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Immer der Sonne nach, aber erst gegen Abend.
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eBook386 Seiten5 Stunden

Immer der Sonne nach, aber erst gegen Abend.

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Über dieses E-Book

Ob Schillers Ode, Einsteins Zunge oder Chopins Herz.- alles ist miteinander verwoben. Zumindest für Clemens, der jugendlichen Hauptfigur in einer Coming-of-Age-Geschichte, der den Herausforderungen und Absonderlichkeiten seines heranwachsenden Lebens trotzt. Ob Jugendweihe, Musterung & renitente Genossen, die Konsequenzen sozialistischer Erziehung bis zur Party im Stasi-Mietbau, Tramps in die Bruderstaaten und Reisen über Grenzen hinweg - Clemens stellt sich. Dabei begleiten ihn die sprichwörtlichen Weisheiten seiner Oma oder die Sprachlosigkeit der Norddeutschen, der Erzkumpel Malte und die Geliebte Claire, die Landschaften Mecklenburgs und in nah & fern, der eine oder andere Gedanke sowie drei Männer vom Stadtring. Doch irgendwann wird Clemens dieses Land spürbar zu klein für seine großen Pläne. Er entfernt sich, und macht sich schließlich auf den Weg.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum8. Dez. 2015
ISBN9783738052459
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    Buchvorschau

    Immer der Sonne nach, aber erst gegen Abend. - Uwe Romanski

    Prolog

    Was willst`n woanders?"

    Wie meinst du das?"

    Kommst du zurück?"

    Ich hoffe nicht."

    Seit meiner Kindheit hatte ich diese Melodie im Ohr. Ich habe sie geliebt.

    „Immer lebe die Sonne, immer lebe der …"

    Obwohl, manchmal schämte ich mich, wenn ich dieses Lied so vor mich hin summte. Aber nur innerlich, nur für mich. Und wenn ich ehrlich bin, ich wusste nicht einmal genau, warum. Zumal ich mir schon morgens, wenn die Sonne aufging, bereits ausmalte, wo sie wieder untergehen würde. Dazwischen hatte ich sie ganz für mich; genauso wie angeblich alle Zeit der Welt oder alles noch vor mir. Das behaupteten jedenfalls einige Leute gern. Was soll ich dazu sagen?

    Die hatten nun überhaupt keine Ahnung! Beides konnte eine Drohung oder ein Versprechen sein. Denn Zeit ist und bleibt etwas, da weiß man nie so richtig, was man von ihr halten soll. Die einen nehmen sie sich angeblich, die anderen stehlen sie einem. Dazu lauter vage Umschreibungen: Fünf vor Zwölf, rund um die Uhr oder letztes Stündlein!

    Als käme es in unserem Leben auf einen bestimmten Moment an. Außerdem kann man Zeit nicht greifen, begreifen sowieso nicht und es gibt auch keinen anderen Namen für sie. Genauso wenig wie für die Liebe; oder für die Heimat. Aber, Heimat ist wieder ein ganz anderes Thema. Auch wenn sie sich genau wie die Zeit durch nichts ersetzen lässt. Jedenfalls nicht von uns. Und in punkto Liebe sah es vermutlich nicht viel besser aus. Dieses Sammelsurium auseinander zu klamüsern, würde eine Menge Arbeit bedeuten.

    Ich wusste nicht, ob Einstein auch in dieser Richtung eine Idee hatte, die mich relativ überzeugt hätte. Mit Physik, Atomen und solchem Gedöns hatte ich es nicht so. Ich war einfach nicht in einem Alter, in dem mich abgründige Theorien, profane Gottesteilchen oder ähnlich abstrakter Kram interessierten. Außerdem wollte ich nicht tiefer in die Intimsphäre der Materie eindringen. Und könnte Einsteins ausgestreckte Zunge nicht zu guter Letzt auch nur ein Hinweis darauf sein, dass wir eben glücklicherweise nicht hinter alle Geheimnisse kommen würden? Oder, fatalerweise zu spät.

    Kann sein, dass es prinzipiell ohnehin nicht um Erkenntnis ging, sondern um Trost. Zumindest, wenn man den alten Griechen glauben soll, die da vereinzelt meinten, es wäre sogar besser gewesen, man wäre gar nicht erst geboren worden.

    Na, ich weiß ja nicht! Und falls da etwas dran wäre, dann hätte mir das bitte schön doch jemand vorher sagen können.

    Weil ich nun also höchstens ahnte, was dieser ganze Schlamassel mit mir zu tun haben könnte, hielt ich mich lieber an das wahre Leben. Da ging es eher um uns und um Respekt. Wir wussten es bloß noch nicht. Wirklicher Respekt geht eh nur mit Distanz zur Welt um einen herum. Ich dachte mir, ein bisschen Abstand zu den Dingen, zu dieser Stadt und zu diesem Land konnte überhaupt nicht schaden.

    Dabei fehlte es mir jedoch hin und wieder an Glauben, um mich in diesem Strudel aus Raum und Zeit und Jugend zu behaupten. Zumal es oft kein Strudel war, sondern ein zäher Brei, eine äußerst dickflüssige Suppe, die zwischen den Dimensionen von irgendwem am Köcheln gehalten wurde. Die hierhin und dorthin schwappte, um letztlich ein Spielchen mit uns zu spielen - ohne uns im Geringsten in dessen Regeln einzuweihen.

    Doch ein fehlender Glaube war noch das kleinere Übel. Oft schien es hier sogar äußerlich eine Dimension zu wenig zu geben, in meinem Kopf hingegen manchmal eine zu viel. Deshalb avancierte ich lieber zum stillen Beobachter. An meiner Schule sagten sie nicht Glauben, sie sagten Weltanschauung dazu. Sie wussten alles besser!

    Als hätte ich nichts anderes zu tun, als mir jeden Tag ihre verquere Welt anzuschauen. Obwohl es da Ungereimtheiten genug gab, die es zu beseitigen galt. Nur, ich glaubte einfach nicht, dass ich der richtige Mann dafür wäre und hielt mich in punkto Weltverbesserer eher bedeckt. Außerdem war ich auf Rückzug programmiert, während sie an ihren Fronten singend dem Morgenrot entgegen marschierten.

    Gott sei Dank gingen ihnen irgendwann das Geld, ihren Kadern die Ideen und mir die Überzeugungen aus. Überdies war ich Sportler, und deshalb schneller fertig mit dem Staat, als er mit mir. Es war jedoch ein Wettrennen, auf das man besser nicht setzen sollte. Vor allem, weil ich nicht wusste, in welche Richtung es mit diesem Land gehen würde.

    Denn wenn man verdammt nochmal nicht aufpasste, bauten sie hier eine Scheiße nach der anderen. Und wir müssten diese am Ende ausbaden. Zumal ich jeden Tag das Gefühl verspürte: Je mehr sich das Chaos im Kopf lichtete, desto chaotischer wurde die Welt um mich herum.

    Für mich schien so vieles noch offen, aber das Land war zu. Darin hatte ich lebenslänglich bekommen. Ich lebte in einer geschlossenen Einrichtung, die sich Deutsche Demokratische Republik nannte. Drei Worte, von denen jedes für sich allein schon eine Lüge war.

    Jedenfalls lag das Land auf eine behäbige Art darnieder und keiner kümmerte sich darum; eine Liegenschaft sozusagen. Doch was ich eigentlich sagen wollte, ließ sich in meinem Alter noch schwer beschreiben. Ich nannte es - zugegebenermaßen ein bisschen naiv - das menschliche Dilemma.

    Es lag wohl daran, dass wir mehr Pläne als Zeit hatten und mehr Lust als uns lieb oder erlaubt war. Auch mit Gefühlen hatten wir es im Norden nicht so. Wer weiß, ob wir überhaupt Hormone oder solches Zeugs besaßen. Und wo wir gerade bei einer Art seelischer Inventur sind: Ich dachte öfter über Dinge nach, die in weiter Ferne lagen, den Tod oder etwas ähnlich Aussichtloses. Meine Oma meinte, das wäre so, weil ich eine Ader dafür hätte. Meine Brüder hatten recht unterschiedliche Ansichten dazu. Mein Vater fragte bei solchen Gelegenheiten, ob ich nichts Besseres zu tun hatte. Ich grübelte, welchen Sinn das Ganze haben könnte. Nur meine Mutter, als die Klügste, schwieg.

    Es half alles nichts. Offensichtlich schien niemand bereit oder in der Lage, mir die Welt auf eine Weise zu erklären, die ich akzeptieren konnte. Ich musste mir wohl oder übel alles selbst zusammenreimen. Zumal ich es mir einfach noch nicht zu bequem machen wollte, im Bett der Alternativen. Außerdem drehten mir die Gedanken öfter einen Strick. Das machte es gleich noch komplizierter. Schließlich befand ich mich gerade in einem Alter, in dem man es eindeutig vorzog schneller erwachsen zu werden. Und ich wollte weg, während dieses Land vor allem eins wollte: hoch hinaus. Unter Weltniveau ging faktisch rein gar nichts! Sie sahen sich als Sieger der Geschichte, unterwegs auf der historischen Mission der Arbeiterklasse, um die komplette Menschheit gnadenlos zu befreien. Darüber hinaus, so meinten sie, konnte es nicht schaden, auch noch einen Blick in den Kosmos zu werfen. Vermutlich waren sie einfach nur irre. Aber ich wollte ihnen das nicht als Entschuldigung durchgehen lassen.

    Abgesehen von der Jugend ist es vor allem die Zeit, die solche Dinge mit einem anstellt. Das Grübeln, und so. Dabei hatte ich wahrscheinlich einfach nur Glück gehabt. Oder sollte ich es nicht Glück, sondern eher Schicksal nennen? Und worin bestand eigentlich der Unterschied? Manchmal hoffte ich: ‚Hey, vielleicht wird ja alles wieder gut.‘ Doch ich hörte auch die Antwort, die ich mir dazu viel leiser gab.

    „Ja, vielleicht. Aber vielleicht ist auch alles umsonst."

    Alles umsonst, das klang ganz und gar nach Kommunismus. Da wollte dieser Staat noch hin. Ich hingegen hatte absolut andere Pläne: Immer der Sonne nach, aber erst gegen Abend.

    In derartigen Momenten fühlte ich mich prächtig, wenn auch wie ein Zeitvertriebener, der dem Lauf der Welt nicht mehr so recht folgen mochte. (Am Ende verläuft ein Leben nicht mal halb so wild, wie du es dir vorgestellt hattest. Und etliches von dem, was du getan hast, wird gegen dich verwendet!)

    Höchstwahrscheinlich kam deshalb der Entschluss, alles, aber wirklich alles, zu meinen Erinnerungen zu machen. Diktiert in ein inneres Tagebuch, das sich von Sekunde zu Sekunde füllte, in mir blätterte und mich so vollends abhängig machte, von meinem Leben und dem der anderen. Letztlich bleibt einem sowieso nichts anderes übrig als das eigene Leben, höchstens noch das Gedächtnis. Und das erfand sich seine eigene Regel: Ehe die Gedanken langsamer werden und bevor alles zu spät ist, kann man gar nicht früh genug anfangen, sich zu erinnern.

    Beispielsweise fand ich es außerordentlich seltsam, gerade einmal achtzehn Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges geboren zu sein. 18 Jahre, das ist im Nachhinein so gut wie nichts. Obwohl ich unschlüssig war, ob „seltsam" das passende Wort dafür ist. Es war schließlich eines der erschütterndsten Ereignisse in der Menschheitsgeschichte. Doch kaum jemand sprach darüber. Jedenfalls so richtig. Parteigenossen, Geschichtslehrer und - wenn auch erst viel später - ein paar erschöpfte Männer vom Stadtring einmal ausgenommen. Die allda ihr Bier oder sonstwas tranken, im Schatten von mäcchtigen Bäumen, die, rein historisch betrachtet, bisher noch jede Epoche überstanden hatten. Dabei kam so manche ihrer Wahrheiten schluckweise ans Licht. In dieser Stadt hatte das einiges zu bedeuten.

    Denn wenn wir Mecklenburger uns auch weniger zu sagen hatten als andere Volksstämme, dann sollte das Wenige, was gesagt werden musste, wenigstens ausgesprochen werden. Gewissermaßen waren wir mit dieser Ansicht bereits die Vorreiter moderner Kommunikation: Beschränke dich auf das Wesentliche, ansonsten halt einfach die Klappe!

    All das trug dazu bei, dass wir uns schon zu einem frühen Zeitpunkt sicher waren: je mehr Freunde, desto weniger Arschlöcher. Umgekehrt galt das natürlich genauso. Freunde schienen uns ein guter Ersatz zu sein für all die Dinge, die wir vermissten. Was rein theoretisch klingt, hat die Wirklichkeit später empirisch bewiesen. Auf die Realität war seinerzeit eben noch Verlass. Und wir, wir waren uns offenbar verlässlicher als wir dachten. Außerdem: wir tickten hier oben sowieso ganz anders. Was das eine mit dem anderen zu tun hat? Wer weiß, vielleicht sind ja Freunde die haltbarste Brücke in die Vergangenheit. Die Gegenwart wiederum ist das, woran wir uns erinnern werden. Und was die Zukunft angeht ...? Über die ist uns noch nicht plausibel berichtet worden. Vielleicht hat dies auch mit dem Gefühl zu tun, dass die alten Geschichten in Vergessenheit geraten könnten und neue kaum noch entstehen. Alles miteinander betrachtet, bestand jedoch überhaupt kein Anlass zum Meckern. Am Ende nimmt sich die Zeit sowieso, was sie von uns will oder braucht. Gelegentlich überlässt sie uns dabei gnädigerweise einen Rest, um damit Schicksal spielen zu können, falls uns nichts Besseres einfiele.

    Ob Geschichten so beginnen können? Ich vermutete, eher nicht. Erstens ist nicht alles und nicht jedes Leben spannend. Außerdem: Auch die Langeweile will schließlich in die Welt. Aber, das war mir vollkommen schnuppe. Und auch wenn ich nicht wusste, ob mir gerade jemand zuhörte; eigentlich hörte mir immer jemand zu.

    … und deshalb machte ich mich auf die Suche nach der vergangenen Zeit.

    I Wir hatten ja nichts.

    II Wir brauchten nicht viel.

    Ganz genau.

    Erstens: von wegen, wir hatten ja nichts. Manche sagten so, andere eben so. Das war doch nur so ‘n Spruch, von Großeltern, Nachbarn oder irgendwelchen Landeiern. Und zweitens, und dann ist auch mal gut, brauchten wir immer irgendwas. Wir lamentierten bloß nicht ständig darüber, was uns fehlte. Auch der Staat schwieg in dieser Beziehung, setzte stattdessen eher auf seine Errungenschaften, und aus gutem Grund weniger auf uns. Höchstens noch auf unsere Eltern oder auf andere ältere Leute, die uns nichts angingen. Und die sich fleißig wie Ameisen mühten, etwas zu erreichen im Leben oder anzuschaffen im Haushalt. Vielleicht handelten sie so, weil sie einst noch miterleben mussten, wie andere Zeiten ihren Eltern alles genommen hatten.

    Wir hingegen hatten es nicht so mit diversen Zielen oder überflüssigem Ramsch. Und was wir an Kaufkraft besaßen, floss zügig die Kehle runter oder löste sich in Rauch auf. Unser Leben ließ sich insgesamt mit einem einzigen Wort ganz gut umschreiben: Zurechtkommen.

    Das war das, was wir hier taten. Außerdem würde die kommende Dekade am Ende aufregend genug werden. Allerdings war davon noch rein gar nichts zu spüren.

    Auf unserem einzigen Kalender im Flur prangte das Jahr 1980. In Moskau gab es eine halbe Olympiade und in meiner Stadt den ganzen Sommer über nichts wirklich Aufregendes. Ein Ungar erfand den Zauberwürfel, der uns wie eine Art früher 3D-Taschenrechner stundenlang beschäftigte, beziehungsweise in den Wahnsinn trieb.

    Die Sommerzeit wurde eingeführt, was zu der weit verbreiteten aber vollkommen unsinnigen Annahme führte, dass uns einerseits eine Stunde geschenkt und dann wieder weggenommen würde, oder umgekehrt. Mit solchem Quatsch mussten wir uns fortan zweimal im Jahr beschäftigen!

    Interessanter fanden wir da schon die Grünen, die sich in diesem Jahr gründeten. Allerdings nicht auf den Wiesen oder Feldern rund um unsere Heimatstadt, sondern viel weiter weg, obwohl sie uns nahe waren. Vielleicht war es auch nur ihr Aussehen, das uns für sie einnahm: Turnschuhe, lange Mähnen und Bärte. Alles, was einige unter uns auch eine ganze Weile prägen sollte, ehe schließlich auch diese Mode mit uns vorüberging. Irgendwann waren die Schuhe wieder aus Leder, die Haare kürzer und die Bärte verschwunden. So ist das nun mal mit der Mode. Aus den Augen, aus dem Sinn, hätte meine Oma dazu gesagt. Sie hat immer gewusst, wie dieser Welt mit einfachen Weisheiten beizukommen war. Ein paar davon wollte ich mir vorsichtshalber merken.

    Insgesamt war die aktuelle Lage also überschaubar, wenn auch nicht für uns. Wir mussten nämlich zu Hause bleiben. So war ihr Plan. Zu Hause blieben einige Mutige in diesem Sommer auch in Danzig. Ich würde auch Gdansk schreiben, wenn ich wüsste, wie ich es korrekt aussprechen soll. Das bedeutete, bald gab es auf der Landkarte wieder ein Reiseland weniger für uns, und insgeheim einen Grund mehr, daran etwas zu ändern.

    Außerdem, je länger ich so darüber nachdachte, einiges bräuchte ich schon; einen anderen Vornamen zum Beispiel. Ich kniff Augen und Mund zusammen, und rückte meinen Vornamen nur raus, wenn ich direkt danach gefragt wurde. Fragen dieser Art mochte ich allerdings überhaupt nicht. Trotzdem waren Vornamen wichtig. Erst auf dem Spielplatz, dann im Klassenbuch, später bei den Mädels. Doch seien wir mal ehrlich, idiotischer Name hin oder her. Perspektivisch betrachtet blieb kaum Zeit, sich permanent über einen bescheuerten Vornamen aufzuregen. Voraussichtlich hatte ich gerademal noch so um die zehn Jahre. (Wozu also weiterhin Zähne putzen, Pläne schmieden, fürs Leben lernen?!)

    Schließlich waren unsere Idole spätestens mit 27 weg vom Fenster. Stattdessen klebten sie an unseren Wänden: Morrison, Joplin, Hendrix & Co. Siebenundzwanzig! Ein Leben jenseits dieser magischen Altersgrenze schien uns weder möglich, noch clever oder zu guter Letzt in irgendeiner Weise erstrebenswert. Eher dachten wir, ihre Seelen gingen unseren voraus. Ja klar, andere Rockstars starben später, ein paar überlebten sogar. Wir mochten sie nicht besonders, vielleicht auch deshalb. Bis zur Unsterblichkeit ist es halt immer ein beschwerlicher Weg, den nicht jeder gehen kann. Man könnte glatt ein Lied darüber singen. Von wegen Rock’n Roll can never die ...; es hieß wohl eher: Spielt mir ein Lied zum Tod.

    Mit Clemens als Vornamen jedenfalls war ich genervt und gezeichnet. Eine fade Buchstabenreihe ohne Sex, vom Klang ganz zu schweigen. Wenn ein Vorname einen Geruch hätte, roch meiner nach Unentschieden oder erinnerte vage an eine Südfrucht-Kreuzung. Wovon wir allerdings nicht so viele kannten. Vor allem nervte mich dieses unmännliche „s" am Ende. Das war visuell schon Mist. Doch wozu aufregen? All diese Klaus, Silvios, Dietmars, Olafs und Udos waren viel schlimmer dran. Und eigentlich war es doch vollkommen egal. Denn erstens gab es Spitznamen, und zweitens verwechsle ich in der Erinnerung ohnehin die eine oder andere Figur. Also, ganz prinzipiell betrachtet, denn ich mochte Prinzipien, sagt ein Vorname so gesehen überhaupt nix.

    Womöglich liefen derartige Gedanken wie vieles andere auch unter Weltanschauung; wahrscheinlich hatte sogar jeder seine eigene. In der Schule war das tagtäglich ein ausuferndes Thema mit diesem ganzen Drumherumgewese von Weltall, Erde und Mensch. Sie (ver)suchten dabei Antworten auf die drängendsten Fragen unserer Zeit. Nur durften an unserer Schule nicht so viele Fragen gestellt werden, damit wir auf dem kollektiven Marsch in unsere strahlende Zukunft nicht noch in Zeitnot gerieten. Deshalb galten hier klare Ansagen und Haltungen, ansonsten drohten Konsequenzen. So knapp ließ sich das Grundprinzip der sozialistischen Erziehung komprimieren.

    Doch Erziehung interessierte mich nicht, Literatur hingegen schon. Vor allem, wenn sie bemüht waren, für ihre manifesten Vorlieben künstlerische Vorbilder zu kreieren. Da machten sie aus Hamlet einen Underdog und aus Goethe gleich einen kommunistischen Vordenker, inklusive Vision einer zukünftigen Gesellschaft. Wir mussten die entsprechende Passage aus dem Faust auswendig lernen und starrten Mitschülern beim Rezitieren ins Gesicht, wenn sie mit mehr oder weniger Verve zwischen schluckhaften Atemzügen versuchten, uns die großen Menschheitsträume literarisch näher zu bringen.

    Während des Deutschunterrichts überkam mich manchmal die Befürchtung, dass sie dem Genossen Goethe postum noch den Vaterländischen Verdienstorden anhängen könnten. Vermutlich hätte es nur noch ein oder zwei Literaturkongresse gedauert, und sein Konterfei würde neben den Nasen von Marx, Engels und Lenin prangen. Schließlich war nach Stalins Tod wieder Platz drauf, auf ihren Bannern und Wimpeln. Obwohl der einzige Protagonist, der es verdient gehabt und dorthin gehört hätte, nach meiner Ansicht Sisyphos gewesen wäre. Der erste wirkliche Held der Arbeit; der, ohne je seinen Stolz zu verlieren, unermüdlich zur tragischen Gestalt wurde. Nur, hierzulande redete niemand von ihm. Die Sagengestalten unserer Tage hießen Adolf Hennecke, Marschall Shukow und vielleicht noch Timur. Mir hingegen ging Sisyphos nicht mehr aus dem Kopf.

    Manchmal beginnen Mythen so.

    Wir lebten in Fähnchenland. Wenn Wind aufkam, flatterte es überall und knisternd heischten die Flaggen um eine gehörige Portion Aufmerksamkeit.

    Dabei waren sie sich für nichts zu doof, oder zu schade; und verliehen für nahezu jeden Unfug oder Mist eine Medaille, ein Banner oder wenigstens einen Wimpel: für die Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, für ausgezeichnet rammelnde Karnickel und für besonders vorzeigbare Hühner, für vorbildlichen Einsatz … und für einen genauen Schuss.

    Allerdings hingen selbst bei mir einige Wimpel an der Wand, ehe ich diese zusammen mit den ganzen billigen Medaillen, die ich zumeist beim Fußball gewonnen hatte, in einer wütenden Nacht entsorgte. So wie Cassius Clay seine Goldmedaille einst in den Ohio warf. Nur, dass ich den ganzen Kram nicht in unser Flüsschen Tollense schmiss, sondern in die Mülltonne. Damit hatte es sich bei mir also einfach mal ausgeflaggt! (Wie ich hier als Nachkomme eines Schiffsoffiziers, der einst die Linie nach Amerika befuhr, wohl berechtigterweise anmerken durfte.)

    Jeder Mensch geht eben anders mit Erfolgen um. Zumal dieses Land nicht für persönliche Triumphe geschaffen war. Denn hier ging es vorrangig um das Kollektiv. Aber damit hatte ich nichts am Hut. Ich kam gut und gerne mit mir allein zurecht.

    Malte und ich hatten heute unseren Philosophischen. Malte war mein bester Freund. Obwohl es schwierig ist, das so auszudrücken, weil Freunde in einer Rangliste zu führen ziemlich obskur wäre.

    Egal, wir pafften jedenfalls vor uns hin und rätselten derweilen, was also die Welt und die Weise mit uns vorhätten, gern auch in umgedrehter Reihenfolge. Vielleicht lag es nur am Wetter oder an der Wirklichkeit, wahrscheinlich jedoch eher an uns.

    Bereits in den großen Pausen wälzten wir auf dem Schulhof mächtige Themen: Zeit, Liebe und Heimat. Das ganze Programm. Schwerer Stoff für eine leichtlebige Jugend. Am Nachmittag setzten wir unseren Dialog oft vor der Imbissstube fort. Daneben befand sich die Kaufhalle. Davor gab es einen Findling aus uralten Eiszeiten, etliche Tonnen schwer, mit dem sie in dieser Stadt der Zukunft scheinbar nichts anzufangen wussten. Darauf thronten wir und warteten auf jemanden, den wir kannten. Meist kam niemand vorbei. Dann redeten wir einfach weiter. Denn wir fanden immer ein Thema, und auch genug Worte. (Dafür hätte man uns in einem früheren Zeitalter aus einer Stummfilm-Landschaft wie Mecklenburg möglicherweise verbannt.) Jetzt sprachen wir darüber, was uns möglicherweise am meisten beeinflusst, (für die Jugend bedeutet dies meist bedrängt oder nervt). Oder davon, was für uns besonders wichtig wäre. So landeten wir gedanklich wieder da, wo wir heute Morgen aufgehört hatten.

    Zeit!, sagte ich.

    Wie?, fragte Malte.

    Das weiß ich gerade nicht, sagte ich. Das war keinesfalls gelogen.

    Vielleicht weil sie weniger wird?, fragte Malte nun.

    Sie wird nicht weniger. Das ist nun absoluter Quatsch. Wir werden nur älter, sagte ich.

    Du nu wieder!, Malte winkte ab.

    Wir brauchten was anderes.

    Was ist mit der Liebe?, fragte ich.

    Frag doch Claire!, antwortete Malte.

    Ich frag aber dich!, sagte ich darauf.

    „Ich frag aber dich!", äffte mich Malte erst nach, ehe er sagte:

    Ich weiß es nicht.

    In Momenten wie diesen dachte ich: Freundschaft ist beständiger als Liebe. Allerdings behielt ich meine kleine Weisheit für mich. Außerdem hätte ich sie nicht beweisen können. Also schwiegen wir, leicht konsterniert voneinander, und kapitulierten bis auf Weiteres vor den allzu großen Themen; oder, halt, doch noch nicht ganz.

    „Heimat, wie wär´s mit Heimat?"

    Ich versuchte es auf diese Art und schaute jetzt Malte direkt in die Augen, weil es mir etwas bedeutete, herauszubekommen, was er wirklich dachte. Außerdem erschien er mir als touristischer Mehrkämpfer geradezu prädestiniert für derlei Auskünfte. Schließlich müssen die sich doch überall durchschlagen.

    Daraufhin zündete sich Malte erst mal eine an, zog seine Schultern kurz hoch, rückte die Brille zurecht und runzelte die Stirn. Viele Falten hatten wir ja in unserem Alter noch nicht. Viel mehr Ahnung offensichtlich auch nicht. Dennoch, ich behielt ihn fest im Blick. Er beugte sich zu mir, schaute über die dünnen Ränder seiner Brille zu mir. Schließlich holte er Luft, tief von innen, von ganz unten.

    „Ohne Heimat verkümmern wir."

    Das kam jetzt von Malte, in einem Stoß, und ohne erneut Luft zu holen. Direkt hinein in diesen, unseren Tag und platzte regelrecht hinein in diese Ruhe, die zwischen uns lag, die uns verband. Und während ich noch überlegte, wie das gemeint war, eine Entgegnung suchend, sagte er irgendetwas Banales, um von seinem gewaltigen Spruch abzulenken. Ich hingegen blieb unschlüssig. Einerseits kam mir sein Satz ein bisschen altklug vor, andererseits dachte ich, das kann man auch einfach mal so stehen lassen.

    Zwei Jugendliche saßen also ziemlich ratlos vor ihren drei großen Welträtseln: Zeit, Liebe & Heimat, und hatten so gut wie keinen Schimmer. Wir brauchten eine Lösung. Und die lag in diesem Fall ziemlich nahe.

    Als wir unser Geld zusammenlegten, reichte es immerhin für ein paar Flaschen Welterklärer. In der Kaufhalle packten wir vier Pilsner in den Korb. Drei Fragen, vier Bier. Wir verstauten die Pullen so, dass sie nicht klapperten und wir nicht am heller lichten Tag in ihrer Gesellschaft gesehen wurden. Sicher ist sicher. Dann spazierten wir Richtung Mühlenholz. Obwohl das, was wir vor uns sahen, nur das Lindetal war. Bis das Mühlenholz käme, wäre es noch ein Stück.

    Allerdings hatten wir keine Lust, den Berg runter zu laufen, und anschließend wieder hoch zu kraxeln. Die viel zitierten Mühen der Ebene überließen wir lieber begeisterteren Mitläufern, von denen wir genug kannten.

    Inzwischen war es Nachmittag geworden, die Sonne verdrückte sich ab und an. Dazu gesellte sich ein flauer Wind. Wir liefen durch die Oststadt. Naja, liefen, wir schlenderten, und passten auf unsere Vorräte auf. Für einen Moment waren wir schweigsam und ließen Blicke schweifen, sofern uns derartige Allüren in unserem Alter schon zustanden. Was wir sahen, sollte uns wohl Zukunft verheißen. Wir jedoch, wir sahen das ein wenig anders. Außerdem wussten wir wo wir hinwollten, wenn auch nicht unbedingt, wo wir hingehörten.

    An den Rändern der Oststadt stand ein gleichermaßen graues wie grauenhaftes Mahnmal für all die Opfer von Militarismus und Faschismus, kurz davor ein Gefährt, das nur darauf zu warten schien, dass sich jemand auf den Weg machen wollte. Es war ein Wagen mit Pferd. Wir sprangen auf und machten es uns auf der Holzbank bequem. Alles war hier aus Holz, selbst der Gaul. Warum ich das betone?

    Weil um uns herum nur Beton war.

    Mitunter schauten wir genauer hin, es war schließlich unsere Stadt. Es war auch unser Leben, das sich hier abspielte - wobei abspulte die weitaus treffendere Bezeichnung wäre. Dabei fuhren unsere Blicke in der Regel eine langweilige Ernte ein. Es herrschte überall Monokultur in vollster Blüte: dieselben hässlichen Vorhänge, uniform bepflanzte Balkone, einsilbige Menschen. Kurzum: Aussichten, die uns ermüdeten.

    Ältere Pärchen nach der Frühschicht, den Kampfauftrag noch in ihren Knochen, ihre Köpfe vernebelt, ihre Buckel gekrümmt. Eins davon bekamen wir jetzt leibhaftig ins Visier.

    Er, nachlässig über die Balkonbrüstung gelehnt, im feinrippigen Turnhemd, darauf Spuren von Schweiß und Suff. Ein Bierchen in der einen Hand, in der anderen eine Fluppe, Fliegenklatsche oder eine penibel eingerollte Zeitung. Seine Trainingshose konnten wir zwar nicht sehen, aber in diesen Breitengraden deren Farben zuverlässig erahnen: braun mit gelben und roten Streifen an den Nähten. Die Freizeituniform vom Armeesportverein, beziehungsweise von aktiven Sympathisanten.

    Sie hingegen trug eine grelle Bluse, eine riesige Sonnenbrille sowie eine Art Sonnenhut mit einer Blume dran geklebt und goss ihre Pflanzen einzeln, sobald ein kleiner Schatten darauf fiel. Zwischendurch setzte sie sich, wahrscheinlich für ein Kreuzworträtsel, oder auch einen frühen Wein. Er nun wieder starrte in unsere Richtung, als würden wir geradezu in seinem Wagen sitzen. Er rief sie. Sie stand nun direkt neben ihm, ohne ihn zu berühren. Wir hatten noch gute Augen und das Duo infernale von unserer Kutsche aus leibhaftig im Visier. So sahen wir, wie er sich ihr zuwandte, etwas zu ihr sagte und daraufhin in unsere Richtung fuchtelte. Sie wiederum zuckte nur die Schultern, als hätte sie bereits Feierabend gegenüber seinen Problemen. Sie wollte lieber ihre Ruhe, für die kleineren Rätsel dieser Welt, die sie Tag für Tag in bunten Zeitungen löste. Er winkte ab und streckte sich in den Sonnenschein. Und zwar dermaßen, als betriebe er Photosynthese. Dabei leuchtete sein fleckiges Hemd wie ein Fanal. Er nahm einen längeren Schluck aus seiner Pulle. Als er die Flasche absetzte, prosteten wir ihm zu. Er verschluckte sich, wandte sich ab und drehte am Radio. Mit dem nächsten Windstoß hörten wir die Kofferheule dudeln: Schlagertakte oder Nachrichtenfetzen, die frohe Botschaften aus diesem Land verkündeten und melodiös hinaus in alle Welt trugen. Jetzt waren wir an der Reihe, uns abzuwenden. Das alles war so öde, dass wir einen weiteren Schluck brauchten, einen ziemlich tiefen. So stießen wir auf diese Parodie auf unser Leben an. Kaum davon auszugehen, dass wir hier & heute mit unseren drei Fragen weiterkämen. Noch absurder war allerdings die Vorstellung, dass genau solche Balkonmenschen bestimmen wollten, wie wir zu leben haben. Und so absurd wie es war, so beängstigend war es auch. Doch darüber mochten wir gerade überhaupt nicht nachdenken, während wir weiter in Richtung Oststadt glotzten, obwohl der schönere Blick eindeutig hinter uns lag. Aber manchmal will man selbst das Schöne nicht

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