Himmelfahrtskommando
Von Stefan Millius
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Buchvorschau
Himmelfahrtskommando - Stefan Millius
Prolog
Eine der Gestalten löst sich aus der Gruppe und geht mit schweren Schritten durch den Gewölbekeller in die Mitte des Raums. Auf dem schmucklosen, schweren Steintisch steht eine kleine Vase. Dort angekommen, streift sich die Gestalt die Kapuze vom Kopf. Der massige, haarlose Schädel glänzt im Kerzenlicht. Der Mann hebt die Hände und blickt zur Decke hoch. Von dort starrt ein Gesicht zurück. Es ist das Antlitz eines Raben, kunstvoll eingearbeitet in die Skulptur einer Sonne, die über dem Steintisch hängt. Der Mann hält dem Blick des Raben kurz stand, bevor er sich langsam auf die Knie fallen lässt, ohne die Arme zu senken. Hinter ihm knien nun auch die anderen Gestalten nieder, schlagen ihre Kapuzen zurück, breiten die Arme aus und lassen sich langsam nach vorne sinken, bis sie auf allen Vieren kauern, das Gesicht zum Boden. Nur der Mann beim Tisch blickt weiterhin nach oben und durchbricht erstmals die Stille.
«Aurinko.»
Er wiederholt das Wort, leise, intensiv.
«Aurinko.»
Nun setzt er zu einer Kaskade an, wird immer lauter, die Stimme schneidend.
«Aurinko. – Aurinko. Aurinko. – Aurinko!»
Erst als das Echo völlig verhallt ist, setzen seine Gefährten ein. Im Gleichschritt skandieren sie es immer und immer wieder.
«Pelastaja.»
Der Mann am Tisch erhebt sich, greift die Vase, streckt sie der Sonne mit dem Raben entgegen und beginnt wieder mit seinem Mantra.
«Aurinko. Aurinko. Aurinko.»
Die Frauen und Männer, die am Boden kauern, beginnen, in ihrer demütigen Haltung Richtung Tisch zu kriechen. Der Rabe in der Sonne starrt reglos auf sie nieder, als sie sich hinter ihrem Führer zusammenscharen.
«Aurinko - Pelastaja» – immer und immer wieder und immer lauter.
Als die Worte schon fast wie ein Donnerschlag durch den Gewölbekeller hämmern, hebt der Mann am Tisch die kleine Vase so nahe zur Sonnenskulptur hoch wie nur möglich, hält kurz inne und schleudert das Gefäss schliesslich auf den Steintisch. Ein roter, dickflüssiger Sprühregen ergiesst sich über ihn und seine Gefährten, die sich in diesem Moment ganz zu Boden fallen lassen, während ihr Anführer kraftlos über dem Steintisch zusammen sinkt.
* * *
Der Pfarrer lässt den Blick über das Kirchenschiff wandern. Natürlich, er hat schon mehr Leute zum wöchentlichen Rosenkranzgebet empfangen. Es sind aber andererseits auch schon weniger gewesen. Der Altersschnitt, zugegeben, zeigt steil nach oben. Die vier oder fünf Frauen, die sich im hinteren Teil murmelnd in die Bänke drücken, gehen unverkennbar gegen die 80 oder haben sie schon überschritten. Dasselbe gilt für die drei Männer, die ihre Lippen bewegen, aber knapp das Vater Unser auswendig kennen, geschweige denn die Litanei des Rosenkranzes. So traurig es ist, aber Gemeinderätin Liliane Aemisegger ist mit ihren 55 Jahren deutlich die Jüngste an diesem Abend.
Der Pfarrer merkt, dass er einen Moment zu lang in Gedanken versunken war und er schon wieder an der Reihe ist.«… und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes Jesus», improvisiert er und atmet erleichtert auf, als die Gemeinde – ein grosszügiges Wort für das halbe Dutzend in der riesigen Kirche - ohne zu zögern weiterfährt:
«… der für uns am Kreuz gestorben ist.»
Seit zwölf Jahren ist er in der Gemeinde, der Pfarrer Nyffenegger, und seit der ersten Woche hält er dieses Rosenkranzgebet regelmässig ab. Deshalb fällt es ihm leicht – nun, da er den Faden wieder gefunden hat – die Litanei fortzusetzen und gleichzeitig seine Gedanken abschweifen zu lassen. Es zieht ihn fort, den Pfarrer, nach zwölf Jahren in diesem Kaff, in dem er seine Gottesdienste vor einer schwindenden Menge abhält und es sonst nicht gerade viel an Seelsorge zu tun gibt. Verschlossen sind sie, die Menschen in Gottlingen, verschlossen bis hin zur Verstocktheit, ersticken würden sie lieber an dem, was sie plagt, als dass sie sich einem Fremden offenbaren würden, und ein Fremder ist er geblieben, der Nyffenegger. Denn er ist nicht hier aufgewachsen, sondern spät dazu gestossen, und mag er noch so viele Jahre hier verbringen – was der Herr hoffentlich zu verhüten weiss –, so bleibt er doch ein fremder Fötzel, dem keiner sagt, was ihn beschäftigt, denn, so denken die Leute im Dorf, wer weiss, wohin dieser Fremde, der seit bescheidenen zwölf Jahren hier gastiert, die Gedanken danach tragen mag.
Der Pfarrer legt die Hände auf den Altar und setzt die Litanei fort.
* * *
Sie treten nach draussen, blinzelnd, zögerlich, fast ängstlich, als wäre alles ausserhalb des Gewölbekellers unter dem aufmerksamen Blick des Raben Feindesland. Draussen wartet ein weisser Kleinbus, der schon bessere Tage gesehen hat, ein Gefährt für die wenigen Gelegenheiten, an denen die Gemeinschaft ihr Haus verlässt. Zwei oder drei Anlässe sind es pro Jahr, die das nötig machen. Nach der Opfergabe an den Sonnenraben, deren Spuren alle noch auf ihren weissen Gewändern tragen, müssen sie nun nach altem Brauch zum Ende des Regenbogens fahren – wo auch immer ein solcher gerade zu finden ist. Nicht selten ist die Gemeinschaft dafür einige Tage unterwegs, um dann jeweils unter lautem Wehklagen festzustellen, dass der Regenbogen kein Ende hat, kein sichtbares jedenfalls.
Der hinterste in der Reihe schert aus und zieht an seinen Gefährten vorbei, geht zum Bus, öffnet die Schiebetür unter lautem Knarren und wartet geduldig, bis sich seine Brüder und Schwestern gesetzt haben. Er rutscht hinters Steuer und fährt nach einem letzten Kontrollblick in den Rückspiegel los. Die versammelte Gemeinschaft ist an Bord.
Sie ist an Bord, als der Mann losfährt, sie ist an Bord, als es gemächlich aus der Ausfahrt vor dem Haus auf die Zufahrttrasse geht, sie ist an Bord, als der Kleinbus an Fahrt gewinnt, sie ist an Bord, als er auf die erste Kurve zugeht – und sie ist an Bord, als sich in dem alten Gefährt alle Instrumente seinem Fahrer verweigern und der Bus aus der Kurve eine schnurgerade Linie macht, direkt auf die Wiese zu, über diese hinweg, durch einen Zaun, über ein weiteres Wiesenstück, unaufhaltsam dem Abhang entgegen.
Und darüber hinaus.
* * *
Unterhalb der Klippe stehen die Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr und durchsuchen die Überreste des Wracks. Noch immer steigt Rauch auf. Das halbe Dorf ist zusammengekommen, um das Spektakel zu verfolgen.
Das Spektakel, mit dem alles begann.
Teil 1 – Der Aufstieg von Gottlingen
Kapitel 1: Wie man aus einer schwarzen Null eine rote macht
Gottlingen hat alles, was eine anständige Gemeinde braucht: Eine Schule, eine Kirche, einen Dorfplatz, eine Beiz, einen Dorfladen, ein Altersheim, einen Sportplatz. Es mangelt den Menschen hier an nichts, vorausgesetzt, sie sind mit dem Minimum zufrieden. Denn natürlich: Die Schule ist veraltet, der Sportplatz bietet nicht allen Vereinen Raum, die ihn gerne benützen würden, im Altersheim muss etappen- und etagenweise geduscht werden. Grosse Sprünge machen kann die Gemeinde nicht, man kommt gerade mal so durch. Der Gemeinderat trifft sich zwar regelmässig zur Sitzung, ist aber in seiner Kreativität ziemlich beschnitten, denn für grosse Visionen fehlt das Geld. Jeder Franken fliesst in das, was ohnehin gerade unumgänglich ist, und so segnet der Rat eben das ab, was zu tun ist.
So auch an diesem Abend. Die Schulkommission hätte gerne einen neuen Belag auf dem verwitterten Tartanplatz, aber die Kostenschätzung, die sie dem Gemeinderat vorlegt, ruft dort nur einen verzweifelten Heiterkeitsanfall und ein deutliches Nein hervor. Dasselbe gilt für die Anfrage des Altersheimverwalters, der eine Sanierung der sanitären Anlagen fordert. Solange die alten Leute fliessend Wasser über dem Gefrierpunkt haben, erklärt Gemeindepräsident Guido Frei seinen Kollegen, muss das reichen, denn für alles andere ist kein Geld in der Kasse. Zumal es Nachbargemeinden gebe, die noch schlimmer dran sind, weil sie regelmässig Bittgänge zum Kanton unternehmen müssen. So gesehen ist Gottlingen schon beinahe ein Musterknabe. Eine Null kann schwarz oder rot sein, und hier ist sie schwarz, Gottlingen kommt aus eigenen Kräften durch, zwar nur gerade mit dem Nötigsten, aber es reicht knapp, solange nichts Unvorhergesehenes passiert. Und die Region ist arm an Unvorhergesehenem.
In aller Regel.
Guido Frei diktiert dem Gemeindeschreiber Erwin Bitterli gerade eine höflich formulierte Absage an den Altersheimverwalter ins Protokoll, während die Gemeinderatskollegen Toni Muff, Liliane Aemisegger, Martin Knorr und Alfredo Pedrutto dem Ende der Sitzung entgegen fiebern, als das Telefon von Erwin Bitterli klingelt. Dem würde es im Grunde nie einfallen, während einer Gemeinderatssitzung einen Anruf entgegen zu nehmen, aber wer auch immer am anderen Ende der Leitung ist – er scheint nicht aufgeben zu wollen. Guido Frei verdreht mitten im Satz die Augen und fordert seinen Gemeindeschreiber auf, den Anruf eben in Gottes Namen anzunehmen, damit man danach wieder mit den ordentlichen Geschäften fortfahren könne. Bitterli zuckt entschuldigend mit den Schultern und klemmt sich das Handy ans Ohr, während er ungerührt das Protokoll weiter führt.
«Bitterli. – Wer? – Wann ist das passiert? – Aber wie… - Alle? Alle zusammen?»
Jetzt hat der Bitterli – beziehungsweise sein