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Going Underground: Willkommen im toten Graz
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eBook374 Seiten4 Stunden

Going Underground: Willkommen im toten Graz

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Über dieses E-Book

Als Robert Ziegenstätter eines Tages recht unverhofft in der Grazer Herrengasse von einem herabstürzenden Klavier erschlagen wird, muss er feststellen, dass es entgegen anderweitiger Meinungen durchaus ein Leben danach gibt. Kurze Zeit später wird er auch schon von der hübschen und unkonventionellen Esther als neuer Mitarbeiter für das Dezernat für unautorisierte Flucht- und Gewaltdelikte im Grazer Jenseits rekrutiert. Anstatt wie früher faule Eier auf Polizisten zu schmeißen, findet er sich nun selbst in den Reihen der Exekutive wieder, und wird auch umgehend in einen Kriminalfall von äußerst bedrohlichen Ausmaßen verwickelt. Was als Alarmmeldung im transzentmographischen Störungscenter beginnt, entpuppt sich bald als groß angelegte Verschwörung eines ominösen Geheimbundes von noch ominöseren Robenträgern. Als diese versuchen, zwei mystische Artefakte zu klauen, um durch deren Zusammenführung gottgleiche Macht zu erlangen, beginnt auch die Allmächtige ordentlich Druck auf das Dezernat auszuüben. Angetrieben von ihrem Chef, dem Dezernatsleiter Ferdinand von Krafft-Ebing, machen sich Esther, Robert und der klägliche Rest der ständig unterbesetzten Abteilung auf die Suche nach den Verschwörern, die weder im Jenseits noch im Diesseits Skrupel haben, über Leichen zu gehen. Doch nicht nur Korruption und Politik verkomplizieren dabei die Ermittlungen des Teams, sondern auch die liberale Drogengesetzgebung des toten Graz, die laufende Fußballsaison, und die äußerst unprofessionellen Gefühle, welche Robert für seine attraktive Partnerin hegt. Zwischen Liebe, Punkrock und Polizeiarbeit läuft alles darauf hinaus, dass es schon bald zu einem finalen Show Down kommen wird.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum23. Feb. 2019
ISBN9783742704269
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    Buchvorschau

    Going Underground - Martin Murpott

    1

    Auch in einer Wirklichkeit, die kein Sterblicher sehen kann und darf, bevor er nicht zumindest einmal das Zeitliche gesegnet hat, gaben sich deren Bewohner so etwas Profanem wie einer guten Flasche Whiskey, einer Zigarre und einem berufsbedingten Gespräch hin. Und ebenso fanden auch dort derlei Gespräche für gewöhnlich in einem Besprechungszimmer statt. In diesem Falle war selbiges dem großen Klubsitzungssaal der österreichischen Volkspartei nachempfunden und befand sich im neunten Stockwerk der Polizeiwache in Dead Lend. Statt einem Dollfuß-Porträt hing allerdings ein Porträt des lokalen Leibhaftigen an der Wand, was für Ferdinand von Krafft-Ebing als Sozialisten der ersten Stunde kaum einen Unterschied machte. Krafft-Ebing, seines Zeichens Dezernatsleiter für unautorisierte Gewalt- und Fluchtdelikte im Grazer Jenseits und gleichermaßen mit ausreichend Macht sowie Befugnissen legitimiert, schenkte sich erneut nach.

    >>Ich brauch für diese Abteilung zumindest drei neue Mitarbeiter! Jetzt stell dich nicht so an, Chef... Immer ist irgendwer krank, im Urlaub oder versteckt sich irgendwo im Treppenhaus.<<

    Sein Gegenüber sah den blondhaarigen dicken Mann an, der wie eine nordische Version vom alten und bereits fetten Marlon Brando aussah, und schüttelte den Kopf.

    >>Du kennst die Regeln, nur Menschen, die eines unnatürlichen Todes und vor ihrer Zeit gestorben sind, dürfen rekrutiert werden.<<

    Dem Dezernatsleiter war dieses Grundproblem des polizeilichen Personalwesens natürlich bestens bekannt, aber es konnte ja nicht zuviel verlangt sein, gegebenenfalls ein wenig zu improvisieren. Immerhin näherte sich die Aufklärungsrate der unautorisierten Gewaltverbrechen schon fast der Frauenquote im Grazer Franziskanerkloster an. Dann auch noch diese eigenartige Alarmmeldung aus dem transzentmographischen Störungscenter von letzter Woche. Es half nichts, er brauchte definitiv mehr Leute.

    >> Wie wollen wir Freund und Helfer sein, wenn noch nicht einmal genügend Beamte da sind, um ans Telefon zu gehen? Wir müssen auch ein wenig an unseren Ruf denken, der ja sowieso noch nie der beste war...<<

    Ferdinand von Krafft-Ebing hatte nie von seiner modellierenden Macht, die ihm Aufgrund seines Ranges ohnehin zustand, Gebrauch gemacht, und sah immer noch so aus wie an jenem Tag, als er besoffen von seinem Polizeipferd fiel. Im Gegensatz dazu hatte Ignaz Rosegger von vornherein die Möglichkeit genutzt, sich als sein jüngeres, besseres und schlankeres Ich im Jenseits erneut zu materialisieren. Gleich wie Krafft-Ebing war Rosegger zu seinen Lebzeiten im Polizeidienst verankert gewesen, allerdings schon 150 Jahre früher und nicht wie Krafft-Ebing in der k. k. Gendarmerie. Während Krafft-Ebing im Laufe seiner hundertzweijährigen Karriere im Wachkorps des toten Graz einen ziemlichen liberalen Wandel hingelegt hatte, galt für seinen direkten Vorgesetzen Rosegger immer noch das Motto Schlagen statt Fragen. Diese Einstellung unterschied sich genauer betrachtet nicht grundlegend von derer vieler anderer Polizisten des diesseitigen Graz im Jahre 2014.

    >>Aber Chef, du kennst doch die ganzen Leute, die vor ihrer Zeit sterben, da ist selten was Brauchbares dabei. Leider kommt es inzwischen relativ selten vor, dass ein guter Polizist im Dienst stirbt. Wir sind halt nun einmal kein mexikanischer Grenzort, und in einem Francis Ford Coppola-Film sind wir auch nicht.<< Rosegger dämpfte seine Zigarre im marmornen Aschenbecher aus, der neben ihm auf dem hölzernen Abstelltisch stand, rückte sich seine schwarze Krawatte zurecht und ließ eine demonstrative Denkpause folgen. Selbstverständlich hätte er sich diesen dramaturgischen Kniff sparen können, denn seine Antwort stand bereits vor dem Ausdämpfen der Zigarre fest, doch Rosegger legte Wert darauf, nie den Eindruck zu erwecken, er würde unüberlegte Entscheidungen treffen.

    >>Ich habe NEIN gesagt, Ferdl. Entweder er stirbt unnatürlich oder er ist kein Fall für unsere Institution.<<

    Krafft-Ebing fragte sich, wie viele dieser verdammten schwarzen Krawatten, passend zum weißen Hemd und dem schwarzen Anzug seines Chefs wohl auf dessen verdammten Krawattenständer hängen mussten, nachdem er ihn seit 50 Jahren in nichts anderem mehr herum rennen gesehen hatte. Der Anzug in Kombination mit den zurückfrisierten schwarzen Haaren, dem kantigen und stets frisch rasierten Gesicht und den kalten blauen Augen verliehen ihrem Träger die permanente Aura eines Beerdigungsunternehmers, der sich seine Kundschaft notfalls selbst beschafft. Und genau darin lag auch Krafft-Ebings Hoffnung.

    >>Und wenn du ein bisschen nachhilfst, Chef? Ich meine theoretisch könntest du ja deine Kontakte und Beziehungen spielen lassen.<<

    >>Das kann mich meinen Job kosten Ferdl, vor allem wenn die Allmächtige das Spitz kriegt.<<

    >>Solange jeder von uns dichthält, muss sie es ja nie erfahren<<, sagte Krafft-Ebing mit dem schelmischen Grinsen eines alten dicken Mannes, auch wenn diese Hoffnung angesichts der Bedeutung des Wortes allmächtig äußerst naiv erschien. Dann griff er nach der ebenfalls auf dem Abstelltisch stehenden Whiskeyflasche und dem dazugehörigen Glas des Chefs und schenkte diesem und sich selbst noch einmal kräftig nach. Hätte Krafft-Ebing geahnt, dass es vier weiterer Gläser bedurfte, um Rosegger ein Meinetwegen, aber nur einer abzuringen, hätte er wohl das eine oder andere Glas Wasser dazu getrunken. So waren die fürchterlichen Kopfschmerzen, von denen man auch im Jenseits nicht gefeit ist, der gerechte Preis dafür, dass er seinen Willen - wenn auch mit Einschränkungen - bekam. Der Deal sah so aus, dass es sich bei dem nachgeholfenen Sterbenden um keinen wie auch immer gearteten Exekutivbeamten handeln durfte. Dafür musste es jemanden sein, der keinen sonderlich entscheidenden Auftrag im Leben hatte und auch auf dem Arbeitsmarkt des diesseitigen Graz keinen wirklichen Verlust darstellen würde. Die endgültige Entscheidung darüber traf natürlich der Chef persönlich.

    2

    Unter den zuvor genannten Deal dürften in der Studentenstadt Graz personell wohl insgesamt sehr sehr viele Absolventen der Sozial-, Geistes-, oder Erziehungswissenschaften fallen. Manchmal hatte man wirklich das Gefühl, als läge die Last des gesamten, chronisch unterbezahlten, linksliberalen Berufshelfertums von Südösterreich auf den angeknacksten Schultern der 290 000 Einwohner zählenden Murmetropole. Warum da die Wahl ausgerechnet auf den 33-Jährigen Soziologen Robert Ziegenstätter fiel, würde wohl für immer ein Geheimnis des Chefs bleiben. Vielleicht lag es daran, dass Robert vor Beginn seines Studiums auch eine Zeitlang in der Sozialpädagogik tätig war. Im weiteren Sinne zumindest. Rosegger hasste die Sozialpädagogen, egal wie weit sie gesinnt oder besser gesagt ausgebildet waren. Er empfand sie als vollkommen nutzlos. Die einzige Pädagogik, die er selbst als akzeptabel empfand, lag in einer täglichen Tracht Prügel, bei der man auch gerne mal den eigenen Ledergürtel zu Hilfe nehmen durfte. Abgesehen davon absolvierte Robert vor seiner pädagogischen und akademischen Karriere auch eine Lehre in einem obersteirischen Stahlwerk, dessen Ambiente gleich düster und dreckig erschien, wie Teile des jenseitigen Graz. So war zumindest nicht zu erwarten, dass ein optischer Kulturschock Robert in seiner zukünftigen Aufgabe behindern würde, auch wenn Robert von dieser Analogie - hätte er sie geahnt - wohl nicht so begeistert gewesen wäre. Der Gedanke, jemals wieder in einem obersteirischen Stahlwerk arbeiten zu müssen, erschien ihm so dermaßen abwegig, dass er noch nicht einmal auf die Idee kam, ihn zu Denken. Sollte Robert in seiner Aufgabe trotzdem vollends versagen oder dabei sogar zu erfolgreich sein, dann konnte ihn der Chef zumindest immer noch zur Arbeit in einem x-beliebigen Säuferlokal zwingen. Auch in diesem Milieu sammelte Robert während seines Studiums eher ein Weniger als ein Mehr an zweckdienlichen Erfahrungen.

    So trug also Robert - nichts ahnend von seinem ihn bald ereilenden Schicksal - in der Grazer Herrengasse seinen unlängst neu gekauften MP3-Player spazieren. Unbewusst zum synkopierten 2/4-Takt von Jimmy Jazz am Nasenring herumpopelnd, philosophierte er dabei mit sich selbst über die heute stattgefundene Entscheidung, eine Lederjacke zu tragen.

    Der Frühling hatte vor Kurzem begonnen, und somit war es gerade die einzige Jahreszeit, in der es der Klimawandel noch zuließ, dass man mit eben einer solchen Lederjacke durch die Gegend zog, ohne dass man sich zu Tode fror oder wahlweise schwitzte. Als ehemaliger jugendlicher Vorzeigepunker hatte Robert sie früher selbst im Winter regelmäßig getragen, doch für subkulturelle Verhältnisse war er in den letzten Jahren relativ erwachsen geworden. Selbst seine bunt gefärbten Haare und zerrissenen Jeans gehörten inzwischen der Vergangenheit an. Nebenbei genoss er die Vorzüge die es hatte, wenn man nicht dauernd unter einer Verkühlung litt, weil man bei fünf Grad Minus sein Oberteil nicht zumachen konnte.

    >>Megaphon, Megaphon! Willst du kaufen, ist neu?<<

    Ein einfaches >>Ja<< auf die Frage des freundlich grinsenden schwarzafrikanischen Straßenzeitungsverkäufers hätte den Ablauf der Ereignisse zumindest um so viele Sekunden verzögert, dass das vom Chef inszenierte Ableben von Robert am Timing gescheitert wäre. Doch in dieser Hinsicht war der Straßenverkäufer für Rosegger durchaus nicht zum Spielverderber geworden, da Robert wie immer sein letztes Kleingeld für seinen obligatorischen Nachmittagskaffee im Cafe Centraal ausgegeben hatte. Auch in einer anderen Hinsicht hatte der Chef richtig spekuliert und wurde diesmal von Robert selbst nicht enttäuscht. Die Musik, welche aus den Kopfhörern seines MP3-Players kam, hätte auch etwas von Bob Dylan sein können und zwar auf einem bei Weitem niedrigeren Pegel, als es The Clash gerade taten. So aber hörte er die vorläufig letzten Worte seines dreiunddreißigjährigen Lebens nicht mehr, die aus einem lapidaren Scheiße! Vorsicht da unten! bestanden. Robert nahm folglich das bis dato einzige Klavier, das jemals per Flaschenzug aus dem vierten Stock eines Hauses in der Herrengasse gehievt worden war, erst relativ spät wahr. Besser gesagt, nahm er es erst wahr, als der am Boden entstehende Schatten dann doch fast seinen Zenit erreicht hatte. Zusätzlich entfaltete der ebenso obligatorische Pre-Centraal-Joint, den er zuvor in seiner ehemaligen Pärchenwohnung in der Griesgasse 12 geraucht hatte, gerade seine volle Wirkung. Seiner Reaktionsfähigkeit beraubt, wurde Robert so also buchstäblich von 184cm Körpergröße in der Vertikalen auf 184cm Körpergröße in der Horizontalen umgelegt. Das Klavier war schwarz, wog 345kg, und hatte als Markennamen Going Underground auf dem Gehäuse stehen.

    3

    Der dunkle Schleier vor Roberts Augen lichtete sich nur sehr langsam, was vor allem auch damit zu tun hatte, dass er mit dem Gesicht nach unten auf dem für diese Jahreszeit unglaublich warmen Asphalt der Herrengasse lag. Als die gelben Sterne welche um seinen Kopf schwirrten, allmählich verschwanden und er es schaffte, sich zuerst auf die Knie und dann auf die Füße zu stemmen, wäre er vor Schreck fast wieder auf die Fresse geflogen. Robert befand sich nach wie vor in der Herrengasse, allerdings war diese dreimal so breit wie zuvor, der Beton war brüchig und überall waren Straßenlöcher mit Teer aufgefüllt worden. Rund um ihn und sowieso überall gab es ein Gewirr von mal mehr, mal weniger abgewrackten Passanten, die in beide Richtungen strömten, ohne sich auch nur einen Dreck um ihn zu kümmern. Statt der ursprünglichen ihm bekannten zwei Straßenbahngleise gab es insgesamt fünf, wobei gerade eine gut 100 Meter lange und vollkommen verrostete Straßenbahngarnitur vorbeifuhr. Sie war voll gestopft mit Fußballfans des GAK und des SK Sturm, welche sich alle zusammen mit unglaublicher Freude quer durch die Wagons prügelten. Robert blickte mit weit aufgerissenen Augen der im Schritttempo fahrenden Straßenbahn nach, welche auch keinen Fahrer zu haben schien. Die Länge der Herrengasse dürfte sich offensichtlich ebenfalls vervielfacht haben, sodass ein Ende der Straße mit freiem Auge, zumindest wenn man keine Brille aufhatte, definitiv nicht erkennbar war. Besagte Bim war nämlich in Richtung Jakominiplatz unterwegs, welcher sich normalerweise von dieser Position aus auch im Weitblickfeld eines brillenlosen Roberts befand. Dass er eine Brille trug, war allerdings ohnehin nur selten der Fall, denn Robert unterlag einer gewissen Eitelkeit. Er benutzte seine Gläser hauptsächlich während des Autofahrens, beim Fernsehen, im Fußballstadion und wenn er sich am PC einen Porno anguckte. Eine weitere Straßenbahn, die mindestens gleich lang wie die erste war, kam selbiger entgegen. Sie wurde von gut einem Dutzend schwarz angezogener und schwarz bemalter Menschen gezogen. Auch was Robert sonst noch sah, ließ ihm die dreitagesbebartete Kauleiste fast bis zum Brustbein hinunter klappen. Links und rechts ragten bis zum Horizont unerwartet hohe Häuserschluchten auf, welche einen kruden architektonischen Stilmix aus renovierungsbedürftigen bürgerlichen Altbauten und verrottenden Sozialwohnburgen im siebziger Jahre - Stil bildeten. Das was den eigentlich grauen Hausfassaden an Farbe fehlte, wurde durch unzählige Graffitis, Leuchtreklamen und den unterschiedlichsten Werbeplakaten wettgemacht, die im Regelfall aber mit den Farben rot und schwarz auszukommen schienen und auf die unzähligen sich in der Herrengasse befindlichen Geschäfte, Pubs und Wirtshäuser hinwiesen. Einzig das Gebäude, vor dem er nur kurze Zeit zuvor von einem Klavier erschlagen wurde, schien leer zu stehen. Sämtliche Fenster und Türen waren mit Brettern zugenagelt und mehrere beschriftete Warnstangen wiesen darauf hin, dass hier auch im Frühjahr noch Lawinen und Musikinstrumente vom Dach fallen konnten. Zwischen den wohl zum Teil zwanzigstöckigen Gebäuden auf beiden Seiten waren immer wieder Seile von Fenster zu Fenster gespannt, auf denen hauptsächlich Wäsche, Fahnen und Lampions, aber zum Entsetzen Roberts ab und an auch menschliche Gliedmaßen aufgehängt waren. Der darüber liegende Himmel sah aus, als würden weder Sonne, Mond noch Sterne existieren und trotzdem war es nicht dunkel. Viel eher hatte es eine Helligkeit, die einem das Gefühl gab, als wäre gerade eben eine Atombombenexplosion am Abklingen. Die Luft knisterte, ohne Geräusche von sich zu geben. Sie war weder feucht noch trocken. Auch befand sich Robert in einem Zwiespalt darüber, ob es gerade saukalt oder schweinewarm war. Manche der Menschen, die an ihm vorbeigingen, hatten einen Schirm aufgespannt und interessanterweise regnete es auch nur über diesen, während andere trotz Sonnenhut einen mordsmäßigen Sonnenbrand aus dem Gesicht leuchten hatten. Robert war eigentlich kein Mensch, der ständig mit sich selbst zu reden pflegte, doch nachdem er zumindest einen Bruchteil seiner restlos verlorengegangenen Fassung wieder gewonnen hatte, platzte es schließlich aus ihm raus.

    >>Was zur Hölle ist hier eigentlich…<<

    >>So ungefähr<<, sagte die blonde, schlanke und großgewachsene Frau, welche fast wie aus dem Nichts kommend - dafür aber wie aufs Stichwort bestellt - plötzlich neben Robert stand, >>es ist nur nicht ganz so einfach wie man glauben möchte.<<

    >>Und wer zum Teufel bist…<<

    >>Der wäre ich gerne, aber auch diesbezüglich ist es ein wenig komplizierter als der einfache Mensch zu denken vermag<<, sagte sie und strecke Robert die Hand zum Gruße hin. >>Braun, Esther Braun, Bezirksinspektorin. Ich bin hier, um dich zu empfangen und ins Büro meines Bosses, den Dezernatsleiter für unautorisierte Gewalt- und Fluchtdelikte zu bringen. Willkommen im toten Graz!<<

    4

    Auch wenn das tote Graz entgegen Roberts erster Annahme weder am Feinstaub noch an seiner Langeweile gestorben war, so warf die neue Umgebung dennoch einige Fragen auf. Zur Beantwortung dieser führte Esther den immer noch völlig perplexen Robert entgegen ihres ursprünglichen Auftrages erst einmal über eine der zahlreichen Seitengassen, die von der Herrengasse abzweigten, in ein etwas ruhigeres Gefilde der toten Grazer Innenstadt. Nach ungefähr zehn Minuten Fußmarsch landeten Esther und Robert am ebenfalls im Zentrum gelegenen Glockenspielplatz. Selbiger war ebenso um ein Vielfaches größer als sein Pendant im Diesseits, war aber um einiges weniger stark frequentiert als die Herrengasse, wenn auch nicht wesentlich ästhetischer.

    Seinen Namen hatte der Glockenspielplatz zumindest im diesseitigen Graz deswegen, weil sich im Giebel des Hauses mit Platznummer 4 dreimal täglich ein Fenster öffnete und ein aus Holz geschnitztes Tracht tragendes Mädel und ein dazugehöriger Trachtenbursche zum Vorschein kamen und sich im Kreise drehten. Dazu erklang irgendeine Melodie, die von irgendwelchen Glocken gespielt wurde. Im Jenseits schien das Uhrspiel ebenfalls zu funktionieren. Es musste gerade 18:00 Uhr geworden sein, denn das Fenster ging auf und es kamen zwei Figuren ans Tageslicht, sofern man dieses überhaupt Tageslicht nennen konnte. Der Unterschied lag im sehr aufdringlichen Detail. Statt der Glocken erklang irgendwo im Hintergrund ein Schlagzeug mit Doublebass und nur das Mädel war in sein traditionelles steirisches Dirndl gehüllt, zusätzlich aber mit einer Art Hammer bewaffnet. Der Bursche trug statt seiner Lederhose einen Anzug, hielt eine Aktentasche in der linken Hand und bekam in den folgenden dreißig Sekunden das Schlagwerkzeug im Viervierteltakt auf den rechten Fuß gedroschen. Unter dem Fenster war ein Transparent gespannt auf dem Lieber unsere Jugend besetzt fremde Häuser, als fremde Länder - AFA zu lesen war.

    >>Ist nicht mehr im öffentlichen Besitz, sondern von antipazifistischen feministischen Autonomen besetzt. Ehemalige Touristenattraktionen zu besetzen, ist hier so 'ne Art Volkssport, weil es keine Polizeieinheiten gibt, die selbige wieder räumen würden<<, sagte Esther beiläufig. Ohne sich großartig um Roberts anhaltende Verwirrung zu kümmern, steuerte sie ein am Platz gelegenes Pub mit dem Namen Broken Bones an, welches wider Erwarten eine durchaus angenehme Atmosphäre bot. Von der Einrichtung her orientierte es sich an den klassischen irischen Pubs, in welchen Robert noch bis vor kurzem mehr Zeit verbracht hatte, als es seiner Leber gut tat.

    Das Pub bot Platz für ungefähr 70-80 Leute und war mehr oder weniger gut gefüllt. Esther wählte einen kleinen runden Tisch im hintersten Winkel des für Robert etwas zu klischeebeladenen irischen Lokals. Nachdem sie einem ebenso klischeebeladenen und hinter der Bar lümmelnden Kellner >>Zwei Krügerl bitte!<< zugerufen hatte, setzte sie sich auf einen mit rotem Leder bezogen Holzsessel. Das Nächste, was Esther relativ kommentarlos tat war, dass sie zuerst einmal extralanges Zigarettenpapier, Tabak und ein kleines, rotes, metallenes Blechdöschen aus ihrer roten Stoffhandtasche herausfischte. Rot schien wohl im jenseitigen Graz nicht nur äußerst populär zu sein, sondern generell die einzig vorhandene Komplementärfarbe. Robert ließ sich gegenüber von ihr in einen Sessel fallen und beobachtete sie dabei, wie sie völlig ungeniert begann, ein Gerät zu bauen. Auch wenn er sich immer noch nicht ganz im Klaren war, was hier eigentlich los war, beruhigte es ihn unheimlich, dass es in dieser absonderlichen Welt scheinbar nicht nur Bier gab, sondern auch relativ liberale Drogengesetze. Der Kellner, der als vermeintlicher Ire einen komisch anmutenden grün karierten Schottenrock trug, sich von einem roten Rauschebart das wettergegerbte Gesicht schmücken ließ und interessanterweise auf den Namen Sepp hörte, stellte zwei Krüge mit einem Lagerbier unbekannter Herkunft auf den Tisch. Dann schüttelte er sein langes gewelltes Haar auf, dessen frisurtechnische Gestaltung wohl den Haarschneideunterlagen von Mel Gibsons Rolle in Braveheart geschuldet war, und begann mit erwartungsgemäß akzentbehafteter Stimme zu sprechen. >>Grüße Esther! Und grüße wer auch immer du bist. Musst wohl der langerwartete neue Arbeitskollege sein, denn mit einem Stecher lässt sich die gute Esther so gut wie nie hier blicken. Ich bin jedenfalls der Sepp und besitze den ganzen Laden hier, also benimm dich sonst gibt’s einen Tritt in den Arsch. Cheers!<<

    >>Neuer Arbeitskollege?<<, fragte Robert mit gerunzelter Stirn und ungläubigen Gesichtsausdruck, nachdem der Besitzer genauso schnell wieder hinter der Bar verschwand, wie er gekommen war. Esther schob einen der zwei Krüge zu Robert hin, zündete den Joint an, und reichte auch diesen an ihren Gegenüber.

    >>Du trinkst jetzt erst einmal ein paar Schluck, nimmst ein paar Züge, und dann werden wir über alles, was mir auf die Schnelle einfällt und was von Relevanz ist, quatschen.<< Robert setzte vor allem den ersten Teil von Esthers geplantem Programm ohne weiteren Kommentar in die Tat um.

    Nach den ersten paar Schluck des herb schmeckenden No-Name-Bieres, das wie eine Art wundersames Lebenselixier durch seinen ganzen Körper strömte, und der eingehenden mehrmaligen Inhalation überstarken Marihuanas, ließ bei Robert erst einmal alles aus. Irgendwie fühlte er sich gleich einmal körperlich schwer sediert, aber trotzdem noch konzentrationsfähig. >>Geiles Zeug<<, dachte er sich, lehnte sich mit ausgestreckten Füßen zurück und sah Esther zum ersten Mal, seit sie sich ihm vorgestellt hatte, etwas genauer an. Robert hatte einmal in einer Boulevardzeitung gelesen, dass Männer an die zwanzigmal pro Tag an Sex denken und genau so ein Tageszeitpunkt hatte sich gerade eingestellt, denn Esther war hübsch und zwar so richtig. Sie war keine perfekte Hochglanzmagazin-Schönheit, und obwohl großgewachsen, auch kein steriler Model-Typ. Aber sie hatte Ausstrahlung, weibliche Rundungen sowie ein interessantes Gesicht, welches durch einen silbernen Nasenring noch zusätzlich betont wurde. Ihre unglaublich tiefen braunen Augen passten wie angegossen zu ihrem offenen und leicht gewellten schulterlangen hellblonden Haar. Die Form ihrer Brüste konnte er klarerweise nur erahnen, da sie unter einem etwas zu weitem ärmellosen Girlie-Shirt der Band Sonic Youth verborgen lagen. Wenn sie nur halb so gut waren, wie die ersten Alben der Band, dann wusste er jetzt schon, dass er sie gerne einmal anfassen würde. Sie war alternativ, irgendwie Achtzigerjahre-Style, und er schätzte sie auf maximal fünfundzwanzig. Sie trug einen schwarzen Minirock und darunter – wie konnte es anders sein – rote Leggings, die in achtlöchrigen ausgewetzten Doc Martens verschwanden. Auch diese Körperregion ließ viel Platz für seine sexuellen Fantasien, die relativ bald zugunsten von Interesse, Verwunderung, Entsetzen und Erstaunen verblassen würden. Denn Bezirksinspektorin Esther Braun begann erst einmal damit, Robert vor vollendete Tatsachen zu stellen, bevor sie ihm zwei Stunden, drei große Biere und drei Tüten lang eine kleine Einführung über das Jenseits und das Grazer Jenseits im Speziellen gab.

    Was sich Robert insgeheim schon fast gedacht hatte, wurde ihm von Esther bestätigt. Prinzipiell war er tot, denn im Regelfall überlebt kaum jemand die Auswirkung eines Konzertflügels, der einem aus gut fünfzehn Metern auf die Birne donnert. Auch seine Annahme, dass er sich an einem Ort befand, der dem durchschnittlichen Lebenden nicht als Tourismusziel angeboten wurde, stellte sich relativ bald als wahr heraus. Und doch hatte er sich das Jenseits etwas anders vorgestellt. Das tote Graz war nur eine von vielen, aber durchaus miteinander verbundenen, jenseitigen lokalen Welten, auch wenn es keinen nennenswerten oder notwendigen überregionalen Austausch gab, sofern man von Verwandtenbesuchen absah. In weiterer Folge stelle das tote Graz einen Bestandteil der jenseitigen Steiermark dar, die wiederum Bestandteil des jenseitigen Österreichs war, das – welch' Überraschung – Bestandteil des jenseitigen Europas war. Das Ganze konnte insofern aber als belanglos betrachtet werden, da das tote Graz, wie die meisten anderen jenseitigen Welten, durchaus autonom verwaltet wurde und übergeordneten Konstrukten wie Land, Staat oder irgendwelchen internationalen Bünden kaum Rechenschaft schuldig war. Die Zeit in der jenseitigen Welt lief parallel zur Zeit im Diesseits, also auch hier schrieb man das Jahr 2014. Das tote Graz selbst hatte seine Ursprünge bereits in der römischen Kaiserzeit im ersten Jahrhundert nach Christus, als sich hier die ersten Bauern niederließen und irgendwie im Hinterkopf hatten, dass das Leben nach dem Tod weitergehen könnte. Angeblich war dem ersten in Graz gestorbenen Bauern nach seinem Ableben für ein paar Wochen unglaublich langweilig, bis ihm dann seine Frau folgte und er sich die Ruhe zurückwünschte. Letztendlich blieben sie jedoch trotzdem ein Paar, da sich Yolo der Viehzüchter schlichtweg als zu unfähig erwies, alleine einen Haushalt zu führen, und Ida ihn ja doch irgendwie mochte, ihren unrasierten Brummbären. Außerdem kam in den Hochzeitszeremonien der ersten Siedler auch noch nicht der Satz „Bis dass der Tod uns scheidet" vor, womit dieses Argument ebenso flach fiel.

    >>Schau Robert, die Sache ist doch ganz einfach. In dem Moment, wo die Menschen begonnen haben, an eine Existenz danach zu glauben, kam diese auch zu Stande. Hat wohl irgendwann vor 125 000 Jahren in Südostanatolien angefangen, aber ich bin da geschichtlich nur bedingt bewandert.<<

    Robert hatte beim Zuhören inzwischen jenen Blick angenommen, den ein indigener Urwaldbewohner in Südamerika an den Tag legt, wenn er zum ersten Mal ein Flugzeug über den Dschungel fliegen sieht.

    >>Ja aber, ich meine, wieso…<<

    Esther betrachtete eingehend den Inhalt ihres halbvollen Glases, bevor sie weiterredete. Als grenzenlose Optimistin war ihr Glas nie halb leer. Negative Perspektiven begannen sich bei Esther meist erst dann zu entwickeln, wenn im Broken Bones die letzte Bestellrunde angekündigt wurde.

    >>Wie ich feststellen muss, fehlen dir wohl auch die Basics, aber es sei dir verziehen, immerhin bist du ja ein Frischling...<<

    >>Dann klär mich endlich auf!<<

    Genau das versuchte sie dann auch, jedenfalls so weit sie es konnte. Es war völlig unwahrscheinlich, dass es jemals einen Menschen geben würde, der das tote und lebende Universum in seinem vollen Umfang verstehen konnte.

    Verantwortlich für das Zustandekommen eines Jenseits generell, beziehungsweise der jeweiligen lokalen Ausprägungen, war eine Materie, deren Entdeckung durch weltliche Wissenschaftler in absehbarer Zukunft unwahrscheinlicher war, als ein WM-Sieg der Österreichischen Fußballnationalmannschaft. In den jenseitigen Welten wusste man jedoch, dass diese Materie ungefähr 23% des Universums ausfüllte und unter dem Namen Imagen bekannt war. Für was das Imagen sonst noch alles zuständig war, konnte man auch hier nicht mit Bestimmtheit sagen. Fest stand jedoch, dass es vor Urzeiten jenen Prozess in Gang gesetzt hatte, der dazu führte, dass die transzendenten Vorstellungen der Menschheit über Gott und die Welt im Jenseits feste Gestalt annahmen. Allerdings fungierte Imagen gleichzeitig auch als übergeordnete regulierende Kraft, die dem Jenseits eine gewisse Logik verlieh und der Gestaltung des selbigen gewisse Grenzen setze. Das Imagen ließ es also folglich nicht zu, dass Robert nun an einem Ort „lebte", an dem vollbärtige Terroristen siebzehnjährige Jungfrauen vögelten, während mitteleuropäische Christen wahlweise fegefeuernd durch die Gegend liefen oder auf einer Wolke saßen, Harfe spielten und irgendwelchen Nordmännern dabei zusahen, wie sie mit Odin um die Wette soffen. Die Logik des Imagen entschied sich für die denkbar uneleganteste Möglichkeit: Es erlaubte dem Jenseits nämlich, sich parallel und in einer gewissen Spiegelung zum Diesseits zu entwickeln. Dabei gestattete das Jenseits gewisse physikalische und gesellschaftliche Freiheiten, die wohl in der diesseitigen Steiermark bis jetzt noch in keiner Epoche vorstellbar gewesen wären. Da die Logik des

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