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Der Vorbehalt: Roman
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eBook280 Seiten4 Stunden

Der Vorbehalt: Roman

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Über dieses E-Book

Horn lebt mit seiner Familie auf einer norddeutschen Insel. An einem Wintertag steht plötzlich die Journalistin Helke Sander vor der Tür und erklärt, sie wolle über das mysteriöse Verschwinden eines Inselbewohners berichten. In den darauffolgenden Monaten fühlt Horn sich immer stärker zu der Besucherin hingezogen, doch bleibt sie solange er ihr Gehen erwartet, um zu Gehen als er ihr Bleiben erhofft.
Jahre später begegnen sie einander wieder. Doch wohlahnend, dass sie sich selbst nicht haben, scheitern sie auf der Suche nach einem Ort in der Welt an ihrer Geschichte, so dass Helke schließlich spurlos verschwindet und ihre Tochter Rene' bei Horn zurücklässt.
Rene' ist inzwischen erwachsen als Horn eine Reise nach Rom unternimmt. Dort begegnet er einer Frau, die Helke zum Verwechseln ähnlich sieht, sich jedoch für jemand anderen ausgibt. Schritt für Schritt kommt man sich näher, so dass ein gemeinsames Leben möglich erscheint, wäre da nicht eine Frage, die unablässig in den Vordergrund drängt.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum9. Dez. 2014
ISBN9783738002034
Der Vorbehalt: Roman

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    Buchvorschau

    Der Vorbehalt - Hans-Jürgen Uekötter

    Prolog

    Irgendwie verstört habe sie gewirkt, fahrig in Mimik und Gestik, nervös umherstreunend, um sich alsbald zu setzen, eine Zigarette zu entzünden, die offensichtlich nicht schmeckte. Daher erneut auf die Beine und im Zimmer umher, zum Fenster und zurück zu dem kleinen hölzernen Tisch, der mit einem weißen Deckchen aus Spitze verziert wohl kaum zu mehr diente, als einfach nur dazustehen. Dabei irgendwie haltlos, ohne ein Band für das Gegenwärtige. Stattdessen übervoll mit wirren, allem Anschein nach beängstigenden Gedanken, Bildern, die aus ihren Augen quollen und den knabenhaften Hotelpagen, der nicht recht wusste, wohin mit der schäbigen Reisetasche, daher in seiner grauen Uniform ein wenig verlegen einfach nur dastehend, merklich daran hinderten das Wort an sie zu richten.

    Ja, ja, dorthin, einfach abstellen, bitte.

    Ein dolles Trinkgeld habe Sie gegeben, wohl als Entschuldigung für ihren Zustand und um die ungewollte Gesellschaft endlich loszuwerden. Der Page habe es angenommen, warum auch nicht, ein wenig verunsichert zwar, ob nicht alsbald der Rückruf erfolge, was nicht geschah.

    Sander, Helke Sander, ein Einzelzimmer bitte.

    Reservierung?

    Nein, keine Reservierung!

    Ein dunkelgrüner Trench über dem linken Arm, dazu eine braune Lederreisetasche, schäbig, offenbar Begleiter seit Jahren, dabei unablässig rauchend, ohne auf die Asche zu achten, hastig, was den Portier irgendwie nervös machte.

    So habe sie plötzlich in der Hotelhalle gestanden, gewissermaßen aus heiterem Himmel, was in Hotels keineswegs ungewöhnlich sei, wenn nicht dieser Ausdruck, dieses merkwürdig Verlorene in den algengrünen Augen, das irgendwie an Flucht erinnerte, Fliehen ohne zu wissen wohin oder vor wem.

    Dabei gefiel sie durchaus, wenn da nur nicht immer wieder diese Asche gewesen wäre, die einfach nicht in den dafür vorgesehenen Becher wollte.

    Wirklich eine attraktive Erscheinung, diese Helke Sander. Etwas zu mager zwar, aber nicht ohne Weiblichkeit an den entsprechenden Stellen, so der Portier, der im übrigen Rodenwaldt heißt, Horst Rodenwaldt mit dt.

    Ein hübsches Kind, durchaus, bei genauerem Hinsehen, fügt er noch hinzu, obwohl selbst kaum älter, wie sich herausstellt, was die nur hatte.

    Ob er helfen könne, habe er gefragt, woraufhin sie ihn nur entgeistert anblickte, sodann heftig den Kopf schüttelte und alsbald ungeduldig wiederholte, nein, danke, ein Zimmer, bitte, nur ein Zimmer.

    Selbstverständlich gnädige Frau, warum auch nicht.

    Zwar hatte Rodenwaldt mit Hilfe etwas Anderes gemeint, aber wer nicht will...

    Ein Zimmer, jawohl gnädige Frau, dritter Stock, die dreizweiunddreißig.

    Nachdem die Formalitäten erledigt waren - schließlich müsse alles seine Ordnung haben - ein kurzes Nicken, kaum merklich, bevor sie den Schlüssel an sich nahm, um geradewegs in Richtung Fahrstuhl zu marschieren, wo der Page sie bereits mit einem maskenhaften Grinsen erwartete.

    Attraktiv, wirklich, alles in allem, hochgewachsen aber nicht groß, was immer das heißen mag; „dazu mittellanges braunes Haar; eine Frau, die mit jedem Blick gewinnt, wenn Sie verstehen, was ich meine, ungeschminkt, die großen grünen Augen mit einem Stich ins Graue; eine kleine Narbe oberhalb der Nasenwurzel und ein sanft geschwungener Mund mit ein wenig zu schmalen Lippen; die Stirn nicht ohne ein paar Fältchen als Beweis erfahrenen Lebens - die Hände, schlank, mit langen kraftvollen Fingern, die zupacken können, zweifellos, Ring los."

    „Mitte vierzig, wenn man schon unbedingt schätzen müsse, „plus minus zwei vielleicht drei Jahre. Eine Frau mit Geschichte, eine mit der man nicht umspringen kann, meint Rodenwaldt noch, nicht so ein Frauchen, was manch ein Gast im Schlepptau führt, sie verstehen, eine Frau mit Tiefe, mit Narben auf der Seele.

    Rodenwaldt findet sein Bild offenbar überaus gelungen, lächelt daher selbstgefällig, was unpassend erscheint und will schließlich wissen,wer denn nun das Zimmer bezahle, immerhin seien Kosten entstanden.

    Am nächsten Morgen sei sie verschwunden, spurlos, einfach so, auf und davon. Nicht einmal ihr Gepäck habe sie mitgenommen, geschweige denn gefrühstückt, was in Ordnung gehe, wegen der Kosten versteht sich, das Bett gänzlich unbenutzt. Lediglich das Bad habe ziemlich wüst ausgesehen, mit säuerlichem Geruch.

    Womöglich ein Mensch im Angesicht des Todes, sterbenskrank, soeben erfahren, hineingeschleudert in eine Wirklichkeit voller Entsetzten und Angst, von einem Augenblick zum anderen, wer weiß.

    Rodenwaldt wirkt irgendwie ratlos, wie er so dahockt, auf seinem Stuhl, die Beine fein säuberlich nebeneinandergestellt, die Hände stumm auf den Knien ruhend. Jedenfalls sei sie kein Gast wie jeder andere gewesen, soviel ist gewiss.

    Ein Jammer ist das, wirklich ein Jammer.

    Wieso, will der Kriminalbeamte wissen, der eiligst herbeigerufen, keine rechte Vorstellung hat, was er eigentlich hier soll, was meinen Sie damit, was ist ein Jammer?

    Bestimmt ist sie..., ich meine..., sie verstehen oder zumindest so gut wie..., bemerkt Rodenwaldt mit eindeutiger Geste. „Sie werden sehen!"

    Wie kommen sie bloß darauf, man?

    Als Portier bekomme man mit der Zeit einen Blick dafür, jahrzehntelange Erfahrung. Immerhin seien Menschen sein Beruf, fügt Rodenwaldt ein wenig aufschneiderisch hinzu.

    Der Kriminalbeamte, der in über fünfundzwanzig Dienstjahren wirklich schon einiges erlebt hat, versteht kein Wort, schüttelt daher nur den Kopf, fährt sodann mit der Rechten durch das übernächtigte Gesicht und schiebt zu guter Letzt die Hände in die Hosentaschen, bevor er seinen Blick aus dem Fenster treibt, hinaus auf die Straße.

    Es regnet, um nicht zu sagen, es schüttet wie aus Eimern. Die wenigen Menschen auf der Straße verschwinden unter ihren Schirmen oder suchen Zuflucht in den Hauseingängen. Die Tropfen prasseln in einer Art gegen die Scheibe, dass man sie auf der Haut spüren kann und unwillkürlich einen halben Schritt zurücktritt.

    Danke, Sie können gehen.

    Rodenwaldt ist angesichts dieser ebenso beiläufigen wie kurz angebundenen Aufforderung sichtlich irritiert, ja richtiggehend gekränkt, zumal man sich hier schließlich in seinem Hotel befindet, für das er immerhin die Verantwortung trägt.

    Dennoch widerspricht er nicht, hält lediglich einen Augenblick inne, auch für den Fall, dass vielleicht doch noch eine Frage, eine weitere, eine letzte.

    Schließlich erhebt er sich lautlos von seinem Stuhl, den er sorgsam zurechtrückt, bevor er mit den Worten, ein Jammer ist das, so eine hübsche Frau, in Richtung Tür marschiert.

    Während der Beamte keinerlei Anstalten macht, doch noch eine allerletzte Frage zu stellen, sich nicht einmal umdreht, sondern unablässig aus dem Fenster starrt, als gäbe es da draußen irgendetwas zu entdecken, hält Rodenwaldt auf halbem Weg noch einmal inne und erkundigt sich, wer denn nun die Kosten übernehme.

    Sie hören von uns!

    Der schroffe Tonfall, der kein weiteres Nachfragen duldet und den er (wie er findet) ganz und gar nicht verdient hat, hallt durch den Raum.

    Rodenwaldt zieht die Stirn in Falten. Es ist offensichtlich, dass er noch etwas erwidern will.

    Doch stattdessen nickt er lediglich stumm und zieht kurz darauf die Tür mit einem metallischen Knirschen hinter sich ins Schloss.

    Die Besucherin

    1

    Helke kam an einem Sonntagabend auf die Insel. Unversehens stand sie auf der hölzernen Veranda unseres Hauses und soweit es Dog betraf, war es Liebe auf den ersten Blick. Jedenfalls tänzelte er um sie herum, fiepte und rollte mit den Augen, wie wir es sonst nur in seinen wildesten Zeiten von ihm kannten, wenn er sämtlichen Hündinnen der Gegend mit einer Ausdauer nachstellte, dass er abends vor Erschöpfung oftmals einfach vor unserer Tür umfiel und einschlief. Vater marschierte dann meistens nach einiger Zeit kopfschüttelnd hinaus und trug ihn zu seiner Hütte.

    Es schneite seit Tagen ununterbrochen und wenn es einmal aufhörte, wurde es so eisig kalt, dass an den Fensterscheiben die Eisblumen wucherten, die Autos reihenweise streikten und der Wind ums Haus heulte, um in unsere Gesichter zu beißen, sobald wir auch nur einen Fuß vor die Tür setzten. Somit war jedermann auf der Insel froh, wenn er sich hinter einer Heizung oder einem wärmenden Ofen verkriechen konnte.

    Allein Vater hielt kein noch so scharfer Wind im Haus. Ganz im Gegenteil trieb es ihn offenbar umso unnachgiebiger vor die Tür, je unbändiger sich die Natur da draußen austobte. Fast konnte man meinen, dass er nur inmitten dieser Gewalten, wo selbst Dog ihm mit eingekniffenem Schwanz die Gefolgschaft versagte und sich schnurstracks in seine mit Lumpen und Stroh ausgekleidete Behausung verzog, für eine Weile mit sich selbst ins Reine kam.

    Heute machte er hingegen keinerlei Anstalten und versank vielmehr mitsamt Zeitung in seinem Ohrensessel, den er für nichts in der Welt preisgab und nicht einmal für kurze Zeit einem Polsterer überließ, damit dieser die stählernen Federn daran hindern konnte, unaufhaltsam durch das verschlissene Grün zu stoßen.

    Die Frau war trotz des Wetters offenbar zu Fuß. Jedenfalls hatten wir weder ein Motorengeräusch gehört, noch war weit und breit ein Wagen zu sehen.

    Mutter wusste, dass wer draußen war, noch bevor es klopfte. Kurzerhand öffnete sie die Tür und bat die Besucherin mit einer Selbstverständlichkeit herein, als habe man sie erwartet, noch ehe sie erklären konnte, wer sie war und was sie zu uns führte.

    Sie müssen den Mantel ausziehen, bitte.

    Mit diesen Worten half sie ihr aus dem über und über mit Schnee bedeckten Wollmantel, klopfte diesen sodann sorgfältig aus und hängte ihn an die Garderobe. Gleichzeitig deutete sie der Fremden mit den Worten, jetzt wärmen sie sich erst einmal auf, bevor sie sich noch eine Lungenentzündung holen, es sich bequem zu machen und verschwand in der Küche, um kurz darauf mit einem Tablett samt duftendem Tee und Gebäck zurück zu kehren.

    Vater blickte lediglich kurz auf, brachte jedoch wie so oft kein vernünftiges Wort heraus. Stattdessen murmelte er etwas in sich hinein, was niemand und vermutlich auch er selbst nicht verstand, schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen, kramte in seinen Taschen nach Feuer und vertiefte sich alsbald wieder in die Zeitung.

    Ich hingegen konnte es kaum erwarten, zu erfahren, wer die Unbekannte war, die lediglich verhalten nickte und sich dabei in ihrer Haut nicht recht wohl zu fühlen schien.

    Es hat nicht viel gefehlt und es wäre der Baum gewesen, durchbrach sie nach einer Weile das süßlich duftende Schweigen, und fügte hinzu, stattdessen bin ich im Graben gelandet. Dazu ein verunglücktes Lächeln, derweilen der Schreck in ihren Augen blitzte.

    Aber sie sind nicht verletzt, erkundigte sich Mutter, wobei aus ihrer Stimme die Gewissheit klang, dass dies nicht der Fall war.

    Die junge Frau nippte nachdenklich an ihrem Tee, bevor sie kaum merklich den Kopf schüttelte und kurz darauf erwiderte, nein, ich denke, mir ist nichts passiert.

    Wo liegt denn der Wagen?

    Der mürrische Unterton in Vaters Frage, der nur zu offensichtlich machte, dass ihm die unerwartete Störung lästig war, ließ sich nicht überhören. Dennoch legte er die Zeitung zur Seite und musterte die Besucherin in einer Weise, dass man unweigerlich das Bedürfnis hatte, sie zu beschützen.

    Dreihundert vielleicht vierhundert Meter von hier entfernt Richtung Fährhafen.

    Während sich die Worte nur zögernd formten, beobachtete ich ein paar Nasenflügel, die vor Anspannung bebten. Dazu eine Rechte, die unentwegt den Tee rührte, indessen die Linke wieder und wieder über das hochgesteckte, feuchtglänzende Haar strich.

    Was um alles in der Welt treibt sie bloß um diese Jahreszeit in diese gottverlassene Gegend?

    Angesichts dieser unverhohlenen und in ihrer Eindeutigkeit kaum mehr zu überbietenden Frage, durchkämmten nunmehr ein paar hilflose Blicke auf der Suche nach den richtigen Worten das Zimmer, streunten entlang an den weiß gekalkten Wänden, die jedoch keinerlei Halt boten, bis sie unversehens auf Mutter trafen, wo sie für einen Moment verweilten und kurz zu verschnaufen schienen, bevor sie sich alsbald wieder aufmachten und erst dort innehielten, wo eine ebenso misstrauisch wie überlegen grinsende Miene nach wie vor eine Antwort erwartete.

    Ich bin Journalistin, hallte es kurz darauf mit vertrockneter Stimme durch den Raum, gefolgt von einem zaghaften, es heißt, hier in der Gegend sei jemand spurlos verschwunden, ein gewisser Eric Mattowski.

    Tatsächlich, warf Vater ein und allein dieses eine Wort stellte unmissverständlich klar, dass für ihn alle Fragen damit ausreichend beantwortet waren, was immer das auch heißen mochte.

    Also verschanzte er sich wieder hinter seiner gewohnten Allerweltsmiene, die zu durchdringen nur selten jemandem gelang.

    Ich hingegen beobachtete wie die fremde Frau ihre halbvolle Tasse mit einer ungelenken Bewegung vor sich auf dem hölzernen Tisch abstellte, dass der Tee ein wenig über den Rand schwappte.

    Vielleicht sollte ich jetzt besser gehen und mich um meinen Wagen kümmern.

    Mit dieser Bemerkung erhob sie sich und ließ keinen Zweifel daran, dass sie beabsichtigte, in der nächsten Minute ihren Mantel von der Garderobe zu nehmen, um alsbald wieder in der Dunkelheit zu verschwinden.

    Doch Mutter hielt sie mit einem, ich denke es ist am besten, wir benachrichtigen erst einmal den Abschleppdienst zurück. Zugleich warf sie Vater einen durchdringenden Blick zu, woraufhin dieser sich nach einem merklichen Zögern mit mürrischer Miene aus dem Sessel stemmte und humpelnd das Zimmer verließ.

    Kurze Zeit später hörten wir, wie er dem Abschleppdienst in seiner wortkargen Art, die einen regelmäßig zur Verzweiflung bringen konnte, den Grund seines Anrufs erläuterte.

    Dog hatte es sich inzwischen auf den Füßen unseres Gastes bequem gemacht, gerade so, als wolle er diese wärmen. Also gab Mutter ihm einen Klaps aufs Hinterteil, woraufhin er sich beleidigt in eine Ecke verzog.

    Sie wollen also über Eric schreiben.

    Wenn sie erlauben, aber bitte glauben sie mir...

    Gewiss, unterbrach Mutter die junge Frau und sah sie dabei in einer Art an, als sei man sich seit Jahren vertraut, wohingegen alle Welt gezwungen war, sich mühsam von außen heranzutasten.

    Ich heiße übrigens Sander, Helke Sander.

    Mit dem Abschleppdienst war vor morgen nicht zu rechnen, so dass Mutter kurzerhand die freie Mansarde unterm Dach, die Erics’ Zimmer direkt gegenüberlag, zur Übernachtung anbot.

    Wenn sie über Eric berichten wollen, sollten sie vielleicht eine Zeit lang bei uns wohnen, meinte sie

    noch und war sich offenbar sicher, dass ihr Angebot nicht zurückgewiesen würde.

    Im Gegensatz zu ihr und Dog wusste ich zunächst nicht so recht, was ich davon halten sollte. Die Vorstellung, dass die Fremde sich bei uns einmietete, erfüllte mich zwar mit einer gewissen Neugierde, doch überkam mich zugleich ein gewisses Unbehagen, zumal ich fürchtete, mich fortan in unserem Haus nicht mehr so frei bewegen zu können, wie ich es von jeher gewohnt war. Letztlich barg die unerwartete Abwechslung jedoch durchaus ihren Reiz, ebenso wie die zusätzlichen Einnahmen, die wir nur zu gut gebrauchen konnten.

    Da sich das Gepäck noch im Wagen befand, erhielt ich von Mutter den Auftrag, es zu holen. Angesichts des Wetters war die junge Frau damit ganz und gar nicht einverstanden.

    Nach einigem Hin und Her einigten wir uns schließlich darauf, gemeinsam zu gehen, streiften

    also unsere Mäntel über und marschierten wenig später in die Dunkelheit hinaus, wo man vor lauter Schnee kaum die Hand vor Augen erkennen konnte, so dass wir trotz Taschenlampe nur sehr langsam vorankamen.

    Als wir nach einer Ewigkeit unser Ziel schließlich erreichten, glich der Wagen, der vornüber in einen Graben gerutscht war (der glücklicherweise kein Wasser führte), bereits einem mittelgroßen Schneehügel. Kurzerhand nahmen wir zwei Taschen aus dem Kofferraum, stellten zur Sicherheit ein Warndreieck auf - auch wenn das bei dem Wetter wohl nicht allzu viel nützen würde - und machten uns auf den Rückweg.

    Die Fremde bestand darauf, eines der beiden Gepäckstücke zu tragen. Ich hingegen konzentrierte mich auf unsere Spur oder das, was davon übrig war. Zugleich durchsuchte ich mich nach einem geeigneten Gesprächseinstieg, der jedoch beim besten Willen nicht einfallen wollte.

    Sie kommen aus Hamburg?

    Diese Frage war zugegebenermaßen nicht gerade einfallsreich, zumal ich bereits das Hamburger Kennzeichen an ihrem Wagen gesehen hatte, aber irgendwo musste man ja beginnen.

    Ja, aus Hamburg, lautete denn auch erwartungsgemäß die Antwort.

    Und sie arbeiten bei einer Zeitung?

    Ja.

    Diese Helke Sander machte es einem nicht gerade leicht, so dass ich beschloss, den Rest des Weges zu schweigen. Nachdem wir gut hundert Metern gelaufen waren, rutschte sie plötzlich aus. Im letzten Moment bekam ich sie am Arm zu fassen und konnte so den Sturz abfangen.

    Zu Hause angekommen wurde erst einmal tüchtig

    abgeklopft. Zum Dank reichte Helke mir die Hand, die ich wortlos ergriff. Dann gab es wiederum Tee, bevor Mutter die beiden Taschen nahm und mit unserer neuen Mieterin im Schlepptau geradewegs die Treppe hinauf marschierte.

    2

    Regungslos hatte er dagesessen, am Rand unserer Straße, die hinaufführte zum Deich und eigentlich mehr einem Holperweg glich, weil zwar bereits vor Jahrzehnten befestigt, geglättet und asphaltiert, aber nicht ausgebessert, daher voller Risse und Löcher, aus denen das Leben drang um zurückzuerobern, was ihm einst genommen wurde. Die nackten Füße in den kleinen Bach getaucht, der neben der Straße vor sich hin gurgelte und sich redlich darum bemühte, mit einem leisen Plätschern den Dreck aus seiner Haut zu waschen, was nicht so recht gelingen wollte. So hockte Eric, den wir der Einfachheit halber „Ec" nannten, im Gras, ein hellblaues Handtuch um die Linke gewickelt, was mehr und mehr die Farbe wechselte, ansonsten lediglich mit einer Unterhose bekleidet. Ganz still und versunken saß er da, dieser braungebrannte Riese, bei dessen Anblick die Menschen nicht selten erschrocken oder verschämt den Blick senkten, und betrachtete die drei wachsfarbenen Finger, die in der Innenfläche seiner Rechten ruhten, wo sie nun mal einfach nicht hingehörten.

    Ec flüsterte ich mehr als ich es sprach, grad so als störte ich ein Gebet, Ec, doch Eric rührte sich nicht. Mein von Salz und Feuchtigkeit zerfressenes Fahrrad an der Hand, musterte ich ihn als hätte ich eine Erscheinung, daher wohl ungläubig und mit einem ziemlich blöden Ausdruck im Gesicht, halboffenem Mund. Nicht, dass mir übermäßig Angst machte was ich sah, zumal Eric offenbar ohne Schmerz eher unbeteiligt da saß, grad so, als ging ihn das was er sah nicht wirklich etwas an. Aber das Handtuch, das mittlerweile aus dreckigem Rot zu tropfen begann, beunruhigte mich doch sehr.

    Ec, krächzte ich erneut mit vertrockneter Stimme,derweilen mein Fahrrad scheppernd zu Boden fiel, doch Eric reagierte noch immer nicht.

    Einen Augenblick lang dachte ich daran, Hilfe zu holen, doch das Blut tropfte bereits unter ihn. Also nahm ich mir ohne lange zu überlegen, geschweige denn mit einer Vorstellung davon, was zu tun war, ein Herz und war ich auch schon hinüber über das Bächlein, das sich von alledem nicht im mindesten beeindrucken ließ.

    Nun sah ich sie deutlich, die drei abgehackten Finger, vom mittleren bis zum Kleinen, der beinahe so groß war wie mein allergrößter, wie gesagt blasser als gewöhnlich und oberhalb schwarz behaart, leblos halt und keineswegs blutend, dafür einseitig mit sauberem Schnitt, dunkelrot.

    Ec!?

    Aber Eric starrte nur vor sich hin und das Rinnsal plätscherte friedlich wohl gewiss, dass kein noch so widerspenstiger Dreck ihm ewig standzuhalten und kein Blut seine frische Farbe dauerhaft zu verfärben vermochte.

    In einiger Entfernung sonnte sich unser Haus auf einer Anhöhe umgeben von einem Dutzend Eichen, die uns im Winter bewachten und im Sommer ihre kühlenden Schatten auf unser Leben warfen, stumme Geister, die uns wohl nur allzu oft belächelten, wenn wir - gefangen in uns selbst - nicht ein noch aus wussten. Während die Fenster wie Augen dreinschauten, strahlte es zuversichtlich der Morgensonne entgegen.

    Unser Mischling, den wir Dog nannten, weil auch ein Hund nun mal einen Namen braucht, drehte sich auf der Jagd nach seinem Schwanz vermutlich mal wieder wie wahnsinnig im Kreis. Oder er reckte gerade sein schier endlos-schwarzes Fell, dass jedem Fremden angesichts der gewaltigen

    Ausmaße Angst und Bange werden musste, was sich alsbald in regelrechte Panik verstieg, wenn Dog sein riesiges Maul aufriss und dabei die Augen in einer Art verdrehte, als stecke er gerade wieder mal in einer der zahllosen ihm treu ergebenen Hündinnen, mit denen er regelmäßig die Insel unsicher machte.

    Ec, verdammt, nun sag doch was, brach es aus mir heraus, wohlwissend, dass Mutter es nicht duldete, wenn ich fluchte, wobei sie sicher nicht an derlei Situationen gedacht hatte. In meiner Not nahm ich schließlich all meinen Mut zusammen, packte ihn an seinen gewaltigen Schultern und schüttelte ihn mit aller Kraft. Und siehe da, unversehens riss er die Augen auf und sah mich an, als habe er den Leibhaftigen persönlich erblickt, dass sie hervorquollen und wie ich fürchtete, herausfallen würden, was glücklicherweise nicht geschah.

    Und dann, während ich unter seinem Blick buchstäblich erstarrte, stieß er plötzlich einen Schrei aus, der durch Mark und Bein ging, dass selbst der Bach sich zu verschlucken schien.

    Keine Ahnung, ob er wegen der abgetrennten Finger schrie oder weil ich irgendeinen Schmerz seiner Seele erweckt hatte, den er mir jetzt mit all der Gewalt, zu der sein mächtiger Körper fähig war, entgegen schleuderte. Zugleich sah ich, wie Tränen über sein stoppeliges Gesicht rannen, entlang an seiner großen und ziemlich verbogenen Nase, die wohl nicht immer davongekommen war, hinab zu dem mächtigen Kinn, wo sie wie Tautropfen hingen, um sich alsbald ins Wasser hinab zu stürzen. Und wie er schrie, dass die Welt für einen Moment den Atem anhielt. Doch wie sehr dieser durch und durch unansehnliche Kerl mit der vernarbten Haut und den verschobenen Proportionen, dass man meinen konnte, er sei aus verschiedenen Einzelteilen zusammengesetzt, die eigentlich nicht wirklich zueinander gehörten, auch brüllte, außer seinem Mund und seinem mächtigen Brustkorb bewegte sich nichts an ihm.

    Mit einem Satz, der nicht ganz ausreichte, hechtete ich

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