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Nur ein Fremder hier
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eBook297 Seiten4 Stunden

Nur ein Fremder hier

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Über dieses E-Book

Julius ist Koch. Nach seiner Ausbildung in einem Spitzenhotel kommt er voller Selbstzweifel in einer fremden Stadt an, mit einem Kopf voller Träume, aber auch reichlich Sorgen im Gepäck. Wie ist das neue Team? Wird er den neuen Herausforderungen gewachsen sein? Wird er sich in der neuen Umgebung wohlfühlen? Doch die anfänglichen Ängste werden schon bald zerstreut. Mit dem neuen Küchenteam wächst er rasch zu einer unzertrennlichen Bande von echten Freunden zusammen. Die Stimmung ist gut, das Restaurant erfolgreich. Das Hotel sieht den Erfolg – und erwartet noch mehr. Die Hingabe zu seinem Beruf, aber vor allem auch der alltägliche Stress in der Küche, führt immer stärker zur Aufgabe des Lebens außerhalb seines Berufs. Zuerst glaubt er noch, in der "Welt da draußen" schon nichts zu verpassen, wenn er sich nur ganz seiner Leidenschaft widmet. Doch Apathie, Gleichgültigkeit, Alkohol und totale Erschöpfung bestimmt zunehmend die wenigen Stunden und Tage, in denen er nicht am Herd steht. Die regelmäßigen Fünfzehn-Stunden-Tage sind aber schon längst nicht mehr sein größtes Problem als das Schicksal unvermittelt zuschlägt …
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum30. Dez. 2019
ISBN9783750268012
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    Buchvorschau

    Nur ein Fremder hier - Helge Unterweg

    Helge Unterweg

    Nur ein Fremder hier

    Roman

    2019

    Impressum

    Texte:             © Copyright Helge Unterweg

    Design:            © Copyright Helge Unterweg

    Umschlagfoto:      © Tim Marshall

    Verlag:            Helge Unterweg

    Kolumbastraße 5

    50667 Köln

    kontakt@helgeunterweg.de

    Druck:            epubli ein Service der

    neopubli GmbH, Berlin

    ISBN 978-3-750258-08-2

    Printed in Germany

    Bibliografische Information der

    Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

    http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    „Wenn es der Leser vorzieht, kann dieses Buch auch als ein Werk der Phantasie angesehen werden. Aber es besteht immer die Chance, dass solch ein Werk der Phantasie einiges Licht auf das wirft, was als Tatsache geschrieben worden ist."

    Ernest Hemmingway, Paris ein Fest für’s Leben

    Für die Jungs, die draußen steh’n

    Erster Teil

    Kapitel 1 – Sommer 2013

    Ich hatte den Passat zum ersten Mal auf dem Lehrerparkplatz abgestellt, was mir – zugegebenermaßen – irgendwie falsch vorkam. Damals hatte ich nur zwei Blocks von der Schule entfernt gewohnt und meinen Weg daher die drei vorherigen Jahre ohne Probleme zu Fuß zurücklegen können. Im Grunde hatte ich so gut wie alles zu Fuß erledigt, und das Auto reihte sich in der Nähe der Universität zu denen der Leute ein, die einen anderen, vermeintlich besseren Weg eingeschlagen hatten. An der Uni waren die Parkplätze kostenlos und weniger rar gesät, als in der Innenstadt, wo sich meine Ein-Zimmer-Wohnung befand. Der Passat stand oft wochenlang dort und jedes Mal, wenn ich mit der U-Bahn Richtung Universität fuhr, um ihn zu holen (für einen Ausflug, oder größere Besorgungen), klemmte eine billige Hochglanzvisitenkarte in der Fensterdichtung der Fahrertür mit der Aufschrift:

    „KAUFE ALLE PKW, UNFALL, KILOMETER, TOTALSCHADEN – EGAL!!"

    Derjenige, der diese Visitenkarte gestaltet hatte, war offenbar darauf aus gewesen, möglichst viele Schriften in vielen auffälligen Farben (darunter einige Neontöne), mit möglichst vielen Ausrufezeichen zu versehen, damit sich jeder Leser diese Botschaft mit aller Deutlichkeit zu Gemüte führte.

    Jedes Mal aufs Neue schnippte ich sie – ohne schlechtes Gewissen der Natur gegenüber – einfach davon. Selbst Schuld. Die alte Bosch Batterie des Passats war in den meisten Fällen zu schwach, um den Motor drehen zu lassen oder schaffte es nur mühsam. Das wusste ich natürlich und war meist so vernünftig, den Wagen auf dem abschüssigen der drei Parkplätze für Studierende und Lehrpersonal abzustellen, sodass ich ihn im zweiten Gang anrollen lassen konnte. Das klappte ganz phantastisch und war zur Routine geworden – wohl wissend, dass ich mir auf diese Weise ohne weiteres den Katalysator hätte raustreten können. Doch das passierte nicht – und um die Spannung gleich vorwegzunehmen, es ist bis heute nicht passiert. Es war ein silbergrauer Passat GL aus dem stolzen Jahr 1987, in dem ohne Zweifel, alles besser gewesen sein musste – außer dem Handyempfang, vielleicht. Es war also das vorletzte Modell vor der großen Produktaufwertung und bestückt mit einem wundervollen 1.6l Turbodiesel mit vier Zylindern, der trotzdem recht ruhig lief. Es war ein fabelhafter Wagen, der mich nie im Stich gelassen hatte. Für viele klingt es komisch, mitunter obskur, wenn man über Automobile redet, als hätten sie tatsächlichen Einfluss auf unser aller Leben, als wären sie ein Teil davon oder würden sogar zur Familie gehören. Für die meisten Leute ist ein Auto nur ein Mittel zum Zweck, das – wenn man all seine Erledigungen hinter sich gebracht hat – bestenfalls in der Garage platziert wird.

    Ich gehörte nicht zu diesen Leuten. Für mich hatten Autos schon immer ihre eigene Ästhetik, ihre eigene Dynamik. Gottverdammt, Autos hatten für mich schon immer ihre eigene Erotik. Demjenigen, der jetzt nur den Kopf schüttelt, lege ich dringend John Carpenters „Christine" ans Herz, in dem ein rot-weißer Plymouth Fury, mit seiner (ihrer!) betörender Form, ohne Rücksicht auf Verluste durch die dunkle Nacht prescht.

    Ich liebte diesen Wagen und tue es immer noch. Das meine ich völlig ernst und es ist mir egal, wie dämlich es für manche Leute klingen mag. Er hat so einige Strapazen durchgemacht und die Fahrt zu meiner Abschlussprüfung war nur ein Stern am Himmel dieser Ereignisse.

    Der Griff einer der vielen dunkelroten E2-Kisten, die auf einem blauen Metro-Rollwagen neben dem silbernen Passat standen, schnitt in meine Hand. Ein langer Grat stand hervor und machte meiner müden und schmerzempfindlichen rechten Hand zu schaffen. Die Leute, die über den Parkplatz schlurften – maßgeblich Schüler aus anderen Ausbildungsberufen und andere Passanten, die ihren Weg über den Schulhof abzukürzen versuchten – sahen mir beim Einladen zu und konnten sich womöglich nicht vorstellen, wie ich all mein Zeug in diesem Auto unterbringen wollte – Kombi hin oder her. Ich hatte Tage für die Vorbereitung gebraucht, hatte mir Checklisten geschrieben und war alles immer und immer wieder im Kopf durchgegangen. Manchmal glaube ich, dass es besser ist, wenn man nicht weiß, was auf einen zukommt. Denn wenn man weiß, was einen erwartet, treibt man sich selbst mit dieser Gewissheit in den Wahnsinn. Ich wusste selbst nicht, wie ich es an diesem trüben Morgen geschafft hatte, das Auto so zu beladen, dass alles hineinpasste und ich mir gleichzeitig keine Sorgen machen musste, von einem Plattiereisen oder einem der dicken, verschiedenfarbigen Schneidebretter erschlagen zu werden. Im Grunde war es mir egal, wie lange es dauern würde, bis ich den Wagen wieder beladen hatte, denn ich war nicht in Eile. Ein großer Felsbrocken war mir von den Schultern gefallen. Teufel, ich hatte meine Ausbildung erfolgreich beendet – ich war also tiefenentspannt, auch wenn ich noch einem Arbeitsreichen Tag entgegensah. Ich hatte drei Jahre der Tortur beendet und war nun ein freier Mann. Das mag für den ein oder anderen vielleicht banal klingen, aber es sind viele Dinge passiert, die mein Leben verändert, einen langen Schatten auf vieles geworfen haben und es zum Teil noch immer tun. Doch für diese Geschichten ist es womöglich noch zu früh. Ich möchte vorne anfangen, lange bevor ein silberner Passat in meinem Leben war, lange vor einer eigenen Wohnung, einem eigenen Leben, durchzechten Nächten und verschwitztem Sex.

    ***

    Ich hatte das erste Mal an einem Januarmorgen in einer Restaurantküche gestanden, als ich zu meinem Schulpraktikum angetreten war. Es war ein kleines Restaurant am Stadtrand meines Heimatortes. Ein kleines Backsteinhaus, was auf Höhe der Fenster nicht mit rotem Backstein, sondern mit Sandfarbenen Klinker gebaut und dem Baustil nach zu urteilen mindestens 100 Jahre alt war, wenn nicht sogar noch älter.

    Ich hatte mich zwei Monate vorher dort beworben und war offenbar auch der einzige meiner Klasse gewesen, der sich pflichtbewusst und vor allem fristgerecht um diese Angelegenheit gekümmert hatte. Martin Schwarz, ein dicklicher, hyperaktiver Junge in meiner Klasse, hatte es bis vier Tage vor Praktikumsbeginn nicht fertigbringen können, sich um einen Platz zu kümmern. Das hätte man man natürlich als erstes darauf schieben können, dass er ein fauler Hund war. Na klar, das war sicherlich einer der Gründe. Der Hauptgrund war aber vermutlich, dass er darüberhinaus auch ziemlich dumm war. Eines von beidem ist durchaus legitim, aber beides halte ich für eine schwierige Kombination. Er hatte schließlich aus Mitleid, oder anderen, mir unbekannten Gründen, einen Praktikumsplatz bei einem Bauern im Nachbarort, der ebenfalls nicht der hellste, aber dafür gottverdammt fleißig war, bekommen. Martin Schwarz war allerdings nur zwei Tage nach Praktikumsbeginn heulend in das Sekretariat der Schule gebracht worden, weil er ein Huhn hatte schlachten sollen. Er hatte ihm nach langem Zögern den Kopf abgeschlagen, dabei der Anweisung, den unteren Hals des Tieres fest zu umschließen, aber nicht Folge geleistet. Das Huhn sprang also auf und tänzelte einige Minuten durch den Stall, mit einem Blutspringbrunnen anstelle eines Kopfes.

    Während Martin noch keinen blassen Schimmer hatte, dass er Bekanntschaft mit, „Mike the headless chicken" machen würde, wunderte ich mich, dass man als Koch tatsächlich schon um 7:30 Uhr zum Dienst antreten musste. Es war nicht das letzte Mal, dass ich mich über etwas wunderte, wobei damals noch eine gewisse Neugier und Abenteuerlust mitschwang.

    „Guten Morgen, Julius", sagte der mindestens 1,95 Meter große Mann, mit einem Bierbauchansatz, in einer sehr tiefen und deutlichen Stimme.

    Ich hatte den ganzen Morgen noch keinen Ton geredet und brachte deswegen nur ein Fiepen heraus, was mich ungefähr so selbstbewusst wirken ließ wie Feivel, der Mauswanderer.

    Das stumme „Guten Morgen!", ließ den Küchenchef und den Restaurantbesitzer nur einen verwirrten Blick wechseln. Ich habe damals geglaubt, dass sie bestimmt noch nie so einen Volltrottel wie mich gesehen hatten. Aus heutiger Sicht, mit einiger Menschenkenntnis mehr und Erfahrung in der Gastronomie kann ich sagen: Ja, das mag sein. Aber die Chancen stehen ziemlich gut, dass sie schon ein paar mehr menschliche Totalausfälle gesehen hatten.

    Der Küchenchef, der etwas kleiner war, schien ruhiger zu sein und nur dann zu sprechen, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Und ich hatte recht mit meiner ersten Einschätzung; er sprach tatsächlich nur, wenn es wirklich nötig war, dann aber unmissverständlich.

    Ich hatte mir vorher bei einem Berufsbekleidungsgeschäft eine einfache doppelreihige Kochjacke gekauft und dazu einen Vorbinder und Kugelknöpfe in einem dunklen Rot, weil diese im Angebot waren. Nachdem ich mich im Trockenlager des Restaurants, zwischen Kidneybohnen-Büchsen und Cremepulverbeuteln umgezogen hatte, um wieder in die Küche zurückzukehren, wusste ich auch, warum sie im Angebot gewesen waren. Als ich die Treppe aus dem Keller in die Küche hochgegangen war, konnte ich sehen, dass mittlerweile die gesamte Küchenbelegschaft zum Dienst angetreten war. Es waren insgesamt vier Leute; der Küchenchef, der Restaurantbesitzer, der nur ab und zu kochte, wenn er Lust dazu hatte oder Not am Mann war, und zwei weitere Köche. Gemessen an ihrem schallenden Gelächter über meinen Aufzug, mussten es mindestens ein Dutzend Menschen gewesen sein. Es hatte mit einem Lachen begonnen, als sie mich nur schemenhaft erkennen konnten. Als ihnen dann das bordeauxrote Halstuch aufgefallen war, für das ich extra noch Tage vorher einen besonderen Kochknoten gelernt hatte, war es beinahe in ein Schreien übergegangen. Der Restaurantbesitzer lachte für seine Körpergröße erstaunlich hoch und hysterisch. Es wiegelte sich ziemlich auf und hatte seinen Höhepunkt, als einer der Köche zu keuchen begann, die Augen des Restaurantbesitzers feucht und aus den Höhlen hervorgetreten waren und er mit seinen riesigen Händen zu klatschen begann. Ich nahm es ihnen nicht übel; wieso auch? Es war nicht böse gemeint, das merkte ich sofort und schmunzelte deshalb auch mit, wobei ich nicht wusste, was ich falsch gemacht hatte.

    „Scheiße!", brüllte einer der Köche aus einem Lachen, konnte den Satz aber nicht sofort zu Ende bringen, da er wieder in Lachen erstickt wurde.

    „Scheiße, man!, ergänzte er, „Der sieht aus, wie aus der Tchibo Werbung!, prustete er hinaus und trieb das Lachen nochmal zu einem kleinen Nachbeben, wie Glut, die beinahe erlischt, auflodert, wenn man sie vorsichtig anhaucht.

    Ich sah wie gestriegelt aus. Übermotiviert und ordentlich, mit einem Torchon, dunkelroter Schürze, dazu passenden Knöpfen und Halstuch. Es war einfach zu perfekt. Ich sah aus, als wäre ich dem Lehrbuch entsprungen, mit einem Hauch zu viel von Allem. Ich denke, dass es sich ähnlich mit den jungen Leuten verhält, die mit ihren unförmigen Körpern für ihre Konfirmation in Anzüge gesteckt werden, mit Krawatte und Blume am Revers.

    Trotz meines peinlichen Auftritts fand ich mich schnell in diesem Team ein. Die Leute mochten mich – vielleicht weil ich meine Arbeit gut machte, doch das glaube ich nicht einmal. Natürlich machte ich meine Arbeit gut, aber das tun doch die meisten Menschen, wenn man ehrlich ist. Ich glaube sie mochten mich, weil ich so war, wie ich war – und trotz aller Strapazen zum Glück noch immer bin.

    Die erste Zeit war es ziemlich anstrengend und oft dachte ich mir abends, dass die Schmerzen in den Füßen und Beinen nicht noch schlimmer werden könnten. Was soll ich sagen? Es geht noch viel schlimmer als man denkt. Anfangs hatte ich nicht viel mit dem eigentlichen Küchengeschäft zu tun, aber ich merkte bald, dass alles miteinander verzahnt ist und kann aus heutiger Sicht sagen, dass es nur dann rund läuft, wenn alle Zahnräder sauber ineinandergreifen. Wenn ein Spüler seiner Arbeit nicht richtig nachkommt, kann das Restaurant nicht die volle Leistung bringen. Das stellte ich fest, als ich das erste Mal in die Spülküche musste. Ich hatte den ersten Tag nur Kartonagen auseinandergenommen und in den Mülltonnen verstaut, den Hof aufgeräumt und anschließend gekehrt, sowie im Bankettlager (eigentlich war es nur eine alte Garage) für Ordnung gesorgt. Es hatte zu nieseln angefangen und die Regentropfen klopften leise auf das halbgeschlossene Garagentor. Ich hatte eine dicke Jacke und einen Schal angehabt, wobei der Winter der Jahre 2008, beziehungsweise 2009 ein milder gewesen war. Ich hatte also nicht frieren müssen.

    „Hey, Julius …", schallte es über den Hinterhof.

    „Ja?", entgegnete ich mit der Befürchtung, etwas falsch gemacht zu haben.

    „Komm ran jetzt. Und lass das verfluchte Tor, wie es ist", schob der Restaurantbesitzer hinterher, als er mich dabei beobachtete, wie ich das Tor zu schließen versuchte.

    „Es wird schon nicht reinregnen."

    Er stand in der Hintertür der Küche. Derweil hatte es etwas stärker zu regnen begonnen. Er trat einen Schritt zur Seite und ich sah ihn mit großen Augen an, weil ich erwartete, dass er mir nun mitteilen würde, was ich falsch gemacht hatte, etwas Gravierendes, dass ich meinen Krempel packen und mich vom Hof scheren sollte. Und meine bordeauxfarbenen Vorbinder dabei nicht vergessen sollte.

    Ich stand im Regen, unter dem kleinen Vordach, dass mir leider keinerlei Schutz bot, da der leichte Wind den Regen von der Seite kommen ließ. Er schaute mich ebenfalls mit großen Augen an, wohl um mir zu zeigen, wie dämlich ich ihn ansah. Ich stand wie angewurzelt dort.

    „Komm doch rein, verdammte Scheiße oder willst du dir den Tod holen?"

    „Ach so, nein, ähm, natürlich nicht", stammelte ich unsicher.

    „Ach so, nein, ähm, natürlich nicht", äffte er mich mit der überspitzten Stimme eines Vollidioten nach.

    „Du hilfst doch viel im Haushalt, nicht wahr? Seit …", er verstummte und schien das richtige Wort zu suchen. Ich wusste was er meinte – natürlich tat ich das, wenn es auch schon einige Jahre her war.

    „Seit dem Tod meiner Mutter?", legte ich ihm in den Mund und er war überrascht, dass ich es so unverblümt aussprach

    „Ja., sagte er und sah betreten auf den Boden. Er war ein grundguter Typ, der allerdings von den meisten seiner früheren Mitarbeiter übers Ohr gehauen worden war. Das hatte ihn eine gewisse Grundskepsis gelehrt – was als Selbstständiger sicherlich angebracht und wahrscheinlich sogar unumgänglich ist. Ich nahm es ihm nicht übel, dass sein Ton oft zwischen harsch und laut hin und her schwang, denn ich wusste, dass er einer von den „Guten war, denen man im Leben begegnet. Das heißt, falls es so etwas wie Gut und Böse gibt, versteht sich.

    „Wie alt bist du?", fragte er und diesmal war es keine seiner berüchtigten Fangfragen.

    „Sechszehn – beinahe siebzehn.", schob ich stolz hinterher.

    „Dann kann ich also davon ausgehen, dass du weißt wie man spült?", fragte er und ich wusste nicht so recht, was ich darauf antworten sollte. Er hatte doch selbst zwei Kinder, nicht wahr?

    „Glotz mich nicht so an, ich bin schon Leuten begegnet … Ich könnte dir Geschichten erzählen von Leuten, die sich in deinem Alter nicht mal ihre verfluchten Schuhe binden können …"

    „Ja, ich weiß, wie man spült.", entgegnete ich selbstbewusst.

    „Gut, denn ich will nicht, dass du bei dem Scheißwetter draußen in der Garage bist, oder im Schuppen, auch wenn sie es gottverdammt nötig haben. Das kann auch noch ein, zwei Tage warten.", sagte er und war dabei heilfroh, dass er das heikle Thema mit meiner Mutter irgendwie umschifft hatte.

    „Da unten sind Schwämme, Spülmittel ist in dem Kanister. Der Spülmaschinendeckel wird am Griff von oben nach unten gezogen; sie springt dann automatisch an. Spülmittel zieht sie auch von selbst. Wir haben auch irgendwo Gummihandschuhe, wenn deine zarten Knabenhände die dauerhafte Feuchtigkeit nicht abkönnen, erklärte er, wobei er bei den Worten „zarte Knabenhände, eine tänzelnde Bewegung machte, die wohl auf gut deutsch „stell dich nicht so an, du verdammte Schwuchtel", bedeuten sollte.

    „Hast du noch Fragen? Nein? Gut, dann gib Hackengas, du hängst jetzt schon ganz schön hinterher…"

    So hat alles angefangen. Ich spülte wie der Wind, nicht nur schnell, sondern auch noch ordentlich. Die verkrusteten Pfannen weichten ein (wenn auch nur kurz), die stark verschmutzten Sachen wurden vorgespült, der Rest kam direkt in einen der hellblauen Kunststoffkörbe der alten Hobart-Industrie-Spülmaschine.

    Irgendwann sollte ich dann Kartoffeln schälen und als meine Kollegen sahen, dass auch das funktionierte, ohne, dass ich dabei Teile meiner Gliedmaßen verlor, durfte ich Garnelen pulen. Ich erarbeitete mir einen Ruf, der noch anhielt, als das Praktikum längst vorüber und in einen Wochenendjob übergegangen war, der manchmal schon am Freitagnachmittag begann. Ich hatte viele Tage dort verbracht und nebenbei bemerkt – für einen Siebzehnjährigen – ganz schön viel Geld verdient. Am Wochenende – wenn ich oft ganztägig dort war – arbeiteten wir im Teildienst. Ein klassisches Modell der Gastronomie, das folgende Arbeitszeiten mit sich bringt; 10 bis 15 Uhr – 18 Uhr bis Ende. Eine dreistündige Pause ist allerdings nur schön, wenn man in unmittelbarer Nähe seines Arbeitsplatzes wohnt (was ich damals glücklicherweise tat).

    Eines Tages blieben der Küchenchef und ich nach dem Mittagsgeschäft während der Mittagspause in der Küche. Ich erinnere mich daran, dass draußen ein Sturm aufzog. Es war bereits sehr windig und regnete in Intervallen zeitweilig stark. Das Wetter und die Tatsache, dass es in der Küche immer etwas zu tun gibt, sorgten dafür, dass wir gemeinsam Torrone herstellten, was zum Kaffee und Espresso gereicht werden sollte. Dass es ein Stück hausgemachte Torrone zum Kaffee geben sollte, statt eines Lotus-Keks aus dem 2000er Display der Metro, war kein reiner Akt der Nächstenliebe. In Wirklichkeit hatten wir das Trockenlager aufgeräumt und dabei eine Kiste mit Beuteln voller Nüsse gefunden, die alle aufgerissen und untereinander vermischt waren. Außerdem gab es noch zwei Tetrapaks Eiweiß, die uns allen ein Dorn im Auge waren, da das Haltbarkeitsdatum an selbigem Tag verstreichen sollte. Gibt es denn eine charmantere Art seine „Leichen" zu entsorgen, als ein Stück hausgemachte Torrone zum Kaffee?

    „Hast du schon einen Ausbildungsplatz?", fragte mich der Küchenchef, mit dem ich in der vielen Zeit nur wenige Worte gewechselt hatte. Ich hatte ein Gastronorm-Blech vor mir stehen, das mit einem Stück Backpapier ausgelegt war. Darauf lag eine zurechtgeschnittene Backoblate. Ich strich mit einem Kunststoffspatel alles glatt – und schwieg. Er stand ebenfalls vor einem Blech mit selbigem Aufbau, nur dass er bereits die obere Backoblate auf die Masse drückte.

    „Nächstes Jahr, ist es doch soweit, oder nicht? Dann hast du dein Abitur doch fertig?, schob er hinterher, wobei er das Wort „Abitur abfällig betonte. Wahrscheinlich aus dem Grund, weil er selbst nur einen Hauptschulabschluss erlangt hatte. Aber das war mir völlig egal und das ist es noch heute. Ich glaube es gibt nicht viele Dinge, die weniger über einen Menschen aussagen, als der Schulabschluss. Aber für ihn gehörte ich eben zur Etepetete-Schicht – zu denen, die sich als etwas Besseres sehen.

    „Nein, noch nicht.", sagte ich kleinlaut – und das stimmte. Ich war immer gewissenhaft mit allem gewesen, hatte meine Termine stets eingehalten und nur wenige Dinge vor mir hergeschoben. Wollte er denn nicht, dass ich meine Ausbildung hier machte?

    „Du musst dich bei den großen Hotels in der Stadt bewerben und aus diesem Kaff hier weg. Hörst du?", sagte er – und ich hörte auf ihn.

    „Wir haben dich gerne hier, aber wir können dir bei weitem nicht das bieten, was die großen Häuser dir bieten können. Also sei schlau und bewirb dich!"

    An diesem Abend ging ich nach dem Abendgeschäft nach Hause und dachte lange nach. Ich fragte mich, wie es wohl sei, aus dem verschlafenen Vorort in die Großstadt zu ziehen und fand den Gedanken plötzlich aufregend. Eine eigene Wohnung, einen eigenen Haushalt, ein eigenes Leben. In dieser Nacht klang es wie Musik in meinen Ohren. Nachts im Bett, wenn man nicht schlafen kann, sind die Sorgen und Ängste unermesslich. Die unangenehmen Dinge erscheinen uns viel schlimmer. Aber die schönen Dinge, die Träume und Hoffnungen, erscheinen uns auch viel schöner, als sie eigentlich sind. Es dauerte noch einige Zeit, aber irgendwann verloren sich meine Gedanken und ich schlief ein.

    ***

    Ein fürchterliches Passfoto thronte in der oberen Ecke meines Lebenslaufes, der in dreifacher Ausfertigung vor mir gelegen hatte. Ich erinnere mich gut daran, dass ich beim Fototermin wie ein Schwein geschwitzt hatte, das quiekend mit einem Stock über die Koppel gejagt wird. Es wurde in der 11. Klasse aufgenommen von einem Fotografen, dessen Fähigkeiten ich schon damals als eher dürftig eingeschätzt hatte und mittlerweile der Überzeugung bin, dass jeder dahergelaufene Hobby-Spanner bessere Aufnahmen hätte machen können.

    Der Gedanke, dass die Personalchefs ihre Mitarbeiter auch nach dem Foto auswählen (und ob sie das tun…), war mir nicht ganz klar gewesen. Für mich war es eher ein Akt des Pragmatismusses. Wieso sollte ich ein neues Foto aufnehmen lassen, wenn ich noch eine ganze Mappe in der Schublade hatte? Die Leute wollten sich doch sicherlich nur davon überzeugen, dass ich nicht gerade wie Cthullu aus der Geschichte von H. P. Lovecraft aussähe.

    Ich hatte also das Foto aus der Schublade genommen, es eingescannt und nun schmückte es meine Bewerbungen. Wie mein erster Küchenchef mir empfohlen hatte, wollte ich mich bei den drei großen Grandhotels der Stadt bewerben.

    Das Riverside Inn war, wie der Name schon vermuten lässt – das jüngste und modernste Hotel der Stadt. Es war ein eigenständiges Hotel, das unter der Schirmherrschaft einer großen, englischen Hotelkette geführt wurde, aber trotzdem einen Sonderstatus hatte. An dem Tag, als ich meine Bewerbung dort abgegeben hatte, war mir besonders die ungemütliche Lobby des Hauses aufgefallen. Es war alles sehr minimalistisch und gekünstelt modern. Es erweckte den Anschein, als wollte sich das Haus jünger und flippiger darstellen, als es eigentlich war (und jemals sein könnte). Wir werden alle nie älter als Mitte dreißig, sind völlig weltoffen und laufen jedem Trend blindlings hinterher. Die Klientel war ebenfalls sonderbar – es waren allesamt Reinkarnationen der 90er Jahre Yuppies. Ich musste unweigerlich an „American Psycho denken, nur, dass die Leute sich nicht mehr mit Visitenkarten übertrumpften, sondern mit abscheulichen Sneakern und Polohemden in allen Farben des „Pantone Matching Systems. Ich mochte das Haus einfach nicht und wusste direkt, dass ich nur als Notlösung hier anfangen würde.

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