hat man den Lehrern, jedenfalls denen in Berlin, erst einmal mehr Stunden aufgebürdet, statt dreiundzwanzig eben jetzt sechsundzwanzig. Der damalige Schulsenator dazu: >>Ich weiß, es ist pädagogisch falsch, aber es geht nicht anders.<< Aha, wieder Sachzwänge waren Schuld an der Misere, die angeführt wurden.

    Es ärgert mich persönlich, wenn man im deutschen Fernsehen den Unterschied zwischen den finnischen und den deutschen Verhältnissen mit der Behauptung erklären will, die Lehrer seien eben besser, die Einstellung der finnischen Studenten zu ihrem späteren Beruf sei besser. Zum Beweis dafür, dass die finnischen Lehrer besser seien als die Deutschen, befragte ein Reporterteam drei finnische Junglehrer, die gerade ihre Examina abgelegt hatten. Alle gaben an, ihren Beruf nicht als Job, sondern als Berufung zu sehen – toll! Jeder deutsche Junglehrer würde eine ähnliche Antwort geben, aber die fragt man nicht. Leider ist es so, dass die meisten Junglehrer in Deutschland erst einmal mehrere Jahre warten müssen, bis sie nach ihren Examina eine Stelle als Lehrer bekommen, dadurch kommen nur etwa 50% der Lehrer letztendlich in der Schule an, die anderen haben sich anderweitig etabliert. Viele kommen auch deshalb nicht in der Schule an, weil sie einen Schock während des Referendariats bekommen, wegen undisziplinierter Schüler, wegen schlechter Schulleitungen, wegen Pöbeleien vieler Eltern, die für Lehrer ohnehin nur Verachtung übrig haben.

    Es geht in dem vorliegenden Buch nicht darum, Schülerinnen und Schüler zu kritisieren, sondern darum, ein Phänomen aufzuzeigen, das sich über Jahrzehnte entwickelt und eingeschlichen hat, nämlich das des Desinteresses vieler Eltern, ihre Kinder zu erziehen, die Erziehung ihrer Kinder der Schule zu überlassen, die sie als Dienstleistungsbetrieb ansehen. Lehrer werden von vielen Eltern nicht als Partner in Sachen Erziehung ihrer Kinder unterstützt, sondern als Gegner, gegen die man sich durchsetzen muss. Eltern fragen sich nicht mehr: Was habe ich falsch gemacht, sondern pöbeln lieber die Lehrer an, in vielen Fällen klagen Eltern lieber vor dem Gericht gegen Lehrer, statt sich um die Erziehung ihrer Kinder zu kümmern. 

    Wir haben in Deutschland einen Erziehungsnotstand!

    Zwischen Schülern und Lehrern gibt es Machtspiele. Wenn Schüler merken, dass der Lehrer angeschlagen ist, werden sie aggressiv, meistens mit Unterstützung der Eltern. 

    Lehrer befinden sich in einem Spannungsfeld, in dem sie sich nur schwer oder gar nicht zurechtfinden können. Die Eltern verlangen mit Recht den versierten Lehrer, der auf ihre Kinder mit pädagogischem Geschick und Einfühlung eingeht, bei dem ihre Kinder möglichst viel lernen, der jederzeit für sie ansprechbar ist. Die meisten Schüler wollen den „coolen Typ", mit dem sie Spaß haben. Die Schulleitungen und Schulräte wollen den korrekt arbeitenden pünktlichen Lehrer, der immer in jeder Sekunde und Situation blitzschnell die richtige Aussage trifft, egal, ob Sechstklässler oder Abiturient, den richtigen Tonfall findet, auf jede Kinderpsyche genau eingeht, diese eben auch ganz genau kennt, obwohl er es auch nicht gelernt hat, der nichts vergisst, nichts persönlich nimmt, auch wenn er beleidigt oder sogar angespuckt wird, er soll eine starke Lehrerpersönlichkeit sein mit einer stabilen Psyche, er soll gerecht sein, wobei die Schüler und deren Eltern darüber entscheiden sollen, ob sie gerecht behandelt worden sind oder nicht, und er soll jederzeit in jeder Klasse einsetzbar sein und, was ganz wichtig ist, er soll begeistert sein und begeistern! Das passt sehr oft nicht zusammen. Dass er das Schulrecht immer im Kopf haben soll und muss, versteht sich von selbst, obwohl sich dieses ständig ändert, ohne dass Lehrer darüber hinreichend informiert werden.

    - In Deutschland wird jeder zweite Lehrer frühpensioniert.

    - In Deutschland ist jeder fünfte Lehrer langzeiterkrankt.

    - In Deutschland hat jeder fünfte Lehrer eine Schülerphobie.

    - In Deutschland glauben mindestens fünfzig Prozent der Bürger, Lehrer hätten einen

      gutbezahlten Halbtagsjob.

    - Mindestens genauso viele glauben, Lehrer seien faule Säcke, seien desinteressiert und

      hätten zu lange Ferien.

    - In Deutschland rangiert das gesellschaftliche Ansehen des Lehrers unterhalb des

      Ansehens eines Gebrauchtwagenhändlers.

    Warum das so ist, warum wir keine finnischen Verhältnisse haben und das Entscheidende: Warum die allermeisten Lehrer eine Elternphobie haben, davon handelt dieses Buch. Da ich nur Lehrer bin und nicht auch Soziologe, Psychologe Jurist oder gar Sozialarbeiter, kann ich mich in dem vorliegenden Text nur auf Beschreibungen dessen, was ich in den Klassenzimmern während des Unterrichts beobachtet und erlebt habe, auch bei Elternabenden und persönlichen Gesprächen, insbesondere mit Eltern, beziehen. 

    Mein Anliegen ist es, den Eltern klarzumachen, dass sie aufgefordert sind, ihr eigenes Verhalten zu ändern, wenn sie andere Lehrer wollen, wenn sie vermeiden wollen, dass Lehrer immer frustrierter und lustloser werden.

    Es sind in jedem Falle die Eltern, Schulleitungen und Schulbehörden, die kritisiert werden sollen, die Eltern vieler Schüler haben versagt und nach meinen Beobachtungen wird die Situation von Jahr zu Jahr schlimmer.

    Ich habe unter Pseudonym geschrieben, weil ich dem Gymnasium, an dem ich gegenwärtig unterrichte, keinen Nachteil oder Schaden zufügen wollte, nicht etwa, weil ich zu dem, was ich geschrieben habe, nicht stehe.

    Auf Namen habe ich weitgehend verzichtet, die wenigen Namen, die erwähnt wurden, sind verändert. Die Chronologie ließ sich nicht immer einhalten.

    Neuer Start an einem Oberstufenzentrum

    Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne ... (H. Hesse)

    Ende Oktober ging es in der Schule los. ich meldete mich bei dem Abteilungsleiter der Abteilung III der Fachoberschule zum Dienstantritt. Die Schulleiterin fragte mich schon am ersten Tag, ob ich zusätzlich auch in einer anderen Abteilung Berufsschüler unterrichten wolle, was ich begrüßte, denn ich wollte ohnehin lieber eine volle Stelle haben. Somit wurde ich für 26 Unterrichtsstunden eingeplant, obwohl ich laut Vertrag nur eine Zweidrittelstelle, was zu dem Zeitpunkt 16 Stunden bedeutete, denn mit 23 Stunden hatte man eine volle Stelle, für ein Jahr hatte. Ich wurde unter anderem in einer Wiederholer-Klasse, der WW, was für Wiederholer Wirtschaft stand, die durch die Fachhochschulreifeprüfung gefallen waren und in einem Jahr erneut antreten sollten und in einigen Berufsschulklassen einer anderen Abteilung eingesetzt. Die Wiederholer sollte ich im Fach Mathematik, insbesondere in der Differenzial- und Integralrechnung sowie den Anwendungen dieser Gebiete, also in den ökonomischen Funktionen unterrichten. Diese Schüler hatten ein Jahr Unterricht gehabt, absolvierten dann ein halbjähriges Praktikum, hatten ein letztes Halbjahr Unterricht zu absolvieren, um dann die Fachhochschulreifeprüfung abzulegen, durch die sie eben gefallen waren. Außerdem sollte ich in der anderen Abteilung Berufsschüler, die eine Ausbildung zum Bürokaufmann bzw. zur Bürokauffrau angefangen hatten, im Fach Sozialkunde unterrichten sowie BVL-Schüler, BVL steht für berufsvorbereitender Lehrgang, die Ärmsten der Armen, wie die Schulleiterin sagte. Insgesamt hatte ich über dreihundert Schüler und Schülerinnen zu unterrichten. In manchen Klassen unterrichtete ich alle zwei Wochen einen Block, also neunzig Minuten, deshalb kannte ich deren Namen selbst nach einem halben Jahr noch nicht. 

    Ich ging mit viel Elan an die neue Aufgabe und wollte endlich wieder etwas Gutes und Sinnvolles leisten, denn vorher hatte ich eine Zeit von fünfeinhalb Jahren der Arbeitslosigkeit mit ABM, Umschulung etc. absolviert. Davor hatte ich eine erkleckliche Karriere in der Verwaltung im höheren Dienst in Berlin als EU-Referent und kurz nach dem Fall der Mauer ebenfalls als EU-Referent in der Hansestadt Rostock in meiner Vita. In Rostock hatte 2 Wochen vor meinem Dienstantritt ein Asylantenheim gebrannt, ich war dem Oberbürgermeister direkt unterstellt, dieser musste wegen des Brands zurücktreten, ich ging zurück nach Berlin.

    Wir schrieben das Jahr zwanzig nach meinem Zweiten Staatsexamen für das höhere Lehramt an Gymnasien, niemand wurde damals in den Schuldienst eingestellt, auf Jahre nicht, denn das Berliner Stadtsäckel war zum wiederholten Male implodiert. Wie sagte mein damaliger Seminarleiter für Mathematik: Es ist immer wieder dasselbe, in zehn Jahren nehmen sie wieder jeden, der eine Zahl schreiben kann! Ich konnte mehr als das. 

    Der kommissarische Oberstufenkoordinator und auch kommissarische Fachbereichsleiter für Mathematik der Abteilung III bat mich in sein Büro mit den Worten: >>Na, Felix, komm mal rein, ich zeig dir mal was.<< Für mich klang das so, als ob er mir seine Briefmarkensammlung zeigen wollte, aber er zeigte mir stolz seine Listen der Fünfen und Sechsen, die er bei seinen Schülern in den Klausuren erzielt hatte, sein Notenschnitt im Fach Mathematik lag bei etwa fünf Komma drei, dabei fuhr er mit dem Handrücken über die Liste der Namen und Noten, gerade wie ein italienischer Stoffhändler über die edelsten Stoffmuster fährt, um die höchste Qualität dieser Stoffe zu dokumentieren, als wollte er fragen, guck mal, hab ich das nicht gut hingekriegt? Er schlug eine Seite nach der anderen auf, jedes Mal von einem Laut begleitet: ´haa, hee, mmhh ... ` Er wurde immer schneller, denn er hatte wohl Angst, er könnte es nicht mehr schaffen, mir alle seine mühsam errungenen Fünfen und Sechsen bis zum nächsten Klingeln zu zeigen. Nun sollte ich also wissen, wie an dieser Schule zu benoten sei.

    Da die Schülerinnen und Schüler der Berufsschulklassen schon etwas älter waren, dachte ich, ich sollte ihnen die Möglichkeit geben, sich selbst für ein Thema, das im Unterricht besprochen werden sollte, zu entscheiden. Fast ahnt man es, entschied sich die Klasse für das spannendste aller Themen, nämlich dafür, ob die Todesstrafe wieder eingeführt werden sollte oder nicht. Nun, warum nicht auch dieses Thema? Ich fürchtete allerdings, die Diskussionen könnten in die Richtung „Rübe runter, die Argumente in die Kategorie wie man sie, so man möchte, in der Blödzeitung (oder so ähnlich) lesen kann, „totschlagen und zwar sofort, etc. abgleiten, aber vielleicht habe ich ja die Chance, durch geschickte Steuerung des Unterrichtsverlaufs, derartiges abzuwenden. Das war mein erster großer Irrtum. Die Schüler erteilten mir eine erste Lektion Demut in Sachen Gruppendynamik. Es wurde laut, die Stimmen überschlugen sich, die ersten nahmen es mit den Formulierungen nicht mehr allzu genau, der Lehrer wurde unsichtbar und stumm, weil chancenlos durchzudringen. Einige Schülerinnen fingen an zu schreien und mir wurde die sicherlich unvermeidliche Frage gestellt: >>Was würden sie denn machen, wenn ihre Tochter oder ihre Frau vergewaltigt worden ist, würden sie dann auch so reden? Die machen doch heute auf irre, machen zwei Jahre eine Therapie auf Staatskosten und werden dann wieder freigelassen und machen dasselbe noch einmal!<< Etc. etc. . Zu fortgeschrittener Stunde schrie mich eine Schülerin an: >>Manche morden aus Geiiiilheit, Herr Gentil !! << Bei der ersten Silbe des obszönen Wortes überschlug sich ihre Stimme. Ein Schüler wollte mir wohl helfen, denn er hatte gemerkt, dass ich strikt gegen die Todesstrafe bin und meinte: >> Ich bin ja auch absolut und rigoros gegen die Todesstrafe ...<< Ich atmete auf und dachte, endlich ein Vernünftiger in der Klasse, den ich vielleicht mit meinen Argumenten auf meine Seite gebracht habe, obwohl ich es gerade ihm nicht zugetraut hatte. >>Jedoch ...<<, so fuhr er fort, >>bin auch ich im Falle eines Mordes oder der Vergewaltigung dafür, denn schließlich kostet ein Langzeithäftling sehr viel Geld, das kann man mir als Steuerzahler doch nicht zumuten.<< >>Also sind sie doch für die Todesstrafe?<< >>Nein, deshalb bin ich doch nicht für die Todesstrafe, ich sag ja nur, man muss es eben wirklich beweisen können.<< Sprachs und schüttelte den Kopf in Richtung seiner Nachbarin, fing an mit ihr zu tuscheln und grinste in meine Richtung als wollte er sich über meine fehlende Logik amüsieren.

    Bald bildeten sich zwei Gruppen innerhalb der Klasse heraus, jedoch hatte ich den Eindruck, beide waren für die Todesstrafe, aber genau konnte ich das nicht mehr heraushören. Eine Schülerin schien persönliche Erfahrungen zu haben, denn sie wurde extrem emotional, vulgär und laut. >>... wenn du keinen guten Rechtsanwalt hast, kannst du einpacken, du blöde ...<< (was genau sie an dieser Stelle sagte, habe ich allerdings vergessen, wohl irgendetwas mit einem V vorne), erwiderte sie lautstark auf die Aussage einer Mitschülerin. 

    Mein zarter Versuch, die beiden Gruppen friedlich zu trennen, scheiterte kläglich, ich war auch nicht mehr zu hören, folglich wurde ich ignoriert. Da es immer vulgärer und lauter wurde, schlich ich mich zur Tür und warf einen Blick auf den Gang. Meine Befürchtung, vor der Tür könnte es bereits einen größeren Auflauf, zum Beispiel zusammengesetzt aus dem Schulrat, den man eilig als Zeugen herbeigerufen haben könnte, der Schulleiterin, dem Abteilungsleiter und anderen Honoratioren, die unserer kleinen Diskussion mehr oder minder entsetzt begeistert lauschten, gebildet haben, bestätigte sich zum Glück nicht, der Gang war wie leergefegt und totenstill. 

    Weiter ging es: >>Die kommen nach zwei Jahren aus dem Gefängnis raus und vergehen sich an kleinen Kindern!<<. >>Das ist doch aber kein Argument für die Todesstrafe, wenn sie der Meinung sind, dass diese Täter zu früh entlassen werden, dann fordern sie doch die Abschaffung vorzeitiger Entlassungen<<, versuchte ich mich erneut ins Spiel zu bringen – es half nichts, ich hatte gleich dem Zauberlehrling den Besen zum Tanzen gebracht und schaffte es nun nicht mehr, ihn wieder in die Ecke, also zur Ruhe zu bringen.

    Wie bei einem angeschlagenen Boxer, so rettete auch mich der Gong, an dieser Schule gab es keine Klingel, sondern einen Gong zum Stundenende. Meine Kenntnisse der Unterrichtsführung und -steuerung, wie ich es im Referendariat gelernt oder wahrscheinlich eben doch nicht gelernt hatte, waren offen-sichtlich nicht mehr vorhanden, meine Unterrichtserfahrungen lagen ja auch schon 20 Jahre zurück. Es war nicht möglich, diesen jungen Menschen klarzumachen, dass zum Beispiel Geld niemals dafür entscheidend sein darf, ob ein Mensch leben darf oder nicht, somit das Argument, die kosten doch bloß Geld, warum soll man einen Mörder jahrelang durchfüttern, keine Relevanz haben darf. Mein Eindruck war, ich hatte völlig bornierte Menschen vor mir sitzen, die auch logischen Argumenten nicht zugänglich waren. War ich so alt geworden, hatte ich mich in den letzten zwanzig Jahren so weit von den jungen Menschen entfernt? Für die Schülerinnen und Schüler schien klar zu sein, jeder, der eine andere Ansicht zum Thema Todesstrafe hatte als sie, würde lediglich die Täter verteidigen und die Opfer verhöhnen. Wie sollte das aussehen, wenn wir über Themen wie Sozialhilfe, Hartz IV oder dergleichen reden, gerade in einer Berufsschulklasse, in der überwiegend Mädchen sitzen, die später vielleicht alleinerziehend sein werden, also zu der Bevölkerungsgruppe zählen werden, die von diesen Sozialtransferleistungen am häufigsten betroffen sind, was wird wohl sein, wenn sie erfahren, dass ich zwei Wochen vorher auch noch arbeitslos war? 

    Wenig später war es natürlich auch so, viele Schülerinnen und Schüler ließen ihre sehr einfachen Ansichten los. Sozialhilfe wird sowieso nur versoffen, etc. . >>Sehen sie sich doch die Penner an, die versaufen doch ihr ganzes Geld, das soll ich von meinen Steuergeldern bezahlen ...?<<

    Wenn man derartiges lange genug mitangehört hat, kann man es irgendwann nicht mehr hören. Vom Stammtisch kann man sich entfernen, wenn es die eigenen psychischen Kräfte übersteigt, den Klassenraum kann man nicht einfach verlassen, um sich dem zu entziehen. Überzeugen konnte ich diese Schüler jedenfalls nicht.

    Da ich natürlich Noten für die Schüler brauchte, ließ ich in einer der nächsten Stunden über dieses spannende Thema `Wiedereinführung der Todesstrafe` einen Test schreiben. Ich verteilte einen Text mit der Überschrift: `Den falschen gehenkt`, die Schüler sollten Stellung nehmen. >>Dürfen wir auch für die Todesstrafe schreiben?<< Fragte mich ein Schüler. >>Natürlich dürfen sie das, ich werde nicht ihre Meinungen bewerten, sondern ihre Argumente, mit denen sie ihre Meinungen untermauern.<< Die Schüler schrieben den Test und zuhause machte ich mich sogleich dran, diese Arbeiten zu korrigieren, ich war gespannt ...

    Mich packte das kalte Entsetzen, denn was ich las war noch furchtbarer als das, was ich im Unterricht zu hören bekam. Die meisten Schüler waren aus Brandenburg, und in der ehemaligen DDR gab es die Todesstrafe noch, wenngleich sie nicht mehr angewendet wurde. Wie zu erwarten, fiel dieser Test katastrophal aus. 

    Zwei Tage später hatte ich einen Zettel in meinem Fach mit der Bitte um Rücksprache, unterschrieben von der Schulleiterin. Ich ging zu ihr und fragte, worum es ginge, sie gab mir wortlos einen Brief von einer empörten Mutter aus Brandenburg, die sich nicht erst an mich, sondern sofort an die Schulleiterin gewandt hatte. In diesem Brief hieß es:

    Sehr geehrte Frau ...,

    Ich möchte hiermit mein Unverständnis ausdrücken und bezweifle, dass für dieses sensible und sehr umstrittene Thema eine objektive Benotung vorgenommen werden konnte und bitte diesbezüglich um Stellungnahme oder Streichung der Note, zumal die Lehrkraft im Vorfeld bereits seine individuelle Meinung der Klasse kund tat und diesbezüglich schon in der Klasse Diskussionen auftraten, dass bei „seiner Meinung" die Benotung bei einer konträren Ansicht in keinem Fall positiv ausfallen würde. 

    Dies hat sich nun bestätigt. Im Übrigen habe ich den relevanten Kommentar des Lehrers angestrichen, den ich zum einen unverschämt und unqualifiziert finde zum anderen äußerst unsensibel. Was ist, wenn in einer Familie Ihrer Schüler bereits ein solches Gewaltverbrechen geschehen ist und dieses die Einstellung über die Todesstrafe geprägt hat? Der Lehrer scheint entweder noch sehr lebensunerfahren oder sehr blauäugig zu sein.

    Ich finde Diskussionsrunden über derartige Themen richtig und wichtig, aber bitte ohne Benotung, da die Ansichten hierüber immer nur subjektiver Art sein können.

    Im Übrigen ist meine Tochter mit Sicherheit etwas am Thema vorbeigeglitten, dies will ich gern zugestehen, aber ich bin ebenfalls der Meinung, dass unter besonderen Umständen und in Einheit mit der völligen Nachweisbarkeit des Verbrechens, die Todesstrafe wieder eingeführt wird.

    Mit freundlichen Grüßen ...

    Flugs wurde der Fachbereichsleiter hinzugezogen, der sich fast außer Atem sogleich dranmachte, die Arbeit der Schülerin und den Brief der Mutter durchzulesen und kam sofort zu dem Schluss: Die Mutter hat Recht, das ist eine Unverschämtheit, dieser Satz, den sie dran geschrieben haben.

    Dieser so heftig kritisierte Satz, den ich an die Arbeit der Schülerin geschrieben hatte, lautete: `Hoffentlich geschieht ihnen nicht einmal ein solches Unrecht`. Vielleicht war dieser Satz ja überflüssig, aber ich hatte mich darüber geärgert, dass die Schülerin den Fall, wie er in dem Text geschildert worden war, nämlich dass ein falscher gehenkt worden war, mit den Worten abgehandelt hatte: Dies sei eben ein peinlich makabrer Irrtum und man hätte eben nicht genug geprüft. Dieser Satz bezog sich also nicht auf ein Verbrechen, das der Schülerin hoffentlich niemals zustoßen sollte, sondern auf ein richterliches Fehlurteil. Ich wurde von der Schulleiterin aufgefordert, schriftlich Stellung zu beziehen und der Mutter zu antworten.

    Sofort setzte ich mich zu hause hin und schrieb der Mutter eine Antwort auf ihren Beschwerdebrief:

    Sehr geehrte Frau ...,

    Ihre Behauptung, ich hätte der Klasse bereits im Vorfeld meine individuelle Meinung kundgetan, und deshalb sei eine objektive Beurteilung durch mich nicht gewährleistet gewesen, ist mit folgender Begründung falsch:

    Ich habe den Schülern und Schülerinnen bestimmt fünfmal unmissverständlich dargelegt, dass mich die Meinung, die in der jeweiligen Arbeit zum Ausdruck kommt, bei der Ermittlung der Zensur nicht beeinflussen wird. Es geht nur und ausschließlich um die Argumente und die Untermauerung derselben, egal ob für oder gegen die Todesstrafe. Außerdem habe ich nachweislich gute und sogar sehr gute Noten für Arbeiten von Schülern oder Schülerinnen vergeben, die sich für die Todesstrafe ausgesprochen haben und umgekehrt – schlechte Noten trotz Ablehnung der Todesstrafe. Sie können es mir zutrauen, dass ich während des Referendariats gelernt habe, dass nicht die Meinung zählt, sondern die Argumentation dafür.

      Ein Herstellen des Bezugs zu dem von mir vorgelegten Text kann ich nicht erkennen. Da Ihre Tochter nicht ein einziges Argument gegen die Todesstrafe genannt hat, kann von einer Gegenüberstellung der Argumente (Diskussion) nicht die Rede sein. Es bleibt nur der Punkt: Eigene Stellungnahme und Argumentation dafür. Die Argumente, die Ihre Tochter angeführt hat, sind in der Diskussion während des Unterrichts sehr deutlich entkräftet worden.

    Um Ihrer Tochter auch nur ein „ausreichend minus" geben zu können, hätte sie von den 60 möglichen Punkten laut Tabelle 30 Punkte erzielen müssen, dieses erscheint mir ungerechtfertigt. 

    Dass Ihre Tochter am Thema vorbeigeglitten ist, wie Sie es selbst formulieren, entspricht den Tatsachen, jedoch nicht, wie Sie meinen, weil sie sich für die Todesstrafe ausgesprochen hat, sondern wegen der oben angeführten Defizite, die ich in der Arbeit Ihrer Tochter feststellen musste.

    Dieses Thema ist nicht so umstritten, wie Sie vermuten oder sogar behaupten, denn bereits 1949 haben die Väter unseres Grundgesetzes mit Schaffung des Artikels 103 GG die Todesstrafe für abgeschafft erklärt, außerdem gibt es kein einziges europäisches Land der EU, in dem die Todesstrafe noch existiert. In allen Kulturen des christlichen Abendlandes ist man zu der Erkenntnis gekommen: Du sollst nicht töten! Warum sollte dieser Grundsatz für einen Scharfrichter oder einen Richter nicht gelten, nur weil er Jura studiert hat? 

    Es gibt keine volle (100%) Nachweisbarkeit für eine Tat, selbst wenn es diese gäbe, wäre dennoch nicht mit vollkommener Sicherheit die Schuld eines Täters ermittelt noch ermittelbar, so dass ein nicht wieder rückgängig zu machendes Todesurteil berechtigt wäre. Man denke an fingierte „Beweise", die jemand am Tatort hinterlässt und somit die Justiz bewusst auf die Spur eines Unschuldigen lenkt. Selbst Gentests sind wegen möglicher Fehler nicht anerkannt. Auch im Falle eines Geständnisses ist kein hundertprozentiger Beweis erbracht, denn es hat schon oft wegen psychischen Drucks Geständnisse gegeben, die später widerlegt wurden!

    All dies ist im Unterricht besprochen und diskutiert worden – übrigens auch von anderen Schülern so beurteilt und nicht etwa von mir so „festgelegt worden! Mein Kommentar, den ich unter die Arbeit Ihrer Tochter geschrieben habe: „Hoffentlich geschieht Ihnen nie ein solches Unrecht, bezog sich darauf, dass Ihre Tochter, trotz des von mir verteilten Textes, der von einem Justizirrtum berichtet, eben einen solchen Justizirrtum mit den Worten „peinlich und makaber" offenbar billigend in Kauf nimmt, also das wohl schlimmste Unrecht, das einem Menschen widerfahren kann, duldet. Ihre Tochter hat die schlechte Zensur von mir nicht wegen ihrer Meinung bekommen, sondern wegen der fehlenden Ernsthaftigkeit, mit der Ihre Tochter dieses, wie Sie zu Recht schreiben, sensible Thema, behandelt hat.

    Um Ihre Tochter nicht zu entmutigen und um sie anzuspornen, habe ich ihr ein „ausreichend" auf dem Zeugnis gegeben, was ich aus pädagogischen Gründen für vertretbar halte. 

    Zu Ihrer Aussage, ich sei lebensunerfahren und/oder blauäugig:

    Dass ein direkt oder indirekt Betroffener über die Todesstrafe anders denkt als eine neutrale Person, ist selbstverständlich. Auch diesen Aspekt habe ich im Unterricht anhand des folgenden Beispiels dargelegt: Eine Richterin, die vergewaltigt wurde, wird wegen Befangenheit niemals über ihren Peiniger richten dürfen. Trotzdem noch einmal: Nicht die Meinung, sondern die Argumente, die die Meinung untermauern, zählen. Was meine Sensibilität angeht, möchte ich die Frage stellen: Was ist, wenn jemand lange Zeit unschuldig im Gefängnis saß, und derartig oberflächliche Forderungen nach der Todesstrafe bei gleichzeitiger flapsiger Ignoranz eines derartigen Unrechts liest? Und was ist mit den Familienangehörigen eines schuldig oder sogar unschuldig Hingerichteten? Diese werden automatisch mitbestraft! Demnach müsste man jede noch so undifferenzierte und unreflektierte Meinung akzeptieren, denn diese Meinung könnte in jedem Falle durch persönliche Erfahrung beeinflusst worden sein. Kurz: bevor man jemanden unsensibel nennt, sollte man sich selbst diesbezüglich prüfen.

    Als fünfzigjähriger Mann verfüge ich über die Gelassenheit, um über Ihre Äußerung, ich sei unverschämt, lebensunerfahren oder sehr blauäugig, großzügig hinwegzusehen.

    Ihr kleiner Hinweis, dass Ansichten über die Todesstrafe immer nur subjektiver Art sein können, deshalb eine Benotung bitte unterbleiben sollte, nehme ich gern als Ihre Meinung zur Kenntnis, muss aber dazu anmerken, dass Ansichten, egal zu welchem Thema, immer subjektiv sind. Das „Training", subjektive Ansichten mit Argumenten zu untermauern, ist eine Aufgabe des Sozialkundeunterrichts. Ob ich in Zukunft Arbeiten zu diesem Thema benoten werde oder nicht, wollen Sie bitte mir überlassen.

    Mit freundlichem Gruß ...

    Dieser Brief ging über die Schulleiterin sofort zum Fachbereichsleiter, der nun plötzlich nicht mehr der Ansicht war, dass mein Satz, den ich der Schülerin an die Arbeit geschrieben hatte, unverschämt sei, denn er suchte mich im Lehrerzimmer auf und sagte: >>Ja, ich glaube, das ist wasserdicht, da kann die Mutter nichts gegen sagen, ihr Antwortschreiben ist sehr gut, ich glaube, davon hören wir nichts mehr.<<

    So war es auch, allerdings fiel mir einmal mehr auf, dass die Angst, etwas könnte nicht „wasserdicht" sein, bei Lehrern weit verbreitet ist.

    Als ich nach etwa zwei Monaten in der Klasse WW die erste Klassenarbeit im Fach Mathematik schreiben ließ, erzielte ich einen Durchschnitt von zweikommasechs. Es ist an allen Schulen so üblich, dass jeder Lehrer eine gute, eine mittlere und eine schlechte Arbeit beim Fachbereichsleiter einreichen muss, was ich auch tat. Dieser Notenschnitt der WW wirkte etwa so, als ob ich ihm, den kommissarischen Fachbereichsleiter, einen Tritt ins Gemächt verpasst hätte. Er rief mich in sein Büro, ließ sich alle Arbeiten von mir vorlegen und überarbeitete meine Korrekturen noch einmal. Danach zeigte er mir, wie eine Klausur seiner Ansicht nach zu korrigieren sei und sagte, dass der Notenschnitt mit seinem Korrektursystem sicherlich locker auf vierkommaacht zu bringen sei.

    Nachdem ich die Klausuren noch einmal überarbeitet hatte, es waren sicherlich auch einige Kleinigkeiten zu kritisieren, meine letzten Korrekturen im Fach Mathematik lagen zwanzig Jahre zurück, hatte ich einen Notenschnitt von zweikommaacht. Die Schüler der WW waren bitter enttäuscht, nicht nur wegen der schlechteren Noten, sondern auch von mir, weil ich mich so habe belatschern lassen. Vielleicht hatten die Schüler recht, aber ich glaubte auch, der kommissarische Fachbereichsleiter würde sich in Zukunft in jedem Falle alle Klassenarbeiten geben lassen, um diese zu kontrollieren, deshalb sollte er ruhig das erste Mal seine Duftmarken setzen, wenn er mich danach in Ruhe lässt, ist ja alles in Ordnung. Hinzu kam, dass ich mich partout nicht wieder mit Vorgesetzten anlegen wollte, denn ich war wieder in der Probezeit, hatte zudem nur einen Vertrag für ein Jahr und vertraglich nur eine Stelle mit Zweidritteln der Stundenzahl. 

    Es ist auch seltsam, dass Schüler und Schülerinnen glauben, der Lehrer müsse sich bedingungslos für sie einsetzen, obwohl sie sich wiederum oft genug so verhalten, dass es alle Grenzwerte überschreitet. Einige kleine Beispiele dazu sollen erwähnt sein:

    Weil die Wände der Klassenräume sehr verschmutzt waren, wurde an der Schule verabredet, dass an einem Tag für die Renovierung der Klassenräume kein Unterricht stattfindet. Die Wandfarbe wurde von der Schule besorgt, die Schüler sollten in Eigeninitiative die Wände rollen, was sie auch ohne zu klagen hinnahmen, denn dafür fiel der Unterricht aus. Man sollte meinen, Renovierungen von Schulen sollten nicht von den Schülern durchgeführt werden, sondern von der Schulbehörde beauftragt und von einer Malerfirma durchgeführt werden. Aber Berlin war wieder pleite. Nach etwa zwanzig Minuten stellte ich fest, dass die Hälfte der Schüler meiner Klasse WW fehlte. Folglich ging ich auf die Suche nach diesen Schülern und fand sie auch draußen auf dem Rasen liegend. Als sie mich kommen sahen, sprangen sie auf und kamen mir entgegen, jeder von ihnen hielt eine Dose Bier in der Hand und sie riefen mir zu: >>Wir kommen gleich, wir haben nur eine kleine Pause eingelegt!<< Ich sagte sehr deutlich, dass Alkoholgenuss in der Schule verboten sei, woraufhin sie die Bierdosen schnell hinter dem Rücken versteckten, als ob ich sie noch nicht gesehen hätte. 

    Mittwochs unterrichtete ich in der achten Stunde in dieser Klasse, was jedoch meistens ein sinnloses Unterfangen war, denn oft schwänzten einige Schüler in der Stunde davor den Unterricht und rauchten Haschisch, was dazu führte, dass sie in der Mathematikstunde nur noch herumalberten oder völlig weggetreten vor sich hin dösten. In beiden Fällen, sowohl beim Alkoholgenuss als auch beim Konsum anderer Drogen während der Schulzeit hätten einige der Schüler, wenn ich diese zu einem Drogentest geschickt hätte, sofort die Schule verlassen müssen. Eigentlich wäre es meine Pflicht gewesen, einen solchen Test zu veranlassen, ich habe es nicht getan, was die Schüler und Schülerinnen als Schwäche des Lehrers Gentil auslegten. Die Schüler aber erwarteten, dass ich mich gegenüber dem kommissarischen Fachbereichsleiter sowie der gesamten Schulleitung zu ihren Gunsten durchsetze und mich für sie stark mache, mich mit der gesamten Schulleitung, unter deren Regie ich die nächsten zehn oder fünfzehn Jahre an dieser Schule arbeiten wollte, zu ihren Gunsten überwerfe, obwohl sich diese Schüler mir gegenüber wie die Axt im Walde benahmen und in spätestens neun Monaten die Schule verlassen werden. Es war diesen Schülern auch völlig egal, ob sie noch einmal durch die Prüfung fallen oder nicht, ein erneutes Wiederholen hätte es nicht gegeben.

    Viele Schüler, die an diesem Oberstufenzentrum unterrichtet wurden, kamen von einem Gymnasium und mussten dieses nach dem mittleren Schulabschluss verlassen. Oft wurden diese Schüler von den Eltern zuerst in die Abteilung vier des Oberstufenzentrums geschickt, also in die gymnasiale Oberstufe, wenn sich das Probehalbjahr auch dort als unüberwindliche Hürde herausstellte, kamen sie zu uns in die Abteilung drei, also in die Fachoberschule, damit das Söhnchen oder Töchterchen aus gutem Hause doch noch studieren kann. Einer aus dieser Spezies, dessen Eltern, wie ich später erfuhr, beide Rechtsanwälte mit eigener Kanzlei waren, saß direkt vor mir, Kaugummi kauend, das Baseballkäppi auf dem Kopf und schwatzte mit seinem Nachbarn. Ich bat ihn in höflichem Ton, den Kaugummi herauszunehmen und die Mütze herunter zu nehmen. Nach einigem Hin und Her, wieso und weshalb oder: >>was stört sie daran?<< tat er dies auch und sagte zu seinem Nachbarn: >> So ein Arsch ey.<< >>Diesen Ton wollen wir hier nicht an dieser Schule, sagte ich, gehen sie bitte zum Abteilungsleiter und sagen sie ihm, dass

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