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Alles nach Plan
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eBook394 Seiten5 Stunden

Alles nach Plan

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Über dieses E-Book

Vier Freunde haben einen Traum - ein eigenes Restaurant zu eröffnen. Und jetzt stehen sie kurz davor, ihn zu verwirklichen. Alles ist bereit, es fehlt nur noch ihre Unterschrift auf dem Mietvertrag. Doch dann verunglückt ihre Vermieterin tödlich und die vier bekommen es mit ihrem Ex-Mann zu tun, der sich als unberechenbar entpuppt und ein sadistisches Katz- und Mausspiel mit ihnen treibt, das die vier Freunde an ihre Grenzen und darüber hinaus führen wird. Aus "alle für einen" wird mit einem Mal "jeder gegen jeden" und die Frage, ob es in dem perfiden Spiel überhaupt einen Sieger geben kann.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum6. Nov. 2013
ISBN9783847660194
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    Buchvorschau

    Alles nach Plan - Sarah Levine

    Falco

    Lennart von Falkenhausen, genannt Falco, betrachtete zufrieden sein Spiegelbild in dem großen, ebenholzgerahmten Wandspiegel seines Jugendzimmers, in das er vor einem halben Jahr wieder hatte ziehen müssen. Dankbarerweise war er seit jeher der Liebling seiner Mutter gewesen, die dafür gesorgt hatte, dass nichts in seinem Zimmer verändert worden war, während er an der Kölner Universität Jura studiert und mitten in der Innenstadt, im Belgischen Viertel, gewohnt hatte. Wohnung und Studium waren passé. Ohne Abschluss. Eigentlich hätte Falco am Boden zerstört sein sollen, doch die Aussicht auf die Restaurant-Eröffnung mit seinen drei besten Freunden hatte sein zusammengekrümmtes, waidwundes Ego wieder aufgerichtet und er konnte nun auch vor sich selbst zugeben, dass er dieses Studium von Anfang an gehasst hatte. Aber er wollte in die Fußstapfen seines Vaters treten und irgendwann Partner in dessen Kanzlei Vaters werden. Der einzige Weg zu dessen Anerkennung. Drei lange Jahre hatte er durchgehalten, hatte gebüffelt und sich gequält und war dennoch immer öfter durchgefallen. Und auch wenn er den anderen bei seinen seltenen Besuchen Zuhause von ausufernden Saufgelagen und tollen One-Night-Stands erzählte, sah die Wahrheit doch ganz anders aus. Getrunken hatte er allenfalls allein, um seine Verzweiflung zu betäuben. Und gevögelt hatte er nur zweimal. Beide Male mit seiner Nachbarin zwei Stockwerke über ihm, eine mollige Frau Ende dreißig mit großen Hängebrüsten und weichen Händen. Aber auch das waren eher Akte der Selbstkasteiung gewesen, denn wirkliche Begierde.

    Drei Jahre voller Zweifel, Düsternis und haltlosem Taumel. Wie schlimm es wirklich um ihn stand, wurde Falco klar, als er sich immer häufiger in Suizidfantasien erging. Zunächst malte er sich nur aus, welch große Vorwürfe sich seine Eltern, besonders sein Vater, machen würde, wenn ihnen klar wurde, dass sie ihren Sohn unbarmherzig in den Tod getrieben hatten. Doch dann wurden seine Fantasien immer detailreicher und er begann nächtelang darüber zu grübeln, auf welche Art und Weise er sich am besten töten sollte. Am Ende war es sein Selbsterhaltungstrieb und nicht zuletzt sein Stolz, die ihn davon abgehalten hatten, wirklich ernst zu machen. Wie zum Henker stünde er denn vor seiner Familie da, wenn er bepisst und bekotzt und mit geschwollener Zunge von der Decke baumelnd gefunden würde.

    Tonias und Vinz' Idee mit dem Restaurant war seine Rettung gewesen. Er hatte das Studium hingeschmissen, sich an diesen Rettungsanker gekrallt und nicht mehr losgelassen, bis er spürte, dass es langsam aber stetig wieder bergauf ging. Seine Freunde respektierten ihn, sie hörten auf ihn und vertrauten ihm vollkommen. Aber vor allem mochten sie ihn. So wie er war. Das hatte ihm sein lange nur geheucheltes Selbstvertrauen endlich wieder zurückgegeben. Wirbel für Wirbel hatte er sich aufgerichtet. Er glaubte sogar, sich endlich von seinem Vater gelöst und seine innere Selbstständigkeit gefunden zu haben. Das Band schien gekappt, das ihn beinahe in den Abgrund gerissen hätte.

    Und dann war da noch Tonia, die ihm einfach gut tat. Er wusste noch nicht genau, wohin sie beide gingen, aber das war auch nicht wichtig. Nicht im Moment.

    Falco grinste sich selbst im Spiegel an. Irgendwie hatte er etwas von dem jungen Tom Cruise, fand er, knöpfte sich sein grauschwarz gestreiftes Designerhemd zu und verwuschelte mit gespreizten Fingern sein Haar.

    „Wenn du weniger Zeit für deine Haare und mehr für dein Studium aufgewendet hättest, dann hättest du vielleicht auch Erfolg gehabt."

    Falco zuckte zusammen, eine kurze harte Bewegung wie die Schnittkante einer Axt. Hinter ihm war sein Bruder, Ludwig, unbemerkt ins Zimmer getreten, gefolgt von seiner Hündin, Ginger, einem dicken, verzogenen Golden Retriever.

    Falco wusste sehr wohl, dass es zwei Sachen gab, auf die sein Bruder eifersüchtig war - das eine war die Liebe ihrer Mutter, die Falco deutlich bevorzugte, und das andere war Falcos volles, dunkelbraunes Haar, denn Ludwig hatte bereits mit Anfang Dreißig eine Halbglatze - Erbe seines Vaters, genau wie sein süffisanter Gesichtsausdruck. Aus irgendeinem Grund kam der bei den Klienten von Vater und Bruder gut an. Offenbar suggerierte er genau die Überlegenheit, die der Durchschnittsbürger von einem Anwalt erwartete.

    Falco ließ sich seinen Schrecken nicht anmerken. In all den Jahren, die er nun in dieser Familie lebte, hatte er gelernt, wie wichtig es war, ein Pokerface aufzusetzen und erst mal die Lage zu sondieren, bevor man sich in irgendeiner Form dazu äußerte.

    „Was gibt's?" fragte Falco gleichmütig.

    Sein Bruder hielt ihm ein Blatt Papier hin. Falco machte keine Anstalten es anzunehmen.

    „Was ist das?"

    „Vater will, dass ich mich in Zukunft um seine Finanzen kümmere."

    Falco fand es lächerlich, dass sein Bruder Vater sagte, wie in einem der Romane aus dem 18. Jahrhundert, die seine Mutter ihm als Kind oft vorgelesen hatte, wenn er nicht einschlafen konnte. Wo, dachte er, dass er sich befände - in der Familie von Jane Austens Emma? Warum nannte er ihn nicht beim Vornamen wie jeder normale Erwachsene? Dennoch gab es ihm einen Stich, dass sein Vater Ludwig nun scheinbar die Verwaltung des Familienvermögens anvertraut hatte, wusste Falco doch, wie sehr ihm sein Geld am Herzen lag. Mehr als seine Frau und seine beiden Söhne, mehr als sonst irgendwer oder irgendwas.

    Falcos Gesichtsausdruck blieb undurchschaubar. Das war seine einzige Waffe, sein Schutzschild gegen diesen Angriff. Er gönnte seinem Bruder die Genugtuung nicht, die er empfände, wenn er sähe, dass Falco wirklich schockiert war und konzentrierte sich vorsichtshalber ganz auf das Zuknöpfen seines Hemdes.

    „Und?"

    „Und das hier ist ein Rückzahlungsplan für deine Schulden. Angefangen mit dem Geld, das unsere Eltern dir fürs Studium zur Verfügung gestellt, haben, Miete, Essen usw. bis hin zu dem Betrag, den sie dir für deine Klitsche geliehen haben..."

    Falco konnte sich nicht länger beherrschen und unterbrach Ludwig wütend.

    „Wieso fürs Studium? Dir haben sie das Studium auch finanziert und dir dann noch die ganze Kohle für dein Haus geschenkt."

    „Im Gegensatz zu dir habe ich mein Studium aber beendet und Vater sein investiertes Geld mehr als zurückgezahlt, indem ich jede Menge potente Klienten an Land gezogen habe. In deinem Fall allerdings handelt es sich schlicht um eine Verschwendung von Humankapital."

    Falco hasste Ludwigs Art zu sprechen. Was für ein Hanswurst! Er glaubte wirklich, er könnte sich hinter diesem Wortschwulst verstecken. Dabei wusste Falco mehr als genug über seinen Bruder, um ihn auf jeder Party lächerlich machen zu können. Dass er noch bis 14 ins Bett gepisst hatte, oder dass er regelmäßig zu Nutten ging und dass er seit mindestens drei Jahren eine Psychotherapie machte. Aber dieses Wissen sparte Falco sich für den richtigen Moment auf. Er wusste sehr gut, dass derartige Munition, richtig platziert, zu einem weit größeren Effekt führte.

    „Mama und Papa kriegen ihr Geld zurück, sobald das Restaurant richtig läuft."

    „Toll! Ja, das sind wirklich ganz hervorragende Aussichten, bemerkte Ludwig ironisch. „Ab jetzt bekommst du keinen Cent mehr von uns. Also sieh zu, dass du den Karren alleine aus dem Dreck ziehst, ist das klar!

    Er streckte Falco das Papier erneut entgegen, doch Falco drehte sich demonstrativ wieder zum Spiegel um, sodass Ludwig genötigt war, das Blatt auf den Boden fallen zu lassen.

    „Wenn das alles ist, mach die Tür von außen zu! Ich will mir in Ruhe einen runterholen!"

    Ludwig schüttelte missbilligend den Kopf, erwiderte aber nichts und ging zur Tür.

    „Und vergiss nicht, deinen fetten Köter mitzunehmen!"

    Als die Tür ins Schloss knallte, wusste Falco, dass er das Scharmützel, trotz dieses kleinen Stichs, verloren hatte und das machte ihn nervös.

    Eine halbe Stunde später zog er die Eingangstür seines Elternhauses leise hinter sich ins Schloss. Er wollte nicht gesehen oder gehört werden. Es war ein windiger Tag, aber die Sonne brannte vom Himmel und die bauchigen Wolken erschienen auf stürmische Art zerzaust. Der Frühsommer hatte Einzug gehalten, es roch nach Flieder und Meer und die unstete Atmosphäre erfüllte Falco mit freudiger Erwartung.

    Als er die Auffahrt zum Anwesen seiner Eltern herablief, fiel ihm der Mercedes-Kombi ins Auge, dessen Kofferraum bis zum Rand mit Reisegepäck vollgestopft war. Falco erinnerte sich, dass sein Bruder und seine Schwägerin, Evelyn, die Ende September ein Baby erwartete, in den Urlaub fliegen wollten, um noch einmal die letzten Wochen alleine zu genießen. Ludwig schenkte seiner Familie einen Enkel. Er machte einfach alles richtig. Der perfekte Sohn - dachte Falco und ahmte Würgelaute nach. Als er an dem geöffneten Mercedes vorbeiging, erblickte er die Video-Kamera, die neben Ginger auf dem Beifahrersitz lag. Der Hund knabberte hingebungsvoll an einem roten Ball und geiferte ihn von oben bis unten voll. Als Falco sich dem Auto näherte, knurrte Ginger ihn warnend an. Sie hatten sich von Anfang nicht gemocht und, alle beide, keinen Hehl daraus gemacht. Doch jetzt verlieh Falco seiner Stimme einen freundlichen Anstrich und forderte die Hündin zum Spielen auf. Nach einem skeptischen Blick wedelte sie schließlich mit dem Schwanz und ließ von dem vor Sabber triefenden Ball ab. Falco griff mit spitzen Fingern danach, hielt ihn mit Daumen und Zeigefinger fest und unterdrückte seinen Ekel.

    „Na los, hol dir das Bällchen! Komm, hol's dir!" presste er hervor und warf den Ball so weit wie möglich weg.

    Hechelnd und schwanzwedelnd rannte Ginger ihm hinterher.

    „Du dämlicher Köter!" grinste Falco und schnappte sich die Video-Kamera.

    Er rannte mit ihr zu einem Schuppen, in dem seine Familie die Fahrräder abstellte und seine Mutter ihre Gartenutensilien aufbewahrte, stolperte über eine Harke und fluchte, hörte aber im selben Moment die Stimme Evelyns, die seit Beginn ihrer Schwangerschaft einen unangenehm schrillen Klang angenommen hatte, was Falco diebisch freute, da es seinen Bruder ungemein nervte. Evelyn war nie ein ausgeglichener Mensch gewesen, aber die Hormone hatten aus ihr eine launige Furie gemacht. Eigentlich mochte Falco seine Schwägerin, aber auch er ging ihr in letzter Zeit lieber aus dem Weg. Einzig die Tatsache, dass sie seinem Bruder das Leben zur Hölle machte, indem sie ihn wegen jeder Kleinigkeit ankeifte, führte dazu, dass Falco sie noch ein bisschen mehr in sein Herz schloss, wenn auch aus sicherer Entfernung.

    Um besser hören zu können, presste Falco sich an die Wand des Schuppens und lugte vorsichtig um die Ecke. Evelyn stand mit dem Rücken zu ihm und ihre langen blonden Haare flatterten im Wind. Sie hatte die eine Hand in ihr Hohlkreuz gepresst, die andere brauchte sie, um damit wild zu gestikulieren. Falco konnte nicht alles verstehen, begriff aber, dass Evelyn das Fehlen der Kamera bemerkt hatte und nun Ludwig beschimpfte, weil er so dumm gewesen war, das Auto offen und unbeaufsichtigt stehen zu lassen. Ludwig machte ein paar schale Versuche, sich zu verteidigen, was ihm von seiner Frau ein freudloses Lachen einbrachte, und versprach schließlich, am Flughafen eine neue Kamera zu kaufen, aber auch das schien Evelyn nicht zu besänftigen. Falco hatte genug gehört. Zu wissen, dass der Urlaub für seinen Bruder alles andere als ein Vergnügen werden würde und die Tatsache, dass er die nächsten Stunden neben Evelyn im Flugzeug würde sitzen müssen, ohne Aussicht auf eine Fluchtmöglichkeit, bescherte ihm die Genugtuung, die er sich gewünscht hatte. Jetzt war er der Gewinner.

    Den Gurt der Kameratasche über der Schulter schlich er mit seinem Rennrad nach draußen. Der Wind hatte sich gelegt und die Sonne strahlte warm und einladend auf ihn nieder, als er kräftig in die Pedalen trat.

    Bert

    „Wie ich das hasse", dachte Robert Haller, genannt Bert, durchstieß die feuchte Erde mit seiner Schaufel und besah sich den kompakten Dreckklumpen. Er wimmelte vor Asseln. Mit ihren strichförmigen Beinchen strampelten sie um ihr Leben, doch Bert warf die Erde mit einer geübten Armbewegung einfach auf den angehäuften Hügel hinter sich. Er verabscheute den dumpfen, modrigen Geruch nasser Erde, der ihm in die Lungenflügel kroch und sie zusammenpresste, als müsste er feste Materie einatmen. Er rammte die Schaufel mit einem kratzigen Geräusch in den weichen Boden und schob ein paar Beerdigungsbohlen mit dem Fuß zur Seite. Im Hintergrund leierte die monotone Stimme des Pfarrers uninspirierte Worte zur letzten Ruhe herunter. Eine Litanei, so abgegriffen und fadenscheinig wie ein zu oft gewaschenes Bettlaken.

    Die Tatsache, dass niemand laut schluchzte, verriet Bert, dass es sich bei dem Toten wahrscheinlich um einen betagten Menschen handelte, für den die Zeit reif war oder um jemanden, der von niemandem geliebt worden war. Seit seinem sechsten Lebensjahr tummelte Bert sich auf dem Friedhof herum, und hörte einfach, wie es in sozialer Hinsicht um den Toten bestellt gewesen war. Es sei denn, die Leute waren wirklich alt und hatten sich in ihren letzten Lebensjahren zu sabbernden, in die Windeln kackenden Hauthüllen verwandelt - so wie Berts Opa. Jenen weinte auch niemand eine Träne nach.

    Bert wünschte sich inständig, ihm bliebe das erniedrigende Altern erspart. Ein schneller, sauberer Tod, wenn er noch alle Sinne beieinander hatte, nebst Kontrolle über seinen Schließmuskel - das strebte er an. Auch wenn das ein kürzeres Leben bedeuten würde.

    Der Pfarrer kam langsam zum Ende, Asche zu Asche und so weiter. Es war immer noch derselbe wie in Berts Kindheit, und an seinen Trauermonologen hatte sich in all den Jahren auch nicht viel geändert. Früher hatte er sich wenigstens noch die Mühe gemacht, Anteilnahme zu heucheln, fand Bert und wischte sich die erdverkrusteten Hände an seinem Blaumann ab, bis sie krümelten. Er stapfte umständlich aus der siebzig Zentimeter tiefen Grube, die einmal ein Grab werden sollte, wobei er sich seiner kräftigen Statur, die ihn bei allen körperlichen Aktivitäten plump erscheinen ließ, schmerzhaft bewusst wurde und jetzt kam noch ein übler Muskelkater dazu. Der jedoch erfüllte ihn mit Genugtuung. Er war mehr als zufrieden mit den Renovierungsarbeiten der letzten Wochen, während derer er sich und den anderen bewiesen hatte, dass sie nicht nur ihm einen Gefallen taten, als sie ihn mit an Bord genommen hatten, sondern dass sie ihn wirklich gebrauchen konnten. Dass ohne ihn ein wesentlicher Bestandteil gefehlt hätte, dass er einer der Grundpfeiler war, auf den die anderen ihren Traum fußen lassen konnten, ohne sich darum zu sorgen, dass er wanken oder einstürzen würde. Er war wichtig.

    „Ich werde nicht hier enden. Nicht wie du", dachte Bert, als er seinen Vater auf dem Boden kniend an einem kleinen Bagger werkeln sah, leise Flüche ausstoßend. Offenbar gelang ihm nicht, was er vorhatte. Neben ihm hockte sein Mitarbeiter, Ulf. Mit seinem sommersprossigen Gesicht, das wie gemeißelt wirkte und den rotblonden Haaren, die in weichen Locken auf seine Schultern fielen, wirkte Ulf seltsam deplatziert in seinem verschmutzten Blaumann - wie ein verirrter Engel. Aber nur solange, bis er den Mund aufmachte und seine vulgäre Art zu sprechen den botticellihaften Eindruck in Sekundenschnelle zerstörte. Wie oft hatten Bert und sein Vater ihm schon geraten, er solle vor den Frauen so tun, als wäre er stumm, aber selbst dazu schien Ulf schlicht zu dämlich zu sein, also wartete er bis heute darauf, die Eine kennenzulernen, die ihn so akzeptierte wie er war. Dumm, gewöhnlich und wunderschön.

    Dabei hatte Bert es selbst schwer beim anderen Geschlecht. Bullig war der Ausdruck, der einem als erstes in den Sinn kam, wenn man ihn sah. Seine durchaus leuchtend blauen Augen standen etwas zu weit auseinander, seine Nase war zu breit und seine vollen Lippen glänzten immer ein wenig ölig. Das Aussehen hatte er von seinem Vater und das war nicht das einzige, das er ihm krumm nahm.

    Ulf grunzte, als Berts Vater ein paar unflätige Scherze vom Stapel ließ, während Bert mit dem Handrücken über seine kurzen, stacheligen Haare fuhr und zu der kleinen Trauergemeinschaft herüber spähte. Greise, um die neunzig, gänzlich in muffiges Schwarz gekleidet, standen sie da in der schiefen, leicht gekrümmten Haltung, als hätten sie alle Schicksalsschläge immer mit derselben Körperhälfte pariert. Sie pressten die Lippen aufeinander, wirkten streng und unnachgiebig und fragten sich wahrscheinlich allesamt, wer von ihnen der Nächste sein würde. Der Pfarrer blickte genervt zum Himmel.

    Die Trauergäste hingegen hielten den Atem an, da der Sarg von den Trägern in das Grab hinabgelassen wurde, doch er verschwand ohne Zwischenfall im Grab und die Trauergäste atmeten weiter.

    Bert sah zu seinem Vater und Ulf herüber und deutete mit dem Kopf auf die Trauergemeinschaft.

    „Weiß jemand, wer der Tote ist?"

    Sein Vater reckte den Hals, um besser sehen zu können.

    „Ich bin nicht ganz sicher, aber ich tippe auf den Typ im Sarg", sagte er und grinste.

    Ulf ließ sein debiles Kichern wie ein Husten klingen, etwas, das Berts Vater ihm beigebracht hatte, aus Gründen der Pietät. Bert verzog unwillig die Mundwinkel. Als er den Spruch das erste Mal gehört hatte, hatte er ihn auch ziemlich witzig gefunden, aber nach all den Jahren, in denen er seinem Vater jetzt schon zur Hand ging, war er nur noch davon angeödet.

    „He, ich brauche einen Freiwilligen für Überstunden. Heute und morgen auch", rief sein Vater laut.

    Bert wich dessen erwartungsvollem Blick aus, und auch Ulf schien wenig begeistert über die Aussicht zu sein, sein Wochenende auf dem Friedhof zu verbringen. Er sah geschäftig zu Boden und murmelte Unverständliches.

    Bert konnte seinem Vater eigentlich nichts abschlagen, da er ihm, für seine Verhältnisse, eine Menge Geld geliehen hatte, damit sein Sohn sich selbst verwirklichen konnte, wie er es genannt hatte. Er hatte tatsächlich diese Worte benutzt und zwar bar jeder Ironie. Bert konnte nur ahnen, was dies für einen Mann wie seinen Vater bedeutete, er hatte ihm ja nicht mal zugetraut, dass er Ausdrücke wie diese überhaupt kannte, und zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Respekt und Dankbarkeit ihm gegenüber empfunden. Das machte fast alle Hänseleien wett, die er seinetwegen im Laufe seiner Kindheit erdulden musste. Aber nur fast. Der Sohn eines Totengräbers zu sein, hatte die Fantasie seiner Mitschüler auf das Schlimmste befeuert und Berts Schulzeit war ein nervenaufreibender Spießrutenlauf gewesen, der erst endete, als sich seine Statur von klein und schmächtig in groß und bullig verwandelt hatte.

    „Ich dachte mir schon, dass ihr euch vor Eifer gegenseitig umbringt", sagte sein Vater lakonisch und erhob sich stöhnend vom Boden.

    Er nestelte an seiner Hosentasche herum und als er gefunden hatte, was er suchte, hielt er es augenzwinkernd in die Höhe. Es war eine Schachtel mit Streichhölzern.

    „Dann müssen wir eben Hölzchen ziehen."

    Bert sah sich bereits Nachtschichten schieben, denn er hatte das Glück selten auf seiner Seite, wenn es darum ging, das Schicksal entscheiden zu lassen. Sein Vater hielt die zwei Hölzchen verdeckt in seiner Hand und streckte sie Ulf entgegen. Sein hübsches Gesicht nahm den hohlen Ausdruck eines Karpfens an, als er bemerkte, dass er den Kürzeren gezogen hatte.

    Bert ließ sein erleichtertes Auflachen wie ein Husten klingen. Auch er war durch die Schule seines Vaters gegangen.

    Eine Viertelstunde später saß er in Papas zerbeultem weißen Kastenwagen, ließ sich den Fahrtwind ins Gesicht wehen und rappte laut zu den Klängen von Bushido mit, während sich Ulf seine Pläne für das Wochenende sonst wohin stecken musste. Bert war in Hochstimmung.

    „Ein gutes Omen", dachte er, schlug mit der Faust den Takt zur Musik aufs Lenkrad und rappte mit.

    Vielleicht mache ich jetzt alles falsch, ich spüre diesen Klumpen in meinem Hals.

    Ich schluck und rede nicht mehr.

    Ich guck und seh dich nicht mehr.

    Ich lass nichts mehr an mich heran, schenk dein Leben einem anderen Mann.

    Steh auf und geh ohne mich.

    Ich frag irgendwann den Wind wo du bist.

    Vinz

    Vincent Nedjad, genannt Vinz, wirbelte gekonnt mit den Messern durch die Luft. Er hatte sein Publikum fest im Griff, die Stamm-Kundschaft im Imbiss seiner Mutter, Bauarbeiter und Handwerker in ihren speckigen Arbeitsklamotten, ein paar Büroangestellte mit Anzug und Krawatte, gehetzte Mütter, die es nicht mehr geschafft hatten, Mittagessen zu kochen - sie alle hingen an seinen Lippen. Das war etwas, das ihn schon in der Schule zu einem der beliebtesten Schüler gemacht hatte - er konnte seine Lehrer betören und, gleichzeitig, seine Mitschüler amüsieren. Seine strohblonden Haare, dazu der gebräunte Teint, den er von seinem verstorbenen Vater geerbt hatte und die großen, dunklen Augen, aus denen pure Energie zu strahlen schien, machten ihn seit jeher unwiderstehlich - für alle. Was für ein Glück das war, hatte Vinz schon sehr früh begriffen. Seine Mutter musste schwer schuften, um sie beide durchzubringen. Ihr Imbiss warf nicht viel ab, gerade genug, dass sie beide davon leben konnten, aber sie hatte sich nie beschwert. Etwas, das Vinz sich von ihr abgeguckt hatte. Einstmals eine Schönheit, war sie vorzeitig verwelkt und sah immer abgekämpft und müde aus. Nur wenn sie ihren Sohn erblickte und unwillkürlich lächelte, war die Frau, die sie einmal gewesen sein musste, noch zu erkennen, dann ging ein Strahlen von ihr aus, das an die satten Farben von Akeleien erinnerte und sie einen schwindligen Moment lang wieder erblühen ließ.

    Ihre Armut und die Tatsache, ohne Vater aufwachsen zu müssen, hätten aus Vinz auch einen bedauernswerten Jungen machen können. Einer, den man lieber meidet, um den eigenen gesellschaftlichen Status nicht zu gefährden. Stattdessen rissen sie sich in der Schule um ihn. Vor allem die Mädchen. Jeder wollte mit ihm befreundet sein. Und wenn doch einmal jemand darüber lästerte, dann zögerte Vinz nicht, stellte ihn zur Rede und wurde, zur Not, auch handgreiflich. Die Lehrer sahen über derlei Prügeleien großzügig hinweg und wer schlau war, hielt die Klappe. Obwohl Vinz die freie Auswahl hatte, war er mit Bert, Tonia und Falco befreundet, seit sie sich in der Grundschule kennengelernt hatten. Vinz hatte viele Bekannte, aber nur diese drei zählte er zu seinen Freunden. Er hatte einige Geschichten mit Mädchen gehabt, aber längst nicht so viele, wie er hätte haben können. Die meisten Gerüchte, die diesbezüglich über ihn kursierten, waren erfunden. Vinz kümmerte das nicht weiter, denn er hatte einen Traum. Ein Ziel, das er verfolgte, seit er elf war. Er wollte sein eigenes Restaurant. Etwas mit Stil. Etwas mit kreativem Anspruch. Und er wollte kochen. Er kochte seit seinem neunten Lebensjahr. Mit Leidenschaft.

    Nach dem Abitur war er der einzige, der einen Plan verfolgte, alle anderen schienen im Nichts zu schwimmen, klebten fest im Sirup des Möglichen und kamen nicht von der Stelle.

    Allein Vinz mietete sich bereits einen Tag nach dem Abschluss ein winzig kleines Zimmer in Köln und klapperte die besten Restaurants der Stadt ab. Da ihm eine Lehre nicht schnell genug ging und er es gewohnt war, zu bekommen, was er wollte, ging er einfach zu den Küchenchefs, bot sich als Mädchen für alles an und wollte dafür nicht bezahlt werden, sondern den Maitres nur ab und zu über die Schulter gucken. Nicht alle Spitzenköche, aber zwei von ihnen ließen sich darauf ein und es dauerte nicht lange, bis Vinz sie um seinen Finger gewickelt hatte, denn er schien immer überall gleichzeitig zu sein - sein Timing war nachgerade unheimlich. Zwischendurch kellnerte er noch in Studentenkneipen, um sein Zimmer bezahlen zu können. Und er lernte. Er saugte alles auf, was er zu sehen bekam und ab und zu ließen sie ihn sogar kochen. Tief beeindruckt von seiner Sensibilität für Gewürze und seinem Gespür für ungewöhnliche Geschmackskombinationen, boten ihm alle beide eine richtige Lehre an. Vinz lehnte alle beide ab.

    Er hatte seinen Plan und von dem wich er nicht ab. Drei Jahre hielt er durch. Drei Jahre schrubbte, ackerte und plagte er sich, dann war er physisch und psychisch am Ende.

    Doch er war ebenso bereit. Die Zeit war reif. Er brauchte nur noch ein paar Mitstreiter und eine davon wohnte immer noch in dem Dorf, in dem sie gemeinsam aufgewachsen waren. Also kehrte er zu seiner Mutter zurück, schlief zwei Tage und Nächte lang durch und ging dann schnurstracks zu Tonia, um mit ihr über seinen Traum zu sprechen. Danach ergab sich alles wie von selbst.

    Es war fast schon zu einfach gewesen.

    Jetzt schnitt Vinz eine Vanilleschote der Länge nach mit einem Kai Shun Allzweckmesser auf, das er manchmal sogar in einer ledernen Scheide bei sich trug, die seine Mutter ihm geschenkt hatte, kratzte mit der stumpfen Seite des Messers das Mark der Vanille heraus und roch genussvoll daran. Der runde, herbe, etwas rauchige Duft durchdrang seine Nasennebenhöhlen wie ein weicher Hochflorteppich.

    „Hmmm. Merkt euch bitte eines, meine Herren: Ein Mann, der nichts von Nachspeisen versteht, hat keine Chance, bei den Ladys zu punkten."

    Mit seiner linken Hand wedelte er sich erneut den Duft der Schote in die Nase.

    „Dieser Geruch haut einen echt um. Wusstet ihr, dass man sich früher mit Vanillemark eingerieben hat, wenn man jemanden verführen wollte. Ein spitzenmäßiges Aphrodisiakum. Ich gestehe, ich hab' s auch mal versucht. Hat allerdings nicht geklappt. Wahrscheinlich habe ich einfach die falschen Körperteile eingerieben."

    Die Männer lachten amüsiert. Vinz ließ seinen Blick über das Interieur schweifen. Ihm war vorher nie wirklich aufgefallen, wie erbärmlich hier alles aussah. Die abgenutzten weißen Stehtische, der Glückspielautomat an der hinteren Wand, der seit anderthalb Jahren kaputt war und keinen Mucks von sich gab, der Mülleimer aus hellblauem Plastik, der sein trauriges Dasein hinter der Theke schon mehr als zehn Jahre fristete und die alte Fritteuse, der Grill - all das war irgendwie traurig. Aber es war penibel sauber, darauf achtete seine Mutter peinlich und das Essen, das sie servierte, war tatsächlich schmackhaft, ihre Frikadellen waren sogar eine Offenbarung, aber das änderte wenig daran, dass es sich um einen primitiven Imbiss handelte, in dem hauptsächlich Pommes Frites verzehrt wurden. Einmal mehr schwor Vinz sich, seiner Mutter einen langen Urlaub der Luxusklasse zu spendieren, sobald er das erste Geld auf dem Konto hätte. Dann würde sie vielleicht endlich den Geruch des Frittenfetts los, der sich in all den Jahren in ihre Haut und Haare hineingefressen hatte und auch durch tägliches Haarewaschen und Duschen nicht weg zu schrubben war. Er wusste, wie sehr sie darunter litt, wie sehr es ihr jeden Tag ihre klägliche Existenz bewusst machte, die sie nur in der Hoffnung ertrug, ihrem Sohn einmal ein besseres Leben bieten zu können. Und er würde den Teufel tun und sie enttäuschen.

    Vinz warf die Vanilleschote nebst ausgekratztem Mark in einen Topf mit Milch und drehte sich herum, um aus dem kleinen Backofen hinter sich ein goldbraunes, knuspriges, perfekt aussehendes Brathähnchen zu ziehen, dessen buttriger, würziger Geruch für einen Moment die fettgeschwängerte, heiße Luft des Imbiss überlagerte und sie auf einfache Art verfeinerte.

    „Guckt euch das an! Ich mache euch einen Vorschlag: Jeder hier darf probieren, umsonst, aber wenn's euch schmeckt, dann will ich euch jeden Abend in meinem Restaurant sehen!"

    Er erntete beifälliges Gemurmel und begann das Hähnchen auf Plastikteller zu verteilen.

    „He, he! Finger weg von meiner Kundschaft!" rief seine Mutter scherzhaft stibitze sich ein Stück weißes Fleisch vom Hähnchen und steckte es sich genüsslich in den Mund.

    Als sie strahlte, wusste Vinz, dass es gelungen war. Seine Mutter war schon immer seine schärfste Kritikerin und seine erste Lehrmeisterin in der Küche gewesen. Sie wusste weit mehr über die hohe Kunst des Kochens als es den Anschein hatte. Auch sie hätte es zur Spitzenköchin bringen können, wenn die Dinge in ihrem Leben anders gelaufen wären.

    Waren sie aber nicht.

    Ein Geräusch lockte Vinz' Blick durch das Fenster auf vier Teenager, die draußen den Plastikpinguin mit der Menükarte vor dem Imbiss traten und boxten. Offensichtlich ganz erpicht darauf, einander zu zeigen, wie cool und furchtlos sie waren. Vinz klopfte heftig an die Scheibe und die vier guckten, im ersten Moment erschrocken, zu ihm auf. Dabei verwandelten sich ihre Gesichter, eben noch Spiegelbilder von Renitenz und Provokation, in die von vier kleinen Kindern, die mit großen Augen und offenen Mündern beim Naschen von verbotener Schokolade erwischt worden waren. Doch der Schreck währte nicht lange. Vinz verscheuchte sie mit einer energischen Geste und die vier Teenager zeigten ihm unisono den Mittelfinger. Besonders ein Mädchen mit langen blonden Haaren, Stupsnase, Zahnlücke und einer roten Kappe schien wenig beeindruckt von Vinz' Autorität. Ihre drei Freunde zogen sie sie schließlich mit sich fort.

    Einer der Gäste, ein Bauarbeiter mit Schmerbauch und kunstvollem Schnäuzer, ließ unterdessen Unmengen an Salz über das Hähnchen rieseln.

    „Helmut, was zum Henker machst du denn da? So schmeckst du doch gar nichts mehr!" entfuhr es Vinz.

    Helmut zuckte nur die Achseln und stopfte sich dann das Hähnchen in den Mund.

    „Marlene, ich brauch hier dringend noch was Ketchup!" brummte er an Vinz' Mutter gewandt.

    Vinz entgleisten die Gesichtszüge.

    „War nur 'n Spaß, Kleiner. Ist lecker! Wirklich richtig gut."

    „Hast du auch nur einen Moment daran gezweifelt, dass es perfekt ist?" fragte Marlene ihren Sohn lächelnd.

    Vinz legte scherzeshalber seine Hände um den massigen Hals Helmuts und tat so, als würgte er ihn. Der machte den Spaß mit, verdrehte die Augen und streckte die Zunge heraus. In dem Moment betrat Falco den Imbiss, die Tasche mit der Videokamera in Händen. Er begrüßte Marlene höflich und nickte Vinz dann zu, der sich sofort die Schürze vom Leib zerrte, seiner Mutter einen Kuss auf die Wange drückte und zusammen mit Falco den Imbiss verließ.

    Draußen empfing die beiden die vibrierend frische Luft des Frühsommers. Riesige Wolkenfetzen

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