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Kommissar Katzorke: Kippen und Meer
Kommissar Katzorke: Kippen und Meer
Kommissar Katzorke: Kippen und Meer
eBook366 Seiten4 Stunden

Kommissar Katzorke: Kippen und Meer

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Über dieses E-Book

Sommer, Ferienbeginn in Berlin. Alle wollen weg, aber manche müssen bleiben, weil sie pleite sind. Andere haben die Reise schon gebucht, doch ihre Haustür lässt sich plötzlich nicht mehr öffnen. Der Ferienflieger fliegt ohne drei Passagiere ab.
Bald stellt sich heraus, dass sie nicht nur zu dritt im Haus sind.
Viel Arbeit wartet auf den fast erblindeten Kommissar a.D., Katzorke, der in der Berliner Unterwelt immer noch einen einschlägigen Ruf genießt. Mancher bereut, ihn bei Gelegenheit nicht komplett ausgeschaltet zu haben, denn vor dem neuen Coup sollte alles abgesichert sein. Vor allem, wenn man in Neukölln noch Schulden hat.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum1. Dez. 2017
ISBN9783742763365
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    Buchvorschau

    Kommissar Katzorke - Volker Lüdecke

    Der Flug der Mandarine

    Der Schüler Faruq lernte die Regeln der Schulordnung erst kennen, als seine Klassenlehrerin ihm einen Verweis erteilte.

    „Das Werfen mit Gegenständen wie Dosen, Schneebällen, Kastanien, Steinen, usw. ist grundsätzlich verboten. Ausgenommen davon sind Bälle, die für Pausenspiele von Lehrern/innen dafür ausgegeben werden."

    Er hatte mit einer Mandarine geworfen. Oder war es eine Clementine? Egal, die Frucht flog quer durch das Klassenzimmer auf die Eingangstür zu, während sie sich gerade öffnete und traf halb mittig das Gesicht der Frau Fischer, seiner Klassenlehrerin. Perfektes Timing gelingt meistens nur, wenn man es absolut nicht braucht.

    Patsch! Das Geräusch des Aufschlags würde ihm für immer unvergesslich bleiben. Saft und Fruchtfleisch der Mandarinenscheiben spritzten beim Einschlag und befeuchteten Nase und Wangen der 10 b Klassenlehrerin am Hans-Carossa-Gymnasium, Berlin Kladow. Direkt gepresster Fruchtsaft lief ihr in den Ausschnitt, obwohl sie sich sofort nach dem Einschlag mit ausgebreiteten Armen seltsam vornübergebeugt hatte.

    Getobt hatte die Klasse, eine aberwitzige, unkontrollierte Schadenfreude brach los. Plötzlich brüllten die Schüler ihre unterdrückten Sorgen und Ängste ungehemmt heraus. Party, schon drei Monate vor dem Beginn der großen Ferien? Sowas von genial!

    Aber so etwas führt nicht geradewegs zu guten Noten. Deutsch und Mathe, beides Fächer, in denen Faruq knapp zwischen vier und fünf lag, boten einen Ermessensspielraum. Obwohl der Mandarinensaft schnell abgetrocknet war und das Wurfgeschoss nur eine leichte Rötung auf Frau Fischers blassem Teint hinterlassen hatte, etwas bleibt doch immer hängen.

    Auch Klassenlehrerinnen können nachtragend sein.

    Am Zeugnistag vor den Sommerferien hielt sich Faruq auf dem Pausenhof auf. Seine Mitschüler redeten über Ferienpläne. Allein an ihren exotischen Reisezielen wurde deutlich, dass das Einzugsgebiet der Schule, bis auf wenige Einzelfälle, kein sozialer Brennpunkt war.

    Nicht bei allen höheren Töchtern und Söhnen war die Stimmung ausgelassen. Vor allem, wenn die Versetzung gefährdet war. In einigen Gesichtern spiegelte sich die Sorge vor der Zeugnisvergabe in der nächsten Stunde, obwohl sie sich nichts anmerken lassen wollten. In manchen Familien des bürgerlichen Mittelstands herrschte seit der Grundschule ein Leistungsdruck, der bei missratenen Leistungsnachweisen Freizeitinteressen gefährdete und sie bei ganz schlechten Zeugnisnoten sogar unter sich begrub. Was einigen an diesem Tag drohte, war allen klar.

    Faruq zitterte weniger aus familiären Gründen, sondern wegen des Vorfalls mit der Mandarine. In den Wochen darauf hatte Frau Fischer immer schärfere Kritik an seinen mäßigen Deutschkenntnissen geübt. Zwar resultierten sie aus der Herkunft seiner Eltern aus dem Iran, aber Frau Fischer ließ das als Ausrede neuerdings nicht mehr gelten. Schließlich sei er in Deutschland geboren und es stehe ihm frei, auf Deutsch zu kommunizieren und die Sprache zu üben.

    Faruq war zwar fast sicher, dass es schon nicht so schlimm kommen würde, aber ein dumpfes Gefühl spürte er trotzdem in der Magengrube. Für zusätzliche Spannung sorgte die neben ihm auf der Bank sitzende Klassenkameradin Deborah, die wie versehentlich mit ihren schwarz lackierten Fingernägeln von seinen hübschen dunklen Locken an federleicht über seinen Nacken Wirbel für Wirbel seines Rückens hinabtastete. Er trug nur ein dünnes T-Shirt, so dass seine Nackenhaare allesamt gleich steil aufrecht standen.

    „Was ist los, Faruq?"

    Sein bester Schulfreund Jonas Poborskie, ein kantiger Bursche mit Kurzhaarschnitt, grinste ihn breitmäulig an.

    „War das vor zwei Monaten vielleicht dein entscheidender Wurf?"

    Alle aus seiner Klasse, die um die Sitzbank herumstanden, lachten und erlebten den legendären Mandarinenflug noch einmal nach. Nur Faruq presste seine Lippen aufeinander und blies seine Wangen auf, wodurch er aussah wie ein Fallschirmspringer im freien Fall. Zu Hause hatte er die Grimasse vor dem Spiegel geübt. Am Ende seiner Darstellung ließ er einen ausgedehnten Pfiff hören, dem ein fulminantes Aufschlagsgeräusch folgte, das seinen harten Aufprall als „Sitzenbleiber" dramatisieren sollte. Das Renommee dieses Titels wollte er den Versammelten auf seine Weise drastisch vor Augen führen.

    Allgemeines Gelächter. Einige Mitschüler konnten sich nicht in seine Lage versetzen und zeigten sich schadenfroh. Wie er sich nach der Zeugnisvergabe als Sitzenbleiber tatsächlich fühlen würde, wenn es dazu käme, konnte Faruq sich nicht einmal selbst vorstellen.

    Logik und Emotionen zu vereinbaren, war für ihn ein Problem. Auch Ironie konnte Faruq nur selten gleich erkennen und daher auch nicht schlagfertig erwidern. Dafür verstand er sich umso besser auf die Darstellung witziger Szenen. Damit stand er in den Pausen im Mittelpunkt.

    Sein Spitzname „Boxer" stammte daher. Mit seiner breiten Nase und seinen schwarzen Brauen, die sich als zwei hohe Bögen über seinen Augen wölbten, sah er markant aus. Doch erst sein pantomimischer Live-Boxkampf mit Treffern eines imaginären Gegners hatte ihn in den Rang eines Entertainers befördert. Streber nannten ihn abfällig Klassenclown. Er konnte sein Gesicht wie ein Sofakissen zerknautschen und total echt einen Zombie mimen. Seine beste Performance aber blieb der Boxkampf, bei dem er einen überlegenen Gegner leibhaftig auferstehen ließ. David gegen Goliath fanden alle phänomenal.

    Zwei Stunden später, nach der Zeugnisvergabe, redeten Faruq und Deborah über den Tod.

    „In Japan springen Manager aus dem zehnten Stockwerk, wenn sie versagen."

    „Du bist aber kein Manager."

    Mit ihren schwarz geschminkten Lippen im Gruftie-Outfit wirkte Deborah wie ein Todesengel, aber genau das Gegenteil traf auf sie zu. Sie stand Faruq in der bitteren Stunde bei. Aus persönlichen Rachegelüsten hatte Frau Fischer Faruq gecancelt, das war klar. Was das Leben noch für einen Sinn machte, wenn er aus seinen sozialen Beziehungen herausgerissen würde, hatte sie nicht interessiert.

    „Diese böse Fee! Ich hasse sie."

    „Hast Du noch Kontakt zu einem der Sitzenbleiber vom vergangenen Schuljahr?"

    Scheu blickte Faruq bei seiner Frage auf die Erde, sah aus den Augenwinkeln, wie Deborah den Kopf schüttelte. Ein Abgrund öffnete sich, und er schonte sich nicht, hinabzublicken.

    Vielleicht wäre es besser, sich nach einer solch einschneidenden Entscheidung künftig aus dem Weg zu gehen, überlegte er. Für ihn bedeutete das allerdings eine noch größere Katastrophe. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er eine enge Beziehung zu einer Mitschülerin, eine Nähe, wie er sie noch nie zuvor empfunden hatte. Eine dicke Freundschaft existierte bereits länger, aber seit kurzem hoffte er, dass mehr daraus werden könnte.

    Noch am frühen Morgen vor der Schule war ihm die Vision, dass sie Hand in Hand auf einem geraden Weg in ihre Zukunft gehen würden, ganz natürlich erschienen. Drei Stunden später, auf dem Spielplatz, wo sie für gewöhnlich rauchten, quälte ihn der Gedanke, dass ihre Freundschaft nach den Sommerferien vorbei sein könnte.

    In Weltuntergangsstimmung verließen sie den Spielplatz und liefen, ohne auf den Weg zu achten, durch einige Straßen mit Gärten vor Reihenhäusern, dann durch eine Siedlung mit Einfamilienhäusern und danach entlang einer vielbefahrenen Straße, bis sie plötzlich, immer noch ohne ein konkretes Ziel, vor der alten Zitadelle standen.

    Düster ragte die Renaissancefestung am Zusammenfluss von Havel und Spree vor ihnen auf, umgeben von Wassergräben und Wällen, an denen sie entlangspazieren konnten. Faruq war hier gern unterwegs, denn er liebte alte Gemäuer, deren Geschichte ihn glücklichere Zeiten ersinnen ließ. Seine Eltern hatten ihm aus ihrer früheren Heimat Iran berichtet, weshalb Teheran für ihn zu einem Sehnsuchtsort geworden war. Er selbst hatte die Stadt noch nie gesehen, so dass seine Fantasie nach einem Ersatz dafür verlangte. Diese alte Zitadelle gab ihm ein Gefühl von Zugehörigkeit, als gäbe es hier, inmitten der Altstadt von Spandau, ein geheimnisvolles altes Persien.

    „Hier gibt es jede Menge Fledermäuse."

    Deborah lächelte ihn mit einem gespielten Ausdruck von Schaudern an, so dass er gleich ein Batman Gesicht formte und Bewegungen machte, als klettere er gerade eine Skyscraper-Fassade hinauf. Ihre Traurigkeit löste sich für einen Moment auf und sie rannten bis zum Wasser, dessen Oberfläche wie ein glänzender Spiegel vor ihnen lag. Auf der Ufermauer hockten sie sich nebeneinander und ließen ihre Füße über dem glitschigen Moos baumeln, das unter ihnen an den Steinen heraufwuchs.

    Auf einmal fasste Deborah Faruqs Hand.

    „Ich will nicht, dass es vorbei ist. Verstehst Du?"

    In ihren Augen schimmerte ein bewegender Glanz, für ihn ein Anblick, dessen Schönheit alles übertraf, was er bisher in seinem Leben gesehen hatte.

    „Ich auch nicht."

    Es brauchte keine weiteren Worte, um dem Glücksgefühl ihrer festen Verbundenheit noch verbalen Nachdruck zu verleihen. Dies alles war ihnen ganz unbekannt, aber fühlte sich rund und vollkommen an in diesem Augenblick, wie sie da so saßen, ihre Handflächen und Finger einander berührend.

    So saßen sie eine ganze Stunde fast bewegungslos, zart aneinander gelehnt, das Neue in sich gleichzeitig mit allen Sinnen auskostend, mit einer bangen Zuversicht, dass es mit ihnen weitergehen könnte.

    „Wenn ich jetzt sterben müsste, hätte ich schon schön gelebt."

    „Nein, uns wird es immer geben. Sagt mir mein Bauch. Weißt Du, worüber er noch mit mir spricht?"

    Faruq blinzelte verwirrt, wusste keine Antwort.

    „Er sagt: hallo, Faruq, ich lade dich zu ´ner Pommes ein, hab nämlich dollen Hunger!"

    Deborah ergriff die Initiative, um den großen, zugleich betrübten und beglückten Jungen Faruq mit sich in eine fröhlichere Stimmung hinüber zu reißen, zurück in eine greifbare Realität. An der Hand zog sie ihn mit sich, wobei sie, lächelnd vor ihm rückwärtsgehend, einen tiefen Blick in seine weit geöffneten dunklen Augen wagte.

    Dort entdeckte sie genau das, wonach sie sich selbst schon so lange gesehnt hatte.

    Paintball-Action

    Vom sechsspurigen Berliner Stadtring aus bog der schwarze Honda Jazz mit den beiden Männern vorn in die Ausfahrt Siemensdamm ab, fuhr durch den Kreisel in die Siemensallee und dann weiter über Nonnendammallee Richtung Spandau.

    Bald tauchten linkerhand die qualmenden Kühltürme des Kraftwerks Reuter auf, was die beiden Männer Mitte dreißig nicht weiter beachteten. Sie dachten über den Aufwand ihres Jobs nach, ihr Budget war begrenzt. Weshalb sie bei der günstigsten Autovermietung ein Fahrzeug der Kompaktklasse gewählt hatten.

    Immerhin fuhren sie dadurch einen komplett unauffälligen Wagen, dessen Erscheinen an irgendeinem beliebigen Ort der Stadt wohl keinem Passanten jemals im Gedächtnis bleiben würde. Die Soundanlage des Radios mit ihren klaren Bässen klang hingegen überdurchschnittlich.

    Schweigend saßen Till und Drago nebeneinander und lauschten dem Rundfunk von Jazz Radio, während die Klimaanlage auf höchster Stufe gekühlte Luft in den Innenraum pumpte. Als die feinen Jazzklänge aus dem Radio durch Werbung für einen Immobilienhändler unterbrochen wurden, schaltete Till, der am Steuer saß, sofort das Radio aus.

    „´ne Runde Paintball, um auf Betriebstemperatur zu kommen?"

    Drago nickte und so fuhren sie nicht, wie geplant, weiter geradeaus, sondern bogen rechts in die Daumstraße ab, über die sie direkt zu einer großen Paintball-Halle gelangten, wo für sie alles bereitlag, was für ein fetziges Shootout notwendig war.

    Wenig später kamen sie umgekleidet aus den Kabinen und schlenderten lässig in die Halle. Ausgestattet mit Gesichtsmasken und in zerschlissenen Trainingsanzügen lauerten sie sich dort gegenseitig auf, duckten sich hinter farbgetränkte Barrikaden, immer auf einen Fehler des Gegners bedacht, um ihn mit zielgenau abgefeuerten Gelatine-Kugeln am Körper zu treffen.

    Nach einer Stunde heftigem Schusswechsel, mit zahlreichen akrobatischen Einlagen und Überraschungsangriffen, nahmen sie schwitzend ihre mit Farbe getränkten Gesichtsmasken ab und schlenderten zurück in den Umkleidetrakt. In einem gekachelten Raum ließen sie heißes Wasser auf ihre strapazierten Muskeln perlen. Um diese Uhrzeit waren sie dort ganz ungestört und von der Action gut entspannt.

    „Ballern is einfach geil! Wenn der Boss schlecht zahlt, sollte Arbeit nicht nach Maloche schmecken."

    Till seifte dabei seinen deutlich schmaleren, aber drahtigen Oberkörper ein, neben sich den mit Muskeln und schwarzen Haaren verzierten Body von Dragomir. Der dachte gerade über anderes nach und schwieg.

    „Warum René dit jetzt ooch noch braucht, bei seiner angespannten Finanzlage?"

    Till ereiferte sich aus Nervosität, so kurz vor der Ausführung ihres Auftrags.

    „Vielleicht, weil er Schiss vor Katzorke hat, dem Vollblinden. Hatte ihn seinerzeit in den Bau gebracht. Sechs Jahre Vollpension?"

    Sie schauten sich an und mussten lachen. René war in ihren Augen eine kuriose Type. Kettenraucher, immer nervös. Aber mit Humor, ein netter Kerl. Hatte mit den Niederlagen seines Lebens nicht hinter dem Berg gehalten, wie manch andere Kandidaten. Eben viel Pech gehabt.

    „Zum Glück ist der neue Coup nicht auf seinem Mist gewachsen. Wetten, der Job heute stammt auch nicht von ihm?"

    Drago hielt seinen Kopf schief, damit das Brausewasser wieder aus dem Ohr laufen konnte.

    „Finde, manchmal tut René so, als wäre er in Wahrheit der Boss. Diesen Ron würde ick ja gern mal persönlich kennenlernen."

    Till kickte eine leere Shampooflasche weg. Drago schaute gleichgültig, wickelte sich in sein Handtuch und trocknete seinen Körper ab.

    „Ja, ick weeß, so läuft det nich. Alle bleiben anonym, außer wir. Kann keener den anderen verpfeifen. Wahrscheinlich heißt der nich ma Ron. Vielleicht Kasimir, oder so."

    Drago hatte immer noch keine Meinung und verschwand barfuß in einer der Umkleidekabinen.

    Allein mit sich sammelte Till die leere Shampooflasche vom Boden auf und ließ Wasser von der Dusche in die winzige Öffnung träufeln, schüttelte sie dann und seifte mit dem Rest Shampoo seinen ganzen Körper ein. Wenig später kam Drago angekleidet aus der Umkleide und verzog sein Gesicht. Till stand immer noch unter der Dusche.

    „Oh, nee!"

    Eine verbale Äußerung von Drago war so selten wie ein freundlicher Busfahrer bei der BVG. Meistens räusperte er sich bloß, während Till ständig das Bedürfnis hatte, sich mitzuteilen. Außer, er hörte Musik oder spielte an einem Automaten. Das rührte daher, dass er als Radiokind aufgewachsen war. Anstelle von anwesenden Eltern hatte er als Kind immer ein Radio bei sich getragen, das er immer mit dem Lautsprecher an sein linkes Ohr hielt, um seine Nerven zu beruhigen. Welche Musik der Sender spielte, war ihm vollkommen schnuppe, Hauptsache, seine Einsamkeit wurde übertönt.

    Beim Zocken am lustig klingenden Automaten hatte er Drago kennengelernt, der ein feiner Kerl war, an dessen Seite er sich stark fühlte. Er war breit und kräftig und wirkte zu jeder Tageszeit so, als hätte man ihn gerade aus dem Tiefschlaf geweckt. Er machte ständig ein Gesicht, als müsse er sich neu orientieren und alles übrige würde ihn geradewegs dabei stören.

    Drago fand, dass Till sich an ihn drangehängt habe und er ihn dummerweise mit sich herumschleppen musste, während Till fand, dass Drago sich an ihn drangehängt habe, weil er ohne ihn nicht klarkam.

    Till fand das nicht schlimm, ihn störte bloß, dass er meistens nicht redete.

    „Quatsch keine Opern, Drago!"

    Damit verschwand Till in der Umkleidekabine.

    Auf gutem Weg

    Mirandas Postkarte, die am Morgen in der Vivantes-Komfortklinik eingetroffen war und später mit der übrigen Post in den Einzel- und Zweibettzimmern der Reha-Station verteilt worden war, las Katzorke akribisch und mit großer Aufmerksamkeit durch.

    Allein, dass er die Buchstaben entziffern konnte, war für ihn eine Sensation. Die Umrisse der Schrift, die er unter einem Lupenglas betrachtete, wirkten zwar noch weder scharf noch kontrastreich, aber Hell und Dunkel konnte er klar unterscheiden, vor allem, wenn er mit einer starken Taschenlampe einen Lichtkegel auf Mirandas Schreibschrift fokussierte.

    Wie ein Erstklässler, der gerade Lesen lernt, ging er Buchstabe für Buchstabe durch, merkte sich dann Wort für Wort, um am Ende daraus einen ganzen Satz zu bilden, den er in seiner Gesamtheit noch nicht auf einmal komplett überblicken konnte.

    Was er entzifferte war, dass Miranda und Sandor gerade Urlaub auf Teneriffa machten. Miranda litt unter einem schmerzhaften Sonnenbrand und Sandor war der Meinung, dass Teneriffa der ideale Drehort für einen Krimi wäre, bei dem ein als Frau verkleideter Gangster arglose Bikinischönheiten auf seine Motoryacht lockte.

    Katzorke schmunzelte über Sandors Einfall, denn gemessen an seinen langjährigen Erfahrungen im Dienst der Berliner Polizei fand er die Handlung doch eher unwahrscheinlich und wenig glaubwürdig. Sandor war also immer noch der große Kindskopf, genauso, wie er ihn zusammen mit Miranda kennengelernt hatte.

    Seine aus früheren Tagen lieb gewonnenen Freunde grüßten ihn herzlich und wünschten ihm viel Erfolg bei der Therapie seines Sehvermögens. Katzorke freute sich darüber. Die Karte endete mit einem spanischen Wort: Suerte!

    Versonnen träumte er sich ans Meer der Insel Teneriffa, so intensiv, dass Meeresrauschen und Strandgerüche ganz nah schienen, bis er für einen Moment die Eingebung hatte, draußen auf dem Flur vor seinem Einbettzimmer tatsächlich Mirandas Stimme zu hören. Gleich lauschte er zur Tür, als müsse sie sich jeden Augenblick öffnen und die junge Frau mit einem duftenden Blumenstrauß an sein Bett treten. Doch nichts dergleichen geschah.

    Seit dem fast vollständigen Verlusts seines Augenlichts überfielen ihn gelegentlich solche Tagträume. Da es um ihn herum meistens düster war, fand er helles Licht nur in seinen Erinnerungen. Sinnestäuschungen, eine Vermischung von Traum und Wirklichkeit waren die Folge.

    Vermutlich waren Krankenschwestern scherzend in dem Flur vor seinem Patientenzimmer vorbeigezogen, und er hatte ihr Lachen in seinen Tagtraum integriert. Er wünschte sich so sehr, einmal Mirandas Gesicht zu sehen, um seine Vorstellung von ihr mit ihrem wirklichen Aussehen zu vergleichen. Vielleicht sah sie ganz anders aus, als ihre Stimme vermuten ließ?

    Miranda hatte ihn auf das bionische Auge aufmerksam gemacht. Eine Chance für Erblindete, und das nicht erst in der Zukunft, hatte sie gesagt. Zwanzig Jahre lang hatten Forscher an diesem Implantat gearbeitet, die Ergebnisse wurden mit dem Fortschritt der Medizintechnik immer besser.

    „Du musst das einfach ausprobieren, bitte!"

    Mit eindringlicher Stimme hatte sie ihn dazu aufgefordert, fast wie eine Tochter, die sich Sorgen um ihren Vater macht. Längst hatte er Miranda in seinem Herzen adoptiert und auch ihren Freund Sandor mochte er, aber auf etwas distanziertere Weise.

    Nach der erfolgreichen Augenoperation in einer Heidelberger Spezialklinik war Katzorke zur anschließenden Reha zurück in seine Heimatstadt Berlin gereist. Der Zweck der Reha in der Klinik bestand darin, sein Gehirn an die neuen Reize der Sehnerven zu gewöhnen. Er stellte sich das so vor, dass durch alte, verrottete Kabel plötzlich wieder Starkstrom fließen sollte. Die Gefahr eines Kurzschlusses, fürchterliche Kopfschmerzen, musste er in Kauf nehmen, wenn er zumindest ein Sehen in Schwarzweiß, aus Hell und Dunkel, wiedererlangen wollte.

    „Ein rundum entspannter Körper ist für die Bildung von neuen Gehirnzellen eine der wichtigsten Voraussetzungen. Stress sollten Sie auf jeden Fall vermeiden, und überanstrengen Sie sich nicht. Seien Sie nicht zu ehrgeizig!"

    Dr. Globb, die Leiterin der Reha-Abteilung, hatte ihn gleich nach seiner Ankunft in die Maßnahmen und Ziele der Therapie eingewiesen. Das individuell auf ihn zugeschnittene Tagesprogramm diente vor allem der Förderung seines Kreislaufs. Mit leichten sportlichen Aktivitäten sollte eine bessere Durchblutung erreicht werden, um insgesamt seine Körperzellen mit mehr Sauerstoff zu versorgen. Alles war genau aufeinander abgestimmt, auch eine spezielle Ernährung sollte den Zellaufbau fördern.

    Katzorke hatte sich gespannt auf alles Neue eingelassen. Vor allem ließ er sich gern massieren, paddelte wohlig in dem badewannenwarmen Wasser des im Keller der Klinik befindlichen Schwimmbeckens oder radelte auf einem Indoor-Bike durch die Landschaft seiner Imaginationen.

    Nach den ersten Tagen seines Aufenthalts konnte er jedoch frustriert noch keine Besserung seines Sehvermögens feststellen. Im Gegenteil, versuchte er einen schwarzen Punkt auf einem ein Meter entfernten weißen Blatt zu fokussieren, blieb das Ergebnis so unscharf wie zuvor. Ja, er glaubte auf einmal sogar, eine noch größere Unschärfe wahrgenommen zu haben. Auf seine Bemühungen folgten bohrende Kopfschmerzen, für die der Begriff Migräne ein unverschämter Euphemismus war. Das Sehtraining fand immer öfter vor einem Bildschirm statt, was den ehemaligen Kommissar an Verwaltungsarbeit erinnerte und ihn genauso ärgerte wie früher während seines Berufslebens.

    „Diese Heidelberger Metzger haben mir den Sehnerv gezogen, meine letzten Sehsynapsen ruiniert."

    Völlig unvermittelt hatte er lautstark gegen einen jungen Assistenzarzt gewütet, und Dr. Globb bemerkte besorgt, dass seine Bereitschaft zur Kooperation nachließ. Daher richtete sie die Abstände zwischen den Trainingseinheiten neu ein und ermunterte ihn, bei den Übungen nicht nachzulassen.

    „Nur Mut, Herr Katzorke! Sie schaffen das."

    Er ließ sie nicht wissen, wie sehr solche Floskeln ihn ärgerten.

    Die Gesamtdauer seines Aufenthaltes in der Klinik war bald um eine Woche verlängert worden, was Katzorke in seinem niedergeschlagenen Zustand vollkommen gleichgültig war. Zwar genoss er die Unterhaltungen mit fremden Menschen, die sich zufällig im Restaurant oder auf dem Flur ergaben, seine zunehmende körperliche Entspanntheit und das ungewohnte Ambiente nahm er jedoch trotzig einfach nicht zur Kenntnis. Er weigerte sich sogar zu sagen, er sei entspannt und deswegen glücklich. Die Stimmen der Krankenschwestern und die Gerüche aus der Restaurantküche nahm er bald viel intensiver wahr als am Anfang, was ihm einen ständigen Appetit bescherte. Nur besser sehen konnte er auch nach einer Woche Aufenthalt immer noch nicht.

    In der Klinik hielten sich vor allem zahlungskräftige Ausländer aus dem arabischsprachigen Raum auf, sowie einige Briten und Amerikaner.

    Ihm fiel auf, dass der gesetzlich krankenversicherte Berliner Durchschnittspatient hier offenbar keinen Zutritt hatte. In seinem beruflichen Streben nach Sicherheit hatte Katzorke frühzeitig Versicherungen für alle erdenklichen Lebenslagen abgeschlossen. Die teuersten Therapien und besten Fachärzte standen nun angeblich für ihn bereit.

    „Morgens wird es hell und abends wird es dunkel."

    Mit tonloser Stimme beschwerte er sich bei seinem Schicksal. Die Klimaanlage fiel an diesem Sommertag im Juli aus, und manche Patienten in den kleinen Zimmern wickelten sich zum Abkühlen in nasse Laken.

    Katzorke verbrachte den Tag matt in einem fortwährenden Zwielicht in seinem Zimmer. Am Nachmittag schwebte ihm ein Krankentransport nach Teneriffa vor. Am Strand ließe sich solch eine Hitze genießen.

    Schuldenberge

    An diesem heißen Julitag schwitzte René besonders viel, weil er, von Natur aus schon extrem nervös, noch nervöser war. Seit einigen Jahren war er bei entscheidenden Leuten im Rückstand und hatte nun Maßnahmen eingeleitet, seine Zahlungslage zu verbessern. Es ging nämlich das Gerücht, dass gewissen Geschäftsleuten allein bei der Erwähnung der vier Buchstaben seines Vornamens speiübel wurde. Er konnte sich ausmalen, dass dieser Umstand, wenn er denn stimmte, auch nicht gut für seine Gesundheit war.

    Mit seiner säumigen Zahlungsweise hatte er ihnen vor Augen geführt, wie gierig und doof sie gewesen waren, ihm aufgrund von nebulösen Versprechungen Kredite zu gewähren. Doof sieht nun mal keiner gerne aus, besonders, wenn andere bedeutende Kreise darüber lachten.

    Die Außenstände summierten sich inzwischen auf einen Betrag, den sie nicht einfach still und heimlich per Radiergummi abschreiben konnten. Eigentlich schien es unmöglich, das Problem René einfach auszuradieren. Weder seine Schulden noch seine Person. Davon war er bisher relativ sicher ausgegangen, bis zu diesem Gerücht. Im „Sandmann", seiner Stammkneipe, hatte er es erfahren.

    René überlegte eigentlich seit Jahren täglich, wie er einen Ausweg aus seinem Dilemma finden könnte. Die gemächlichen Zeiten, als vom Hinterzimmer einer Gaststätte aus, bei Kippen und Schnaps namenlose Konzerne geleitet wurden, waren bekanntlich vorbei. Unmöglich für René, bei seinen Gläubigern einfach mal vorbeizugehen, um anzuklopfen, ob denn eventuell modifizierte Ratenzahlungen für ihn drin wären?

    Persönliche Kontakte fanden in namenlosen Syndikaten nur noch in Chefetagen statt. Und die residierten nicht mehr in der deutschen Hauptstadt. Berlin hatte eben keinen Meerblick zu bieten.

    Keiner, der im Geschäft bleiben wollte, durfte mehr Kontaktrisiken eingehen. Allein das in die Nähe kommen von zwei überwachten Handys bedeutete ja beinahe schon den technischen Beweis für einen persönlichen Kontakt. Auch wenn vor Gericht behauptet werden konnte, man sei sich zufällig begegnet. Ab einer gewissen Anzahl von Zufällen fielen solche Verteidigungsstrategien juristisch in sich zusammen.

    René, der nach dem Frühstück den ganzen Vormittag in der Ankerklause am Kottbusser Damm zugebracht hatte, blieb daher nur die Möglichkeit, eine verschlüsselte Email an einen anonymen Account zu senden, um seine Geldgeber darin höflich und unterwürfig um die Stundung seiner Schulden zu bitten. Und um ihnen im nächsten Absatz gleich seinen neuesten Coup anzupreisen, der ganz gewiss ein

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