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Konstantin Mugele erzählt
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eBook257 Seiten3 Stunden

Konstantin Mugele erzählt

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Über dieses E-Book

Fortuna sei langweilig, sagt Mugele manchmal. Da irrt er. Es war doch ein grüner rotschnabliger Papagei, der ihm das Leben gerettet hat. Und dem Sohn. Überhaupt: In diesem geliebten, verruchten Jahrhundert braucht man Glück.
Doch was Mugele sich nicht gewünscht hat, war eingetroffen. Zustände ähnlich der Jugendzeit kehrten zurück. Unbarmherzig. Da war ihm nichts vorzumachen. Von wegen: "Die Welt zu ihrem Glicke, dreht sie sich nicht zerricke" – ein Sprüchlein für Kinder.
Ja erkläre mal einem zugereisten Steuerbeamten aus Köln, was 1947 im Prenzlauer Berg ein "Schulhelfer" war. Der ist ein freundlicher Mann, rheinisch-beschwingt, rettet Mugele mit "Referendar" in die mögliche Spalte. Aber mit Solidarität gegenüber einem "Sozialistischen Bruderland", sei´s als Verlagsredakteur, auch ausgeborgt beim Rundfunk, weiß er nichts anzufangen. "Entwicklungshilfe für China" kommt dem Beamten nicht in den Sinn. "Was soll sich dort entwickelt haben?! Weiß man doch."
Mugele, nun missioniere nicht. Mag immer googeln, wen Neugier plagt. Wahrheit stehe für sich.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum3. Jan. 2014
ISBN9783847667933
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    Buchvorschau

    Konstantin Mugele erzählt - Erhard Scherner

    Im Scheunenviertel. Ein Fisch wird verhandelt

    Heute bin ich mit der Frage erwacht: Konstantin, wo kommst du her? - Manchmal träume ich nur Haare. Haare. Es gab eine Zeit, da war das kein Traum.

    Was macht der gedrungene Mann, der mir den Rücken kehrt, nachts in der Küche? Reglos verharrt er ein paar Sekunden, vornübergebeugt. Ich habe ihn so sitzen sehn, in Herbst- oder Winternacht, nie sommers. Ich weiß auch, Vater wird sich noch mal hinlegen. Wenn er dann aufsteht, hat Mutter die Haare schon zusammengekehrt, aber richtig los werden wir sie nie. Sie spazieren durch Küche und Stube, unten, oben, überall. Die Schwester sammelt sie vom Kleid, der Bruder steckt sie in den Mund.

    Vater ist Kürschner. Laden und Schaufenster besitzt er nicht, er setzt auch keine Annoncen in die Zeitung. Unter dem mächtigen Schild

    RICHARD SPRUNG

    SEIFEN - GROSSHANDEL

    neben der Einfahrt zu Hof, Hinterhof und Hinterhinterhof hängt kein Schildchen

    Kürschner Otto Mugele

    Repariere Ihren Pelz!

    Nähe Ihr Fell!

    Erster Hof, rechter

    Seitenflügel, 3. Stock

    oder sowas. Aber eine Kürschner-Nähmaschine hat er, Erbstück vom Großvater. Urgroßvater hat nicht gewusst, was ein Kürschner ist, jedenfalls nicht genau, aber seit Großvater wissen es die Mugeles, und ich glaube, Vater will nicht, dass ich es genau weiß.

    Die Nähmaschine hat ihren Sommerschlaf gehalten. Nun hat Vater fürs Fest und gegen den Frost Felle zu feuchten und auf zernarbte weiche Bretter zu zwecken, Felle mit durchgewetzten Rändern, Kanin, Kanin oder Katze, was weiß ich, Hamsterfellchen, mal rotbrauner Fuchs. Selten verirrt sich ein hohes Tier, Nerz oder Hermelin, in die Lothringer 17. Unser Haus liegt am Rande des ausgepowerten, verhurten, verwohnten, verwanzten Scheunenviertels. Und rot soll es auch sein. Aber das stimmt nicht - die Häuser sind gelb oder orangefarben, auch grau, der Putz blättert ab.

    Kürschner ist ein schöner Beruf. Zum Besten, womit ein Kürschner umgeht, gehören die Tieraugen. Sie sind aus Glas, unter dem Fell mit Draht verbunden, aber später sieht man das nicht. Wenn man still und lange in sie hineinschaut, kann man merken, ob sie beutegierig oder traurig blicken.

    Vater pustet auf die Haare der zwei zueinander gelegten Fellstücke, ehe er ins Pedal tritt. Zwischen zwei runden Metallscheiben zuckt die Nadel. Immer nachts. Schwarze Arbeit braucht Dunkelheit. Soll ich ihn an meinen Weihnachtswunsch erinnern? Ich weiß schon, vor dem Fest wird er keine freie Minute haben, mir aus Fellresten einen richtigen Teufelsschwanz zu nähen, auch nicht Heiligabend, da muss selbst der räudigste Pelz noch auf einen Kragen.

    Mutter setzt Kaffeewasser auf, es gibt Kathreiner-Kaffee. Aus der Pfundtüte, von der uns ein Herr mit silbergrauem Schopf zulächelt, zählt sie die Löffel gerösteter und aufs feinste gemahlener Gerste in die Kanne. Das macht sie sehr gut. Aber sie zählt auch die Presskohlen für den Ofen aus - bei dieser Zählerei wird die Stube nicht warm. Zum Glück hat Vater in der MORGENPOST von einer guten Methode gelesen, wie man Kohlen strecken kann: Man weicht Zeitungen in einem Zuber ein - vorgesorgt hat, wer eine Zeitung hält. Die aufgeweichten Artikel rollt man zu kohlkopfgroßen Kugeln, dabei presst man das Wasser so gut man kann heraus und lässt sie ein paar Wochen trocknen. Es ist Papas Sommerarbeit, die papiernen Reden, Flutkatastrophen, Einbrüche und Rätsel, aber auch Bruno H. Bürgels Sonntagsbetrachtung des Sternenzelts in das Schaff zu tunken und rundzumachen.

    Aber Artikel über Afghanistan schneidet sich Vater aus. Auch die hundert todsicheren Tipps WIE WERDE ICH MILLIONÄR? - eine ganze Zeitungsseite - bleiben vor Wasserbad und Verarbeitung bewahrt. Ich kann sie fast singen. Drehe jeden Pfennig hundert mal um, ehe du ihn ausgibst! ist einer davon. Ein anderer Tip lautet: In der Öffentlichkeit zeige dich stets in der Nähe von Besser- oder Höhergestellten! Das eine fällt leicht, das andere ist schwer zu machen, da es bei uns im Seitenflügel keine Höher- und keine Bessergestellten gibt. Vielleicht muss ich Familie Merz, eine Treppe unter uns, insofern sind sie tieferge-stellt, einmal ausnehmen. Sie haben keine Kinder - Kinder kosten viel Geld! - aber sie besitzen ein Radio, groß wie eine Eierkiste. Es steht auf Merzens Vertiko. Sonntags melden wir uns zur Märchenstunde am Nachmittag, Schwester Annemie und ich kommen in Potschen und bringen zwei Ritschen mit, das ist Schlesisch, und setzen uns dicht vor den Lautsprecher. Erst hatte ich die Hoffnung, der Gestiefelte Kater und der Müllersbursche, so klein sie auch sein mögen, träten einmal aus dem Kasten heraus; doch sie sind nur zu hören, aber ganz deutlich. Wir zeigen uns jeden Sonntag bei Familie Merz. Sobald die Großmutter und die Sieben Geißlein aus dem Bauche des Wolfs geschnitten sind, greifen wir unsere Fußbänke und bedanken uns schön. Dann wecken wir Mama und Papa, leider auch Bruder Hansi, und erzählen unser Erlebnis. Wir schwärmen von Zwerg Nase, manchmal von Jorinde und Joringel, immer aber von Merzens Radio. Wir Mugeles müssen auch eins haben, wenigstens ein kleines, kann doch sein, dass sie nicht nur am Sonntag Märchen erzählen. Vater stimmt uns zu - er braucht für Weltnachrichten sogar ein großes. Er spart und spart und wir alle sparen. Das Pfennigumdrehen gelingt uns, mal abgesehen vom Kauf der Morgenpost. »Mit den Kugeln kommt das Geld wieder rein«, tröstet Vater, »die bringen Hitze«. Aber in Wirklichkeit freut er sich über knackigen Frost. Da wird er, wenn er sich rasiert hat und gefrühstückt, seine Schuhe blank reiben und losziehen, bei den Kürschnermeistern nach Arbeit vorzusprechen. Wenn Berlin bibbert, hat Vater eine Chance.

    *

    Die Kochmaschine in der Küche hat mehrere Feuerstellen. Wird der große Wasserkessel aufgesetzt, nimmt Mutter mit dem Feuerhaken alle Ringe heraus. Wenn es schnell gehen muss, brennen wir Gas. Im Korridor steckt Mutter einen Groschen in den Automaten, zündet in der Küche die Flamme, in raschem Takt ist nebenan das Knacken zu hören - die Suppe wird warm. Der Topf gehört Frau Doktor Behm aus dem Vorderhaus. Die Behms haben ihn Mama anvertraut, ebenso die Schlüssel, mit denen sie von unserm Seitenflügel durch eine Doppeltür direkt in die Küche der Behms gelangt. Sie sind sehr zufrieden mit ihr. Vormittags, wenn Doktor Behm aufs Gericht geht, darf Mutter die Zimmer sauber machen zweimal die Woche, und ins Bad darf sie auch. Dort sind Kacheln rundum. Das Beste ist eine riesengroße eingelassene Wanne, in der gewiss alle Mugeles zugleich Platz hätten, und wir sind fünf. Manchmal darf Mama auch beim Kochen helfen. Einmal im Monat besorgt Mama Behms große Wäsche. Im Keller, in einer undurchsichtigen Dampfwolke, regiert sie allein, zwei Tage lang. Mittags kommt sie mit weichen zerwaschenen Händen aus der Tiefe und reibt Kartoffeln. Mit Zucker bestreute Kartoffelpuffer sind, glaube ich, die beste Speise, die es gibt. Mama hat dann großen Durst, und wir alle trinken einen ganzen Topf Malzkaffee leer, ehe sie wieder im Nebel der Waschküche verschwindet.

    Behms sind großzügig. Was sie nicht aufessen, darf Mama durch die Doppeltür nach Haus tragen. »Das sind Brosamen«, sagt Vater, und manchmal sagt er Bettelsuppe. »Sie sollten dich lieber richtig bezahlen!«

    Und dann wird Mama böse und fragt: »Und wie bezahlt man dich? Und wie viele Monate gar nicht? Wie lange soll das so weitergehen!«

    Das ist der Augenblick, ich weiß es, wo der Streit um Afghanistan erneut ausbrechen könnte. Nun braucht Vater nur noch zu sagen: »Wir hätten der Einladung des jungen Königs an das deutsche Handwerk gefolgt haben sollen. Er ist vertrauenerweckend. Du hättest ihn sehen sollen, wie er mit wehendem Federbusch aus seiner Kutsche stieg - ein stattlicher Mensch. Ich würde es nicht sagen, wenn ich ihn Unter den Linden nicht selber beobachtet hätte. Hunderte sind gegangen und haben in Afghanistan ihr Glück gemacht - deutsche Ärzte und deutsche Architekten, Geologen und deutsche Bergingenieure, Tatsache. Wir haben die Zementfabrik und das Zündholzwerk gebaut ...«

    »Und was soll da ein Kürschner?«

    »An Schafffell, auch Persianer, mangelt es überhaupt nicht. Das sind Tatsachen. Sie haben Fuchs und Tiger und Leopard ...«

    »Hyänen und Schakale«, höhnt die Mama.

    »Spotte nur, Weib, hier gibt's Hyänen und Schakale auch - aber keine Arbeit, eine gottverfluchte Welt das.«

    »Du redest wie ein Heide. Gewiss warten die Mohammedaner schon auf einen katholischen Kürschner aus Oberschlesien, der nicht Türkisch kann.«

    »Und du siehst über Behms Kochtopfrand nicht hinaus, schlimm«, sagt Vater. »Auch in Afghanistan bleibst du unter Landsleuten, es gibt in Kabul eine Schule, eine deutsche Oberrealschule unter deutschen Lehrern. König Ahman Ullah hat hier in Berlin einen sehr guten Eindruck gemacht ...« Aber nun ist meine Schwester nicht mehr zu bremsen und ruft:

    Die Rieselfelder sind geflaggt:

    Ahman Ullah hat gekackt!

    Dann haut Papa ihr eine Backpfeife, obwohl wir den Spruch über Ahman Ullah von ihm selber gelernt haben, und Mama ist wütend und schreit: »Geh doch nach Afghanistan, wenn du dich nicht beherrschen kannst!« Und Papa tut die Maulschelle leid.

    Aber Vater sagt heute nichts, doch ich merke, die Suppe schmeckt ihm nicht, die gute Gemüsesuppe von Behms, mit Rindfleischstücken drin, und die besten Fleischstücke hat Mama extra für ihn aufgehoben - er hat nachts gezweckt und genäht und tags genäht und gezweckt und ist ziemlich weit gelaufen. Und es ist ziemlich gut und ziemlich schlecht, dass es kalt ist. Aber es müssen Groschen in die Teebüchse kommen, so ein Gasometer tickt und tickt und will gefüttert sein. Und das Jahr hat einen viel zu langen Sommer.

    *

    Ich habe nichts gegen den Sommer, sollen die Großen reden, was sie wollen. Ich mag es sehr, dass Vater Zeit für mich hat, viel Zeit. Wir singen, und es wird gezeichnet - ein Pferd, ein Schaf, ein Schwein. Schafe und Schweine gibt es bei uns nicht. Aber Pferde gehen jeden Tag bei uns aus und ein. Richard Sprung, dem unser Haus gehört und noch ein paar Häuser im Kiez, besitzt ein halbes Dutzend Pferde. Auf unserm Hof werden sie geputzt und geschirrt, ehe sie die Kisten mit Seife und Waschpulver in die Drogerien ausfahren. Die Pferde vom alten Sprung sind kleiner und schmaler als die Brauereipferde von Schultheiß und die Gäule von der Müllabfuhr, aber bestimmt sind sie flinker und schöner als alle Pferde, die sonst in unserer Straße verkehren. Nehmen wir mal die Polizeipferde. Eigentlich, gut ausgefuttert, sind sie schön. Wenn sie in die Leute reinrennen und die Schupos, vor Aufregung mit ganz rotem Kopf von oben schreien und mit dem Gummiknüppel nach links und nach rechts dreschen, dann sind sie kein bisschen schön. Warum wird geschrien und gedroschen? Ich weiß es nicht. Und warum laufe ich hinter den großen Jungen, die flinker sind als ich, zur Volksbühne? In der Menschenmasse, die hin und her wogt und aufbrüllt vor Zorn, verfangen sich die Pferde. Schon wird hier und dort ein forscher Reiter zu Boden gerissen, ein paar Tschakos fliegen wie Bälle über die Köpfe der Leute, verrollen im Rinnstein und an den Stufen des Theaters, und ich laufe, renne, pese, längst atemlos, und wieder der Letzte.

    Und bezweifle meinen Alptraum: War's ein Film, der hier ablief oder - gedreht wurde? Aber Angst und Atemlosigkeit waren echt, das Menschengebrüll, das Schnauben der Pferde war echt, die beiden Tschakos waren echt, die die Beherztesten als Beute mit sich trugen - wie lebensecht wollten wir Räuber und Schupo spielen mit dem blitzenden Kopfputz, obgleich so ein Tschako selbst für Fritze Bronn zu groß ist, mit viel zu weitem Sturmriemen! Und gewiss waren Entsetzen und Entschlossenheit der Eltern echt, die die eroberten Bedeckungen der Staatsmacht unverzüglich im aschebraunen Müllkasten verschwinden ließen.

    Zwei Häuser weiter Richtung Straßburger, vor Lewinsons Bäckerei, steht eine große gusseiserne Pumpe mit weit ausholendem Schwengel. Alle Gäule, die hier haltmachen, werden von uns bedient. Die braune Stute, die allwöchentlich ein grünes Wägelchen mit klein gehackten Holzscheiten durch unsere Straße zieht, erhält ihren Trunk. Der Besitzer läuft neben oder ein wenig vor dem Fuhrwerk, er geht von Hof zu Hof, schwingt eine Glocke und singt sein langgezogenes Lied:

    Brennholz füüür Kartoffelschaaaln.

    Bringst du einen Topf mit Küchenabfällen, reicht dir die Bauersfrau, die auf dem Wagen hocken bleibt, drei Hände voll Brennholz zurück. Auch für das Pferd, das den Eiswagen bugsiert, pumpen wir Wasser. Behms haben einen halben Block für ihren Eisschrank bestellt, im Emailleeimer trägt ihn Mutter in den zweiten Stock. Aber zu den Pferden von Bolle ist unser Verhältnis gestört, und nur wegen der Kunst. Wenn Bolles hoher weißer Kastenwagen auftaucht, rotten wir uns zusammen und schreien so laut und so kreischend wir können:

    Bolle bimbim,

    der Käse is dünn,

    die Milch is dick,

    Bolle is verrückt.

    Ich will hier mal sagen, dass die Mugeles auf Bolle gar nicht angewiesen sind: Mutter holt sich die Milch kostenfrei in der Herz-Jesu-Kirche ab, und wenn welche übrig bleibt und schlickert, macht sie in einem Leinenbeutel Quark. Wir sind unabhängig. Wir brauchen Bolle nicht! Doch der Kutscher knallt wütend mit der Peitsche und wir verschwinden lärmend. Wenn Bolles Lieferwagen in die Alte Schönhauser einbiegt, kehrt das friedliche Leben zurück. Die Mädchen setzen ihre Puppen in die Aprilsonne, „Himmel-und-Hölle"-Hopse haben wir nach dem langen Winter wiederentdeckt, wir trieseln und spielen mit Murmeln.

    Das Beste, was mir passieren kann, ist eine Tour mit einem von Sprungs Lieferwagen. Dann darf ich neben dem Kutscher auf dem Bock Platz nehmen und auch mal die Leine halten, während er die Kartons ablädt und in den Seifenladen schafft. Mein liebster Kutscher ist der drahtige und ziemlich kleine Herr Krusche, der sich früher mal als Jockey versucht hat. Hausbewohner, die er mag, dürfen seine Pferde streicheln. Aber dass ich mitfahre, das zu erreichen vermag nur Vater. Er ist groß wie Herr Krusche - die Kleinen verstehen sich.

    Aber die Kleinen vertragen sich auch mit den ganz Dicken. In der Saarbrücker Straße wohnt ein Freund vom Vater, der ist über vier Zentner schwer. Er geht bedächtig durch die Straßen - man darf ihn grüßen und kostenlos angucken. In anderen Städten lässt er sich, wenn er auf Tournee ist, nur für Geld sehen. Bei einem Maßschneider gibt er dann eine neue Hose in Auftrag, und Papa, sein Freund, kriegt die alte. Die wird von Mama auf dem Waschbrett gewaschen, dann getrocknet und zerschnitten. Alsbald näht sie uns was, es ist schöner grüner Manchesterstoff, nur an Gesäß und Knien sind die Rillen abgewetzt. Ein Hosenbein reicht, uns drei Kinder neu auszustaffieren, etwas später kommen Papa und Mama dran, und wir Mugeles könnten alle in Grün gehen, aber es kommt nicht dazu, weil Mama es vermeidet.

    Eigentlich müsste nützlich sein, wer mit Herrn Krusche mitfahren will. Aber wie ist man nützlich mit fünf? Hoch auf dem gelben Wagen könnte man für Pferd und Kutscher Lieder singen, immer eins nach dem anderen. Die Pferde würde es bestimmt freuen. Menschen sind schwieriger. Im Krankenhaus zum Beispiel waren sie erst über das hohe Fieber und meinen scharlachroten Hals erschrocken, aber als es wieder mit mir aufwärts und mit dem Fieber runter ging und die Schmerzen ausblieben, kehrte die Lust zum Singen zurück. Nun waren Arzt und Schwestern über die Lieder erschrocken, die aus meinem Hals kamen, und sie sagten: „Konstantin, solche Lieder kann man heute nicht mehr singen. Und der Doktor guckte auf meine Krankenkarte am Fuße des Bettes und murmelte: „Na ja, Bülowplatz. Woher weiß er, dass ich dort gern bin?

    Ist ja auch nicht weit von uns, nur mal über den Damm und nochmal. Dort steht das Theater mit Stufen, auf denen man gut hopsen kann. Und drinnen machen sie Theater, aber nur Nachts. Vor der Volksbühne auf einem Steinsockel liegt ein toter bronzener Polizist, neben dem kniet ein zweiter Schupo mit gesenktem Tschako. Ich weiß nicht, warum der eine hier liegt, der andere kniet, aber ich merke, wie ich traurig werde, wenn ich lange auf Kunst gucke. Dabei bin ich mir sicher, dass ich Schupos nicht leiden kann. Aber ich werde Vater nicht fragen, er spricht nicht über Polizisten.

    Andermal denke ich, Vater will, dass ich alles weiß, was er weiß. Interessant ist es, wenn wir über Städte und Flüsse sprechen. Also: Berlin - liegt an der Spree. London - liegt an der Themse. Prag - liegt an der Moldau. Warschau - an der Weichsel. Jede Stadt, die auf sich hält, liegt an einem schönen großen Fluss. Ich darf auch nach dem Land fragen, denn jede Stadt liegt in einem Land. Am liebsten spricht Vater über Paris in Frankreich. Das liegt, höre ich, an der Zähne. Das ist ulkig. Vater war noch nie in Paris, aber wir kennen uns aus: Erst muss man über die Havel, dann muss man über die Elbe und die Weser, dann über den Rhein, dann geht es durch die Maginotlinie, dann kommt man nach Paris. Das liegt an der Seine. Und dort steht der Eiffelturm. Den hat Misjöh Eiffel gebaut. Das merkt sich gut.

    Ich kenne die fünf Erdteile und weiß, wo Wien und Budapest liegen. Je öfter wir zum Bülowplatz kommen, desto weiter gerate ich in die Welt. Die Hauptstadt von Italien - heißt Rom. Rom liegt am Tiber. Die Hauptstadt von Russland - heißt Moskau und liegt an der Moskwa. Schon hat das Städtische Gartenamt auch auf dem Bülowplatz Bänke abgeladen, wir nehmen unsern Stammplatz ein, freuen uns über die Sonne, und wie sie bereisen wir den Erdball.

    Ein Herr in einem hellen, scharf gebügelten Anzug, mit weißem, gestärkten Hemdkragen und blauer Fliege, vom Hut, den eine weite verwegene Krempe ziert, bis zu den blanken Schuhen tipptopp, schlendert herbei, verharrt ein wenig, setzt sich zu uns auf die Bank. Aber wir lassen uns nicht abhalten, tiefer in die fernen Erdteile einzudringen: Die Hauptstadt von Mandschukuo? - Heißt Mukden. Liegt am Hunho. Dort hocken die Japaner. Die Hauptstadt von China? - Heißt Nanking. Nanking liegt - am Jangtsekiang. Die Hauptstadt vom alten China - heißt Peking. Aber wie heißt der Fluss?

    Vater grübelt. »Vielleicht haben sie gar keinen.«

    »Na so was, eine alte Hauptstadt ohne Fluss!« Als Ersatz bietet Vater an, dass in China die Chinesen leben. Die alten Chinesen haben die Seide und das Porzellan erfunden.

    Noch schwieriger wird es mit Belutschistan – »hinten am Indus.«

    Da weiß Vater keine Hauptstadt. »In Belutschistan leben die Belutschen«, tröstet er. Das interessiert mich sehr. »Und was haben die alten Belutschen erfunden?«

    Vater denkt

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