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Das Messias Casting: Thriller
Das Messias Casting: Thriller
Das Messias Casting: Thriller
eBook350 Seiten4 Stunden

Das Messias Casting: Thriller

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Über dieses E-Book

Eine rätselhafte Serie von Selbstmorden erschüttert die Welt. Plötzlich und anscheinend ohne Grund bringen junge Menschen sich einfach um.
Fieberhaft sucht die rasch gegründete, internationale Taskforce nach einer Lösung für das Problem. Da kommt ein Lösungsvorschlag aus einer ganz unwahrscheinlichen Ecke: Wir brauchen wieder einen Messias – es muss ja kein echter sein.
Die Suche nach einem geeigneten Kandidaten führt die Gruppe um die ganze Welt. Sie bemerken nicht, dass sie längst selbst zu Gejagten geworden sind. Denn mit ihrer Idee haben sie sich mächtige Feinde gemacht …
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum27. Sept. 2015
ISBN9783738041194
Das Messias Casting: Thriller

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    Buchvorschau

    Das Messias Casting - M.P. Anderfeldt

    Prolog

    Das Bild war hell und klar und so scharf, dass man das Gefühl hatte, nur den Arm ausstrecken zu müssen, um das Ziel berühren zu können. Schmidt & Bender, das Feinste vom Feinen. Hatte ihm zumindest dieser Corporal erzählt. Elijah selbst kannte sich damit nicht aus, obwohl sein Vater ihn ein paar Mal mit auf den Schießstand genommen hatte. Mom hatte geschimpft, weil sie meinte, dafür sei er noch viel zu jung, aber Dad meinte, ein Junge könne so etwas gar nicht früh genug lernen. Naja, das war lange her …

    Reiß dich zusammen, befahl er sich, jetzt ist keine Zeit für Erinnerungen an die Kindheit, du musst voll da sein. Es war wichtig, dass er sich konzentrierte. Er durfte jetzt keinen Fehler machen und alles vermasseln.

    Madison stand hinter ihm und streichelte ihm über den Kopf. »Du tust das Richtige. Es ist wie damals in Milwaukee. Das Böse muss gestoppt werden.«

    Auch wenn ich diesmal vielleicht keine Blumen bekomme, dachte Elijah.

    »Nein, du bekommst vielleicht keine Blumen, aber ich verspreche dir, es gibt Menschen, die dir dankbar sein werden. Und ob du schon wandertest im finsteren Tal, dir wird nichts mangeln.«

    Noch immer irritierte ihn Madisons Fähigkeit, seine Gedanken zu lesen. Oder erriet sie sie nur? Angeblich kam das unter Geschwistern ja vor. Aber diese ständigen Bibelzitate, die nervten wirklich. Nichts gegen die Heilige Schrift, aber das war eine irritierende Angewohnheit. Reverend Hornbine zitierte doch auch nicht in einem fort die Bibelsprüche.

    Zum hundertsten Mal kontrollierte er den Stand des Gewehrs. Das Dreibein stand bombenfest, die Waffe selbst war gut schwenkbar. Nicht zu leicht und nicht zu schwer; wenn sich das Ziel bewegte, würde er leicht nachführen können, bei einem Schuss stünde es fest genug, um es nicht zu verfehlen. Und es würde nicht verreißen, wenn ein zweiter Schuss nötig war. Nötig werden sollte. Ein Kinderspiel, selbst auf diese Entfernung. Was sollte mit dieser Waffe schiefgehen?

    »Es kann immer etwas passieren. Satan kann versuchen, uns aufzuhalten«, sagte Madison sanft aber bestimmt. Ihr komisches, gelbes Kleid raschelte bei jeder ihrer Bewegungen. Er glaubte, sich erinnern zu können, dass Mom so ein Kleid auf einem alten Foto trug. Sicher war es kein Zufall, dass Madison das jetzt anhatte. Zufälle gab es nicht, wenn es um sie ging.

    Er überprüfte, ob das Gewehr gespannt war. Es war. Natürlich. Er vergewisserte sich, dass er den Sicherungshebel blind fand, und entsicherte mit einem schnellen Handgriff. Dann sicherte er die Waffe ebenso rasch wieder. Er hatte das Gefühl, er müsste sich den Schweiß von der Stirn wischen, doch er schwitzte nicht.

    »Warum solltest du auch schwitzen? Du tust nichts Falsches.« Die Nacht war mild, eine sanfte Brise strich durch das Fenster, das er immerhin einen Spalt breit hatte öffnen können. Trotz der späten Stunde war es angenehm warm, nicht zu heiß. Die perfekte Temperatur, um zu Hause bei einem kühlen Bier auf der Veranda zu sitzen. Und nicht auf der anderen Seite der Welt in einem dunklen Hotelzimmer zu lauern. Wie ein heimtückischer Mörder.

    »Gott hat dich in dieses Land gebracht, weil du sein Werkzeug bist, verstehst du? Du bist Elija, der Gesandte Gottes. Ihr habt die Gebote Jahwes nicht geachtet und seid dem Baal nachgefolgt.«

    Elijah grunzte unwillig. Noch mehr Bibelzitate. Er fand, sie wirkten pompös und passten nicht zu Madison.

    »Als das Volk das sah, warfen sich alle zu Boden, mit dem Gesicht in den Staub, und riefen: ›Jahwe allein ist Gott! Jahwe allein ist Gott!‹ Und Elija sagte zu ihnen: ›Packt die Propheten des Baal! Keiner darf entkommen!‹.« Am Ende hatte sie die Worte gerufen. Nun beruhigte sie sich wieder. Immerhin.

    Leise wiederholte sie den letzten Satz und betonte dabei jedes einzelne Wort: »Keiner darf entkommen. Das ist Gottes Wille, Elijah.«

    Er spürte das Gewicht ihrer Hand auf seiner Schulter, als sie fortfuhr: »Du magst es nicht, wenn ich so bin. Es tut mir leid. Es geht eben manchmal mit mir durch – der Auftrag ist so wichtig. Das ist das Wichtigste, was du je getan hast. Dein ganzes Leben kulminiert in diesem Moment.«

    Sie biss sich auf die Unterlippe und blickte auf den Boden. »Ich weiß, du bist kein alter Prophet mit einem weißen Rauschebart. Du bist mein Bruder und ich liebe dich. Ich bin sehr stolz auf dich.« Sie beugte sich über ihn und gab ihm einen Kuss auf den Hinterkopf. Wieder raschelte das Kleid.

    Schon vor einiger Zeit hatte er bemerkt, dass Madison nach gar nichts roch. Elijah achtete normalerweise nicht besonders auf Gerüche, aber Madisons Geruchlosigkeit war auffällig. Mom roch morgens nach Seife und Duschgel und abends nach Schweiß und Küche – und irgendwie immer nach Mom.

    Elijah wandte sich zu Madison um. Sie strahlte ihn an. Sie hatte viel von ihrer Mutter, nur die Augen hatte sie von Dad. Sie sah jetzt aus wie die 15 Jahre, die sie tatsächlich war. Oder sein müsste. Warum wurde sie älter? Was hatte das zu bedeuten?

    Er blickte wieder durch das Zielfernrohr. Wer würde dort kommen? Wen würde er töten müssen?

    »Du wirst es wissen. Du wirst den falschen Messias erkennen.«

    Er seufzte.

    Du wirst es wissen … Immer diese Sicherheit in ihrer Stimme. Immerhin hatte sie bisher stets recht gehabt. Warum sollte es diesmal anders sein? Es war wie die anderen Male auch.

    Elijah wandte sich wieder der Waffe zu. Um Gewicht einzusparen, bestand das M40A5 zum größten Teil aus matt olivgrünem Fieberglas, wodurch es ein wenig wie ein Spielzeug wirkte. Aus Plastik – das ist doch keine Waffe, hatte er gedacht, als er das Gewehr zum ersten Mal gesehen hatte.

    Der Marine, der es ihm gegeben hatte, hatte ihm die Skepsis wohl angesehen. Es gibt nichts Besseres, hatte er ihm versprochen und Elijah in die Augen gesehen. Das war auf Okinawa gewesen. Elijah verstand immer noch nicht, wie es ihm gelungen war, eine Tennistasche mit einem Gewehr quer durchs Land zu schmuggeln. Jedes Mal, wenn er einen Polizisten sah, brach ihm der Schweiß aus, weil er befürchtete, dass einer sich mal zeigen lassen würde, was Elijah da mit sich herumtrug. Er musste wohl einen Schutzengel haben. Oder es war Gottes Wille, wie Madison sagen würde. Vielleicht lag es auch daran, dass den meisten Einheimischen seine Anwesenheit immer etwas peinlich zu sein schien; egal, wohin er ging, waren alle augenblicklich mit etwas anderem beschäftigt, sobald sie den Ausländer erkannten. Naja, am Ende war das auch Gottes Wille.

    Das Magazin fasste zehn Schuss und war voll, viel mehr als ein Scharfschütze für diese Art Job brauchte. Das hatte ihm ebenfalls der Corporal erklärt. Wenn der erste Schuss nicht traf, müsste es der zweite tun. Es gab keinen dritten. Die Marines hatten irgendeinen Namen für einen Sniper, der beim ersten Schuss sein Ziel nicht traf, aber er fiel ihm nicht ein. Der Offizier hatte ihm gesagt, wie man einen Schützen nannte, der auch beim zweiten Schuss sein Ziel nicht traf und das hatte er sich gemerkt: Dead Man. Naja, er war ja nicht im Krieg und Elijah war froh, dass er ein paar Versuche mehr hatte. Aber was würde er tun, wenn er den Mann nur verletzte? Sollte er dann nochmals schießen und ihn töten? Einem Mann in den Kopf schießen, der sich vielleicht vor Schmerzen auf dem Boden wand? Er wusste, das würde er nicht tun können, er war doch kein Killer. Und was, wenn er nicht allein war? Wenn ihm jemand zu Hilfe eilte? Wenn ihn jemand zu schützen versuchte und sich vor ihn stellte? Müsste er dann erst den töten? Madison hatte recht, es konnte jede Menge Scheiße passieren.

    Durch das Objektiv betrachtete er den Wirt, der gelangweilt die schäbigen Tische in seinem kleinen Restaurant abwischte. Trotz der Dunkelheit war er klar und scharf zu sehen, wie durch ein gutes Fernglas. Er bräuchte nur den Finger zu krümmen und der Mann würde von einer Kugel getroffen zusammenbrechen, da vorne, ein paar hundert Meter entfernt. Er besaß eine perfekte Tötungsmaschine, ein Höhepunkt Jahrtausende währender Versuche der Menschen, sich auf immer effektivere Art umzubringen. Tod auf Knopfdruck.

    »Und wenn ich nicht schießen kann

    »Glaubst du, Dad hätte gezögert?«

    Nein, gewiss nicht. Elijahs Vater war Polizist gewesen. Aber hätte er es überhaupt so weit kommen lassen wie Elijah, der jetzt im vierten Stock eines Hotels saß und auf sein Opfer lauerte?

    »Du lauerst nicht. Das ist kein Opfer. Du rettest die Welt vor einem falschen Messias. Vor dem Satan.«

    Natürlich war es Sünde, wenn sich jemand als Messias ausgab. Aber hatten solche Verrückten nicht schon immer existiert? Musste man sie aus dem Weg schaffen?

    »Sünde?« Madison winkte ab. »Darum geht es nicht. Das ist kein harmloser Spinner. Der und seine Freunde wollen die Welt verändern. Wenn du es nicht verhinderst, wird es passieren. Möchtest du, dass bald Kirchen brennen? Möchtest du, dass Christen bald wieder verfolgt werden? Möchtest du, dass Unschuldige gekreuzigt werden?«

    »Nein … natürlich nicht.«

    »Sollen noch mehr Menschen sterben? Denk an Matthew … Du hast schon einmal Hunderte gerettet. Jetzt musst du Millionen retten. Du hast es in der Hand. Du bist die Waffe Gottes. Das ist dein Schicksal, vor dem du nicht weglaufen kannst. Jona hat es versucht, Hiob haderte mit seinem Schicksal, aber man kann sich Gottes Willen nicht entziehen.«

    Minutenlang sagte keiner etwas. Elijah setzte sich aufrecht hin und drehte seinen Kopf langsam in alle Richtungen, um die Verspannungen zu lösen. Bei jeder Bewegung knackte es.

    »Es ist gleich so weit«, flüsterte Madison, obwohl es keinen Grund gab, zu flüstern. Und für sie erst recht nicht.

    Elijah nickte. Er entsicherte die Waffe und blickte ruhig durch das Zielfernrohr. Nicht zögern und nicht die Luft anhalten, hatte der Corporal gesagt. Ruhig einatmen, dann ausatmen und abdrücken.

    Bewegung kam ins Bild. Ein paar bange Sekunden fragte er sich, ob er sein Ziel auch erkennen würde. Was, wenn eine ganze Gruppe kam? Und was, wenn er keine freie Sicht zum Zielobjekt hätte?

    Doch es war, wie Madison es vorausgesagt hatte. Er wusste sofort, wer es war und es war ein leichtes, die Person ins Visier zu nehmen. Ausatmen und abdrücken.

    Er atmete ein, dann aus. Ganz ruhig.

    Das Foto

    Picture

    Hamburg

    Ihr Gesicht wurde weltbekannt. Eine Ikone – zu vergleichen eigentlich nur mit berühmten Bildern, wie dem von Che Guevara oder dem Foto, auf dem Einstein die Zunge herausstreckt. Wirklich jammerschade, dass sie nichts mehr davon hatte, weil sie natürlich tot war. Naja, ich bin immerhin ziemlich sicher, dass auch Albert Einstein und Che Guevara keine Tantiemen für den Verkauf ihrer Fotos bekommen haben.

    Im Gegensatz zu ihrem Gesicht war ihr Name übrigens praktisch unbekannt, wahrscheinlich, weil er zu exotisch war. Neben ihrem richtigen Namen, Satsuki (mit einem fast stummen »u«), waren mindestens ein halbes Dutzend falscher im Umlauf, am populärsten war aus irgendwelchen Gründen »Karen«. Nicht einmal im Wikipedia-Artikel war der korrekte Name genannt.

    Das Foto war etwas unscharf, wahrscheinlich, weil es im Schatten aufgenommen worden war. Vielleicht, hatte ich mir mal überlegt, vielleicht müssen Fotos, die zur Legende werden sollen, technische Mängel aufweisen, damit sie authentisch aussehen. Nicht, dass an der Authentizität ein Zweifel bestanden hätte. Das abgebildete Mädchen hatte halblanges, dunkles Haar und die Augen lugten unter einem dichten Pony hervor. Hübsch, ja, aber nichts Besonderes eigentlich. In jeder Stadt der Welt gibt es haufenweise 16-jährige Mädchen wie sie. Vermutlich war es der Blick, der das Foto so berühmt gemacht hatte, dieser unendlich traurige, hoffnungslose Blick.

    Der und natürlich die Tatsache, dass sie sich, wenige Sekunden, nachdem das Foto von einem namenlosen Passanten aufgenommen worden war, am Bahnsteig zwei des Bahnhofs Fujishiro vor den durchfahrenden Limited Express der Joban Line geworfen hatte; unmittelbar gefolgt von vier anderen Mädchen und zwei Jungen.

    Wenn sich eine Person umbringt, ist das tragisch, aber nur eine kurze Meldung in der Lokalzeitung. Wenn sieben junge Menschen aus der Highschool gemeinsam Selbstmord begehen, dann ist das eine Top-Nachricht. Journalisten und Kamerateams aus der ganzen Welt reisten in den verschlafenen Tokyoter Vorort und berichteten, analysierten und spekulierten. Sicher wurde jeder Einwohner dieses Nests ein Dutzend Mal interviewt und jeder Jugendpsychologe und echte oder selbsternannte »Asien-Spezialist« konnte in aller Breite seine Vermutungen und Theorien zum Besten geben.

    Das ging knapp zwei Wochen so. Mit Sondersendungen und langen Artikeln in Zeitungen und Zeitschriften; man kennt das ja von Katastrophen aller Art, von Terroranschlag bis Überschwemmung.

    Danach wusste auch Otto Normalfernsehzuschauer, dass japanische Kinder in der Schule unter enormem Leistungsdruck standen. Dazu waren ihre Eltern mit der Erziehung oft überfordert und die Zukunftsperspektiven der jungen Leute schienen angesichts einer seit Jahren stagnierenden Wirtschaft auch nicht so rosig. War das der Grund für den Selbstmord? Vielleicht. Dazu kam natürlich das Alter, klar. Wie alt war Goethes Werther, als er seinem Leben ein Ende setzte? Älter? Na ja, die jungen Leute sind heute eben schon reifer und machen so was früher.

    Die Programmmanager kramten tief in der Filmkiste und hievten alte Dokumentationen über Kamikaze im zweiten Weltkrieg ins Programm, über Harakiri, Seppukku und wie das alles hieß. So wurde auch dem letzten klar: Japan, das ist eine andere Welt, das begreifen wir ja doch nicht. Etwas mit anderer Kultur und Mentalität, von uns Europäern nicht zu verstehen.

    Die Leute langweilte es da schon lange, es passierte nichts mehr und neue Erkenntnisse gab es auch nicht. Die Berichterstattung einigte sich also darauf, dass das Ganze eine typisch japanische Sache war. Für uns im fernen Europa war das ja auch ganz bequem, denn damit war es nicht mehr unsere Sorge; genau wie Fukushima, Erdbeben oder Tsunamis. Naja, hatten sie eben ein Problem mehr in Fernost. So sorry, aber wir haben unsere eigenen Schwierigkeiten.

    Die Kamerateams zogen ab und die kleine Vorstadt verfiel wieder in einen Dornröschenschlaf.

    Ziemlich genau eine Woche später sprangen in Barcelona sechs junge Rucksacktouristen von einem Turm der Sagrada Familia. Das verwackelte, aber trotzdem schauderhafte Video war eines der meistgesehenen auf Youtube, bis es endlich gelöscht wurde (und gleich darauf auf dieser und ähnlichen Webseiten hundertfach wieder hochgeladen wurde, teilweise mit äußerst geschmackloser musikalischer oder akustischer Untermalung). Natürlich wurde das Bauwerk sofort gesperrt, aber die Selbstmorde beendete das nicht.

    Dann ging es Schlag auf Schlag. Wenige Tage später schnitten sich in Freiburg fünf junge Menschen zwischen 17 und 20 Jahren gemeinsam in einem Auto die Pulsadern auf. Zum Glück gab es davon keine Bilder in den Nachrichten, es muss eine wahnsinnige Sauerei gewesen sein.

    Acht Tote in Ohio, einer nach dem anderen hatte sich die Pistole in den Mund gesteckt und abgedrückt. Das gleiche, blutige Ding, das muss man sich mal vorstellen.

    Und so ging es weiter: Selbstmorde auf der ganzen Welt. Bald sprachen die Medien von einem »Suizid-Virus«, denn es schien sich wie eine Epidemie auszubreiten. Es waren nicht nur junge Menschen, die sich umbrachten, aber die allermeisten waren unter zwanzig Jahre alt. Und das Gros lebte in den so genannten westlichen Industrieländern. Naja, zumindest die meisten, von denen bei uns berichtet wurde.

    In Lyon versuchten sich drei Mädchen mit Rattengift umzubringen, überlebten aber. Als man sie befragte, behaupteten sie, nicht zu wissen, warum sie das getan hatten und zuckten nur ratlos mit den Schultern. Einer gelang es noch im Krankenhaus, sich aus dem Fenster zu stürzen, die beiden anderen wurden in geschlossene Anstalten gebracht. Seitdem habe ich nichts mehr über den Fall gehört.

    Bald tauchten Poster von Satsuki auf, jenem Mädchen, das zu den Ersten gehört hatte. Sie hingen bald in jedem zweiten Teenager-Zimmer. Zum Missfallen der Eltern natürlich. Eine Untersuchung hatte zwar gezeigt, dass es keinen Zusammenhang gab zwischen der Tatsache, ob ein Bild von Satsuki an der Wand hing und einem möglichen Selbstmord, aber erzählen Sie das einer panischen Mutter! Die meisten Eltern rissen das Bild sofort herunter, wenn sie es im Zimmer ihrer Söhne oder Töchter entdeckten. Dieser Ruch des Verbotenen trug sicherlich entscheidend zu seiner Popularität bei. Hey, es sind Teenager, die würden sich auch keinen Popstar ins Zimmer hängen, den ihre Eltern toll finden. Ich denke, sie hätten das Poster kostenlos in allen Schulen verteilen sollen, wenn sie gewollt hätten, dass die Jugendlichen es so richtig uncool finden.

    Manche Eltern versuchten, ihre Kinder Tag und Nacht zu überwachen, einige wohlhabende Mütter und Väter stellten sogar Bodyguards ein. Das brachte aber auch nicht immer den gewünschten Erfolg, bekannt wurde ein Fall, bei dem sich ein Leibwächter gemeinsam mit seinem Schützling umbrachte. Die ebenso bestürzten wie reichen Eltern verklagten daraufhin die Firma, bei der der Bodyguard angestellt gewesen war, auf Schadenersatz in Millionenhöhe. Ich weiß nicht, wie der Fall ausgegangen ist, wahrscheinlich gab es einen außergerichtlichen Vergleich.

    Das Time Magazine beschäftigte sich unter der etwas euphemistischen Überschrift »A Generation Disappears« intensiv mit dem Thema. Die Headline war in einer nach unten verblassenden Schrift gesetzt, damit es auch jeder kapierte. Auf dem Titel war wieder das japanische Mädchen zu sehen. Natürlich.

    Ich will nicht sagen, dass mir das alles am Arsch vorbei ging. Ich bin kein Schwein, auch wenn ich vielleicht manchmal so wirke. Wenn junge Menschen ihr Leben gewaltsam beenden, lässt das wohl niemanden kalt. Die Selbstmordserie hat mich auch betroffen gemacht. Aber ich habe nun mal kein Kind und der einzige Teenager, den ich persönlich kenne, ist die Tochter meines Bruders und die ist glücklicherweise ein richtiger kleiner Sonnenschein. Von daher sicher keine Selbstmordgefahr.

    Ich dachte außerdem, dass die Sache mit den Selbstmorden eben eine Mode ist und dass das irgendwann wieder von selbst aufhört. Wie Tamagotchi oder Plateauschuhe.

    Ich habe auch mal einen interessanten Artikel gelesen, der besagte, dass abgesehen von einem gewissen Nachahmungseffekt die Zahl der Selbstmorde nicht höher sei als früher. Aufgrund des aktuellen Hypes wird nur genauer hingesehen und über jeden Fall ausführlich in den Medien berichtet. Das war irgend so ein Effekt, ich habe den Namen vergessen. So wie nach einem Flugzeugabsturz immer so viel über Störungen oder Unfälle im Luftverkehr in den Nachrichten kommt, dass das Gefühl entsteht, es handle sich um eine »Serie«, was in Wirklichkeit aber überhaupt nicht zutrifft. Ich fand das damals sehr plausibel. Und damit war die Sache für mich gegessen.

    Eher zufällig habe ich mich irgendwann nebenbei mit dem Foto beschäftigt, weil wir dazu eine Idee für eine Anzeige hatten, aber der Kunde hat abgewinkt, die Sache war ihm zu heiß. Höchst bedauerlich, denn es war eine klasse Idee und wäre ein echter Selbstläufer geworden. Virales Potenzial ohne Ende, danach schreien sie doch sonst immer – von den Kreativpreisen, die uns dadurch entgangen sind, will ich gar nicht anfangen. Schade, schade. Aber gut, so sind Kunden eben, oder? Immer gleich die Hosen voll. Nur nichts Neues riskieren, es könnte ja sein, dass irgendjemand das als nicht »p.c.« empfindet, einen kritischen Artikel in der Zeitung schreibt und dadurch ihre Marke beschädigt.

    Die Lage schien sich wirklich beruhigt zu haben, eine ganze Weile hat man nichts mehr erfahren von weiteren Selbstmorden und ich dachte überhaupt nicht mehr daran. Vielleicht hatten die Leute auch einfach keine Lust mehr, etwas darüber zu hören und beschäftigten sich wieder mit wichtigen Dingen, wie dem Dschungelcamp oder dem Wolf, der angeblich irgendwo nördlich von Frankfurt sein Unwesen trieb.

    Eines Tages ist mir ein Briefchen mit einem Jobangebot ins Haus geflattert. Als freier Werber bekommt man immer wieder Anfragen per Email oder Telefon, wenn eine per Post kommt, ist das schon sehr ungewöhnlich. Wenn ich mich recht erinnere, war das das erste Mal. Absender war eine bekannte Freelancervermittlung, von daher keine Überraschung, die hatten mir schon so manchen Job zukommen lassen. Das erstaunliche war die astronomische Strafe, die bei Verletzung der Geheimhaltung zu zahlen wäre: 1.500.000 Euro. Da musste ich zwei Mal hinsehen. Einein-fucking-halb Millionen Euro? Ich fragte mich, ob das nicht sittenwidrig war oder so. Ich habe natürlich trotzdem unterschrieben. Ich kann schweigen wie ein Grab.

    Ich hatte mal einen Job, da ging’s um eine Kosmetikserie für Männer, die ganz neu auf den Markt kommen sollte. Was den Namen der Firma angeht, schweige ich immer noch, weil ich nicht ganz sicher bin, was eigentlich in dem Vertrag stand, den ich damals unterschrieben habe. Also sagen wir mal, es ging um eine Pflegeserie der Firma XYZ. Unter der neuen Bezeichnung sollten die Pflegeprodukte für die Herren der Schöpfung neu positioniert werden. Der streng geheime Name, den sich die Top-Kreativen in monatelangem Brainstorming überlegt hatten: XYZ Man. Wenn ich das irgendjemandem verraten hätte, bevor das Produkt im Handel war, hätte ich 100.000 Euro Strafe zahlen müssen. Ich habe damals gewitzelt, hoffentlich hat von der Konkurrenz niemand ein Englisch-Wörterbuch, sonst erraten sie am Ende noch unsere Namenskreation. Der Marketingchef fand das nicht so lustig. Wenn 100.000 Euro Strafe verrückt waren, was waren dann 1,5 Millionen? Irrwitzig?

    Oder einfach nur verheißungsvoll? Meine Hoffnung war nämlich, dass es um ein richtig großes Ding ging. Ein Job, bei dem ich schön absahnen konnte und außerdem noch etwas für meinen Bekanntheitsgrad tun konnte. Letzterer hat in meiner Branche auch Auswirkungen auf das Bankkonto – wer bekannt ist, bekommt mehr und besser bezahlte Jobangebote.

    Also unterschrieb ich die verrückte Geheimhaltungsvereinbarung und schickte sie zurück an die Freelancervermittlung. Noch am gleichen Tag streckte ich unauffällig meine Fühler aus und versuchte, herauszufinden, ob auf Facebook oder in einem der Freelancerforen jemand etwas von einem großen Projekt gehört hatte, in dem die Vermittlung ihre Finger hätte. Leider entdeckte ich nichts – das kann aber auch daran liegen, dass ich zu unauffällig geforscht habe. Ich hatte eben Schiss.

    Nach ein paar Tagen fürchtete ich schon, dass das Ganze eine Ente gewesen war. Als ich mich endlich dazu durchgerungen hatte, bei der Freelancervermittlung anzurufen (natürlich taktisch geschickt: »Ich habe jetzt eine andere Anfrage, darum möchte ich wissen, ob ihr Angebot noch aktuell ist«), bekam ich Post. Eine Einladung zu einem Workshop. Absender war immer noch die Vermittlung. Angeblich ging es um eine neue Kampagne. Klasse, dachte ich, vielleicht handelt es ja um ein neues iPhone oder so etwas. Leider wusste ich immer noch nicht, für welchen Kunden ich tätig sein sollte, aber schlimmer als die Versicherung, für die ich neulich einen 24-seitigen Geschäftsbericht verfasst hatte, konnte es auch nicht sein. Zumal die Bezahlung, die sie mir anboten, wirklich erstklassig war, sage und schreibe drei mal mehr als das, was ich normalerweise verlange – und das, bevor ich mich herunterhandeln lasse. Stattfinden sollte das Ganze in Chicago. Warum nicht, ich hatte in den nächsten Wochen sowieso nichts vor. Zumindest nichts, was ich angesichts von so viel Geld nicht liebend gerne abgesagt hätte.

    Milwaukee

    Jeden Augenblick würden die ersten Läufer auftauchen. Atemlos berichtete der Ansager vor Ort, wer gerade vorn lag. Elijah sagten die Namen nichts. Klar, er hatte auch keine Ahnung von Triathlon. Aber er hatte seiner Mutter versprochen, etwas mit Matt zu unternehmen, und der Milwaukee Triathlon genoss anscheinend eine gewisse Bekanntheit. Okay, es war nicht der New York Marathon, aber immerhin. Und man konnte kostenlos zusehen, zumindest wenn man sich damit zufriedengab, dass man nicht auf der schicken Zuschauertribüne direkt am Zieleinlauf saß, sondern etwas weiter vorne am Straßenrand stand. Er warf einen Blick auf Matthew. Der Junge schien sich mehr für eine schwarzhaarige Frau auf der Tribüne zu interessieren als für den Sport. Naja, es war ja auch noch nichts zu sehen.

    »Wie lange dauert das hier eigentlich? Ich habe später noch Bandprobe …« Matt schüttelte seine langen, dunklen Haare. Elijah hasste es, wenn er das tat. Warum ließ sich jemand die Haare so lange wachsen, dass er kaum noch aus den Augen sehen konnte? Dazu das Bürsten, Haarewaschen und Föhnen, was für ein Aufwand. Das war doch weibisch.

    Seine Blicke wanderten wieder auf die Tribüne. Die Frau trank einen Schluck Cola Light aus der Dose und warf den Kopf nach hinten. Sie hatte einen langen, hellen Hals, der einen starken Kontrast zu ihren dunklen Haaren bildete. Die Haare sahen irgendwie zu schwarz aus, fast schon blau. Sicher gefärbt, das würde Mutter nicht gefallen, obwohl sie ihre Haare selbst kolorierte, seitdem sie graue Strähnen darin entdeckt hatte. Die Lippen waren auch zu rot, das Gesicht ein wenig zu blass. Sie sah ja aus wie eine Puppe. Oder wie Schneewittchen. Hatte sie

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