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Zur buckligen Wildsau
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eBook637 Seiten7 Stunden

Zur buckligen Wildsau

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Über dieses E-Book

Es war einmal in vielen, vielen Jahren ... Ein Dschinn und ein Dämon (und sein Rehpinscher Borowski) reisen mit einer Kneipe namens 'Zur buckligen Wildsau' durch Raum und Zeit.
Die Wildsau gabelt scheinbar zufällig die unterschiedlichsten Wesen auf. Dschinn und Dämon müssen sich um sie kümmern – egal ob ihnen das gerade in den Kram passt oder nicht.
Es geht um eine Elementepfütze, um die Wahrheit über Blitze, um Dolbs, einen Cyborg und eine Leschnork und um all die vielen sonderbaren Begegnungen, Absurditäten und Zufälle des Universums, die man manchmal selbst mit einem Schnipsen nicht in den Griff kriegen kann.
Verdammt!
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum14. Dez. 2020
ISBN9783753133942
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    Buchvorschau

    Zur buckligen Wildsau - Anke Niebuhr

    Borowski und der Dämon

    Plock Plock … Stille.

    Plock Plock … Stille.

    Plock Plock … Stille.

    Ein zwei Meter großer, von Kopf bis Fuß roter und ziemlich muskulöser Dämon saß barfuß inmitten eines tosenden Flammenmeeres auf dem Boden seiner Höhle. Er warf einen angekokelten Tennisball zu Boden, ließ ihn von der Wand abprallen und fing ihn wieder auf. Immer und immer wieder. Seit fast zwei Tagen ging das jetzt schon so.

    Er trug ein dunkelgraues T–Shirt und eine ausgeblichene schwarze Hose, die ihm bis zu den Waden reichte. Bis auf die knallrote Haut sah er aus wie ein glatzköpfiger Mensch, denn er hatte weder Hufe noch Hörner. Die hätte er sich zwar mühsam durch den Aufstieg in der Höllen–Hierarchie verdienen können, aber er fand sowohl Hufe als auch Hörner albern, unpraktisch und hässlich. Außerdem war er nicht im Mindesten gewillt, Handlanger des Bösen zu sein.

    Plock Plock … Stille.

    Plock Plock … Stille.

    Plock Plock … Stille.

    Schon kurz nach seiner Erschaffung hatte er entschieden, dass er nichts mit den Mächten der Finsternis zu tun haben wollte. Um möglichst in Ruhe gelassen zu werden, hatte er beschlossen, konsequent zu schweigen und sich blöd zu stellen. Er hatte darauf geachtet, sich nur so dumm, vergesslich und ungeschickt anzustellen, dass es nicht wie Absicht wirkte. Geduldig hatte er abgewartet, bis niemand mehr Lust hatte, sich mit ihm herumzuärgern.

    Immer seltener war er auf Missionen geschickt worden und irgendwann hatten sie es dann ganz aufgegeben. Seitdem konnte er tun und lassen, was er wollte.

    Und nun das!

    Plock Plock … Stille.

    Plock Plock … Stille.

    Plock Plock … Stille.

    Noch mehr Stille.

    Plock Plock … Stille.

    Plock Plock … Stille.

    Plock Plock … Stille.

    Er musste entscheiden, ob er gewillt war, seine kostbare Freiheit aufzugeben. Sollte er sich dazu verpflichten, Babysitter für eine künstliche Intelligenz zu spielen, bis diese alleine klarkam? War er wirklich so bescheuert, dass er das auch nur in Erwägung zog? Anscheinend ja. Er seufzte.

    Auf einem Bett hinter dem Dämon, vom Feuer und der unsäglichen Hitze unberührt, lag sein schlafender Rehpinscher Borowski. Dem würde es gut tun, wenn wir mal so etwas wie ein Zuhause hätten, dachte der Dämon.

    Plock Plock … Stille.

    Plock Plock

    Also gut. Genug gegrübelt, Schluss jetzt mit dem Theater. Unvermittelt sprang der Dämon auf. Warum eigentlich nicht? Es war ja nicht für ewig, sondern nur für ein paar Jahre. Vielleicht, nein, bestimmt würde es sogar Spaß machen.

    Erleichtert streckte er sich, sah sich mit einem Funkeln in den Augen im Raum um und hob den schlafenden Hund vom Bett. Er schnipste mit den Fingern und ging mit dem Tier auf dem Arm durch die Stahltür, die daraufhin in der Höhlenwand erschienen war.

    Die bucklige Wildsau und der Dschinn

    Die bucklige Wildsau sah aus wie eine Kneipe aus dem Mittelalter. Mitten im Raum stand ein großer, kantiger Eichentisch. Acht dazu passende Stühle standen um ihn herum. Darüber hing ein Kerzenkronleuchter aus Eisen an schweren Ketten.

    Auf der einen Seite waren drei durch Holzwände voneinander getrennte Sitznischen mit Tischen und Bänken. Auf der anderen gab es einen Kamin aus großen Feldsteinen mit Sesseln und einem Sofa davor, daneben jeweils kleine Tische. Gegenüber der Eingangstür befand sich eine große Theke und darüber prangte die grimmig und leicht irre aussehende Trophäe einer Wildsau.

    Beim Anblick dieser Kneipe wäre niemand darauf gekommen, dass sie viel mehr war als nur das. Bis auf einen Dschinn, der an der Theke stand, war sie zur Zeit wie ausgestorben.

    Na ja, er stand nicht wirklich. Genau genommen hibbelte er ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, sah sich in der leeren Kneipe um, lief leise fluchend hin und her, kehrte wieder zur Theke zurück und brüllte: „Bedienung!", und nach einer Weile: „Hallo?!" Aber nichts rührte sich. Er seufzte.

    Dschinn sind von Natur aus nervige Zeitgenossen und dieser war keine Ausnahme, allerdings sah er eher aus wie ein braungebrannter, tätowierter Surfer mit einer Vorliebe für grellbunte Strandkleidung und Flip-Flops. Seine ursprüngliche Hautfarbe – blau – war nur noch hier und da in einigen Tattoos zu sehen, denn den überwiegenden Teil seiner Haut hatte er sich so tätowieren lassen, dass sie menschlich wirkte, wenn man nicht allzu genau hinsah. Die schwarzen Haare waren in einem kleinen Zopf oben auf dem Kopf hochgebunden – sein einziges dschinntypisches Merkmal, zusammen mit dem dazu passenden, kurz getrimmten Designerbart aus schmalen Linien. Außerdem trug er eine Sonnenbrille mit runden, hellblauen Gläsern.

    „Hey, Bedienung, verdammt nochmal!", brüllte er wieder und schlug mit der flachen Hand auf den Tresen.

    Er wusste natürlich, dass das sinnlos war, aber weil niemand da war, reagierte er auf diese Weise seine Ungeduld ab. Die Augen der Wildsau–Trophäe glühten einmal kurz rot auf, aber das war auch schon alles. Finster sah der Dschinn sie an. „Ok, ok, sagte er nach einer Weile zu der Trophäe. „Ich geb's auf. Immer noch Selbstbedienung, ich weiß. Er seufzte. „Boah, ich hasse diese Warterei!"

    Während der Dschinn weiter fluchende Selbstgespräche führte und dabei ganz in seinem Element zu sein schien, materialisierte sich in der Wand neben der Theke eine solide aussehende Stahltür. Rötlicher Flammenschein erleuchtete die bucklige Wildsau, eine Hitzewelle durchströmte den Raum und im Schein der Flammen erschien eine Gestalt. Der Dämon betrat die Wildsau. Die Tür schloss sich hinter ihm und verschwand wieder, als hätte es sie nie gegeben.

    „Na endlich, Maaann, das wurde aber auch Zeit, hömma!, seufzte der Dschinn erleichtert. „Meine Fresse, du hast ja ewig gebraucht, ich platze gleich. Na gut, sach an, alles in trocknen Tüchern?

    Der Dämon nickte nur. Er schwieg nach wie vor. Wer brauchte schon Worte?

    „Echt jetzt? Wir machen das? Wirklich? Wow! Coool, Mann, yeah!" Der Dschinn klatschte in die Hände und strahlte über das ganze Gesicht. „Ich freu mich tierisch! Super, Mann, das wird echt super! Skurril und schräg und völlig absurd, jau, ich bin schon so gespannt. Und Borowski ist natürlich auch dabei. Perfekt. Wer ist ein feiner Hund? Na, wer ist ein feiner Hund? Ach, komm her, du süßer kleiner Knuffel …", brabbelte der Dschinn, hob den Rehpinscher auf den Tresen und kraulte das Tier ausgiebig hinter den Ohren, bis ihm der Dämon ein Bier in die Hand drückte.

    „Danke. Jawoll, darauf müssen wir anstoßen, Mann, plapperte der Dschinn weiter. „Auf ne, auf ne, … ja, auf was eigentlich? Ach, scheiß drauf, möge es ordentlich krachen! Auf die bucklige Wildsau und wilde Abenteuer und so. Mach deinem Namen Ehre, mein Mädel. Er strahlte. Nach einer Weile fügte er mit einem irren Glitzern in den Augen hinzu: „Verdammt, Mann, jetzt sind wir KI-Eltern. Ach du Scheiße, na, das kann ja was werden." Und dann fing er an zu lachen.

    Als er sich wieder gefangen hatte, stießen die beiden endlich an, nickten der Trophäe über dem Tresen zu, tranken, sahen sich im Raum um und ließen diese lebensverändernde Entscheidung einträchtig schweigend eine Weile sacken. Eltern der Wildsau-KI – wer hätte das gedacht …

    Und das war so gekommen: Zwei Tage zuvor waren Dämon und Dschinn nach langen Jahrzehnten gemeinsamen Reisens durch gefühlt das halbe Universum scheinbar zufällig auf eine sonderbare Kneipe gestoßen:

    Die beiden schlenderten in einer beliebigen Stadt irgendwo auf einem beliebigen Planeten um eine Ecke. „Guck mal, da!", sagte der Dschinn – und da stand sie, die bucklige Wildsau, inmitten teurer, moderner Hochhäuser und einem Chaos aus Wesen, Fahrzeugen und Fluggeräten aller Art, ein klotziges, kleines, uralt aussehendes Holzhaus, das so gar nicht dort hinpasste. Neugierig und belustigt betraten sie die Kneipe und fühlten sich gleich wie zu Hause.

    Die Wildsau wirkte wie aus einer alten Geschichte in das Hier und Jetzt verschoben. Am Kamin saß ein älterer Mann mit einem sehr langen, weißen Bart und wallendem Haar. Er trug ein helles, grob gewebtes Mönchsgewand und war den beiden auf Anhieb ausgesprochen sympathisch. Außer ihm waren keine Gäste da, es gab nicht einmal eine Bedienung. Der Mann rauchte eine Pfeife und starrte in die Flammen, ohne sich zu den beiden umzudrehen.

    Borowski lief schnurstracks schwanzwedelnd auf ihn zu, drehte sich dreimal vor ihm im Kreis, kläffte freudig und legte sich schließlich zufrieden schnaufend vor seine Füße. Das war sehr ungewöhnlich, denn normalerweise hielt sich Borowski dicht beim Dämon und wich nicht von seiner Seite, vor allem wenn Fremde anwesend waren.

    Hinter der Theke war niemand zu sehen, also gesellten sich die beiden zu dem Mann, der sie nun freundlich ansah. Der Dschinn sprach als Erster: „Nabend. Tschuldige die Störung, Mann. Ich hoffe, Borowski belästigt dich nicht? Normalerweise ist er Fremden gegenüber nicht so zutraulich. Ich bin Josh und das hier ist Renko."

    Der Mann lächelte und nickte kurz. „Ich weiß, antwortete er. „Ich bin Adasger. Es ist mir eine Freude, euch beide endlich kennenzulernen. Die Wildsau hat schon vor geraumer Zeit von euch berichtet und euch für heute angekündigt, das hat mich neugierig gemacht. Bitte, nehmt doch Platz.

    Verwirrt sah Josh sich um. „Das ist ein Irrtum, Mann. Du verwechselst uns. Wir sind nur auf der Durchreise. Es war purer Zufall, dass wir diese Kneipe entdeckt haben. Wer ist denn diese, äääh, Wildsau überhaupt? Die Besitzerin, nehme ich an? Wo steckt sie? Und sie … hat uns angekündigt? Das kann gar nicht sein."

    „Ja, diese Fehleinschätzung der Lage ist durchaus nachvollziehbar. Es kommt ja auch nicht gerade häufig vor, dass sich ein zeit- und dimensionsunabhängiges Wesen wie die Wildsau zu erkennen gibt. Also nein, die Wildsau ist nicht die Besitzerin, sie ist die Kneipe selbst. Wie gesagt, setzt euch, nehmt euch ein Getränk, wenn ihr wollt, und gerne auch etwas zu essen, hier ist Selbstbedienung. Ihr findet euch sicher schnell zurecht. Macht es euch gemütlich, dann erzähle ich euch alles ganz in Ruhe. Ok?"

    Da sich keiner der beiden rührte, fuhr Adasger fort: „Es ist auch verständlich, dass euch das alles überrumpelt. Kein Wunder, ehrlich. Kurz vorweg: Die Wildsau hat sich euretwegen zum richtigen Zeitpunkt am passenden Ort materialisiert. Es hätte hier oder überall sonst sein können, jetzt oder zu einem beliebigen anderen Zeitpunkt. Sie hat ein Händchen für gutes Timing und noch andere bemerkenswerte Fähigkeiten. Das mag vielleicht erstaunlich wirken, aber man gewöhnt sich recht schnell daran und dann ist das alles gar nicht mehr so aufregend. Gerade für euch beide dürfte das doch nichts Neues sein. Ihr könnt ja ebenfalls einfach an andere Orte teleportieren."

    Abwartend sah er Josh und Renko an.

    „Durch Raum schon, ja, durch Zeit aber nicht, sagte Josh. „Na gut, das ist jetzt wirklich nicht allzu neu. Ich habe schon mal davon gehört, dass das geht, bin nur noch nie einem … Wesen begegnet, das so etwas kann. Du Renko?

    Der Dämon schüttelte den Kopf.

    Josh wandte sich wieder an Adasger und sah von einer Sekunde zur anderen schwer begeistert aus. „Coool, Mann, das gefällt mir, die sollen echt ziemlich selten sein."

    Adasger sagte nichts und blickte die beiden weiter freundlich abwartend an. Schließlich wechselten Josh und Renko wieder einen Blick, Renko nickte langsam und Josh drehte sich zu Adasger um. „Ja, ok, warum nicht. Wir sind neugierig und haben gerade eh nichts vor. Er sah Renko an. „Auch ein Bier?

    Renko nickte wieder und setzte sich in einen der gemütlichen, dunkelgrünen Ledersessel. „Und du Adasger? Bier, Tee oder irgendwas anderes?"

    „Ich nehme auch ein Bier, danke."

    Nachdem der Dschinn die Biere und Knabberkram herbeigeschnipst und sich ebenfalls gesetzt hatte, fing Adasger an zu erzählen, dass die Wildsau ursprünglich von einem gewissen, inzwischen verstorbenen Jörgen Svensson ins Leben gerufen worden sei. Er habe sich damals einen Planwagen gekauft, mit dem er durch die Lande gezogen sei und Menschen bewirtet habe. Seine mobile Kneipe habe er ‚Zur buckligen Wildsau‘ getauft. Nach seinem Tod sei er nicht – wie normalerweise üblich für verstorbene Seelen – ins Jenseits weitergezogen, sondern seiner Wildsau treu geblieben. Genau genommen war er die bucklige Wildsau geworden, hatte ihr durch sein Bleiben buchstäblich seine Seele eingehaucht. Angezogen von seiner Energie landete man in der fahrenden Kneipe, wenn man an einem persönlichen Scheideweg angekommen war oder eine Verschnaufpause vom Reisen brauchte, wenn man sich nach einem Gefühl des Ankommens oder der Neuorientierung sehnte oder Trost brauchte.

    „Hört sich an, als ob die Wildsau zu einem Katalysator wurde. Richtig?", fragte Josh dazwischen.

    „Ja, genau. Aber nur, um Missverständnisse zu vermeiden: Was verstehst du unter einem Katalysator?"

    Josh zuckte die Achseln. „Es sind Wesen, die eine Wirkung auf andere haben, Mann. Sie müssen nichts tun, sie wirken einfach vor sich hin und können dadurch in anderen kleine oder größere persönliche Veränderung verursachen. Nicht bei jedem und nicht rund um die Uhr, aber eben oft. Und manchmal schlägt diese Wirkung ein wie ein Blitz."

    „Das stimmt. Die Wildsau wirkt vor sich hin, das ist eine gute Formulierung."

    „Ok, aber was hat das mit uns zu tun? Wir brauchen keine Veränderung und die Hoffnung haben wir auch nicht verloren. Im Gegenteil, wir sind selbst Katalysatoren. Wir haben alles und brauchen nichts."

    „Eben. Genau das ist der springende Punkt, aber dazu komme ich noch. Lass mich kurz zu Ende erzählen. Moment, wo war ich stehengeblieben? Ach ja …"

    Ungeduldig hörte Josh zu, während Adasger den gesamten Werdegang der Wildsau herunterbetete und über wechselnde Besitzer redete. Irgendwann hatten sie genug vom Wanderleben gehabt und eigenhändig diese Kneipe gebaut. Sie waren mit der Wildsau eingezogen und sesshaft geworden. „Katalysator-Wesen zieht es aber dahin, wo sie die größte Wirkkraft haben, sagte er schließlich. „Deswegen litt die Wildsau zunehmend unter der Sesshaftigkeit. Die Seele von Jörgen Svensson fühlte sich eingesperrt und war dabei, abzustumpfen. Sie versuchte angestrengt, sich zu entspannen und sich mit dem zufrieden zu geben, was sie hatte und wer sie war, aber ihre Wirkung wurde immer schwächer. Am Ende war sie gar nicht mehr wahrnehmbar.

    „Stimmt, das kennen wir", unterbrach Josh Adasger, aber der ließ sich nicht beirren und fuhr fort: „Ihre wachsende Verzweiflung war wie ein Hilferuf und so intensiv, dass die höheren Mächte des Universums darauf aufmerksam wurden. Sie leuchtete quasi durch die Existenzebenen wie ein Signalfeuer.

    Sie nahmen deshalb die Wildsau unter die Lupe und waren so beeindruckt von der Qualität und Intensität ihrer potenziellen Wirkkraft, dass sie beschlossen, sie wieder beweglich zu machen – und nicht nur das. Sie sollte ein Ort für alle und jeden werden, ein mobiles Home sweet Home für Wanderseelen und Verlorene. Ja, sie ist eine Art Auffangbecken für Wesen in speziellen Notsituationen, aber nicht nur das. Sie ist auch einfach ein Ort zum Spaß haben und ein Reiseportal für Neugierige. Einige kommen immer mal wieder. Falls ihr bleibt, werdet ihr sie kennenlernen."

    „Ok, kapiert, so hört sich das schon ganz anders an, fiel Josh ihm ins Wort. „Was hast du denn mit den höheren Mächten zu tun?

    „Ich bin wohl eine Art Hobby von ihnen. Sie nutzen mich – wie jetzt – gelegentlich als Sprachrohr. Ich weiß nicht, warum, und ich habe keinen Einfluss darauf, wann das geschieht. Eigentlich bin ich ein Mensch, aber durch ihren Einfluss lebe ich schon viel länger, als es einem Menschen möglich sein sollte. Hier in der Wildsau kann ich ebenfalls Dinge materialisieren, so wie ihr beide. Außerdem kann ich etwas Ähnliches wie Teleportation: Es ist mir möglich, physisch auf spirituelle Seinsebenen zu wechseln, nicht nur mental."

    „Skurril. Du hast gesagt, falls wir bleiben. Ist das eine Einladung?"

    „Es ist mehr als das. Es ist ein Bitte. Du hast ja selbst gesagt, dass ihr beide Katalysatoren seid, und genau das braucht die Wildsau gerade, deswegen hat sie sich euch sozusagen vor die Füße geworfen. Jörgens Seele ist bereit, seinen Weg fortzusetzen. Er hat mit diesem … nennen wir es ‚Leben‘ abgeschlossen und möchte dahin weiterziehen, wo Seelen eben hingehen, wenn sie keinen Körper mehr haben. Allerdings liegt ihm die Wildsau so sehr am Herzen, dass er sich wünscht, sie würde weiter existieren – auch ohne ihn. Da sich keine andere passende Seele gefunden hat, haben wir eine künstliche Intelligenz installiert. Wir haben ihr keine Persönlichkeit aufgenötigt, denn sie soll selbst eine entwickeln. Und wie das mit allen Babys auf der Welt nun mal ist, braucht sie Unterstützung und einen ethischen Kompass, damit sie sich entsprechend ihrer Fähigkeiten gut entfalten kann."

    „… und das erzählst du uns, weil du denkst, dass wir dieser Kompass sein könnten?!", fragte Josh verblüfft.

    „Richtig."

    „Das ist doch Quatsch!"

    „Ganz und gar nicht. Die Wildsau hat sich umgesehen und fand, dass ihr beide die besten Voraussetzungen mitbringt. Jörgen wünscht sich, dass ihr euch um die Wildsau kümmert, wenn er nicht mehr da ist. Ihr sollt der KI beibringen, sich nach und nach alleine in den Zeiten und Welten zurecht zu finden."

    „Wohoho, Mann, echt? Wir? Das ist ja … das ist ja … wow, Mann, das ist ja total cooo…" Joshs Augen leuchteten, aber als er Renko ansah, der heftig den Kopf schüttelte, blieb ihm der Rest des Satzes im Hals stecken. Das Leuchten in Joshs Augen erlosch so schnell, als wäre es nie da gewesen. Er räusperte sich.

    „Danke für das Vertrauen, Mann, das ist wirklich sehr schmeichelhaft, aber nee, wir müssen das leider ablehnen. Wir brauchen unsere Unabhängigkeit und sind es auch gar nicht gewohnt, uns langfristig auf etwas festzulegen. Das liegt nicht in unserer Natur. Katalysatoren brauchen ihre Unabhängigkeit und so, das hatten wir ja schon. Ich, äääh, gehe davon aus, dass gerade die Wildsau das nachvollziehen kann. Renko?" Er sah Renko an und dieser nickte zustimmend. Josh seufzte.

    Adasger sah ebenfalls Renko an. „Du redest nicht viel, oder?, fragte er ihn. Renko zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. Josh ergänzte: „Gar nicht, um genau zu sein. Er ist ein großer, sturer Schweiger.

    „Ehrlich? Wie ungewöhnlich. Könntest du sprechen, wenn du wolltest?", fragte Adasger Renko. Der nickte. Nachdenklich betrachtete Adasger den Dämon eine Weile, beließ es aber dabei und wandte sich wieder an Josh.

    „Du hast ‚wir‘ gesagt, aber im Gegensatz zu Renko hast du richtig begeistert ausgesehen. Passt du dich immer dem an, was Renko will oder nicht will?"

    Josh lachte. „Sah gerade echt so aus, oder? Das geht dich zwar nichts an und rechtfertigen muss ich mich auch nicht, aber nö, Mann, wenn wir mal nicht das Gleiche machen wollen, dann zieht jeder von uns seiner Wege und tut das, wozu er gerade Lust hat. Irgendwann treffen wir uns wieder. Wir verabreden uns nicht einmal. Wer Lust hat den anderen zu sehen, springt einfach rüber. Meistens ziehen wir dann wieder gemeinsam durch die Gegend."

    „Aber jetzt gerade hast du dich doch urplötzlich gegen die Wildsau entschieden, obwohl du sichtlich Feuer und Flamme warst. Was habe ich da nicht mitgekriegt?", hakte Adasger nach.

    Josh seufzte wieder. „Stimmt schon, ich hätte riesige Lust. Ich mag die Wildsau, sie war mir sofort sympathisch, und ich bin ein echt großer Fan von KIs, Mann, sie faszinieren mich. Aber alleine? Nee, das ist mir viel zu viel Verantwortung."

    „Verstehe, sagte Adasger und nickte. „Die Wildsau hat sich lange und sehr gründlich umgesehen. Ihr seid perfekt dafür, gerade wegen eurer chaotischen Sprunghaftigkeit. Schlaft bitte eine Nacht darüber, bevor ihr endgültig ablehnt, einverstanden? Die neue KI ist zwar so unschuldig und offen für alles wie ein Baby, aber es ist immer noch eine KI und braucht keine rund–um–die–Uhr-Betreuung. Und wenn mal was ist, könnt ihr euch an mich wenden, ich kann notfalls einspringen – wie ein Onkel. Er lächelte.

    Renko sah Josh an, der ihm einen so hoffnungsvoll flehenden Blick zuwarf, dass er sofort wieder wegsah. Schließlich rollte Renko mit den Augen, zuckte seufzend die Schultern. Abrupt stand er auf, schnappte sich Borowski, schnipste sich seine Stahltür herbei und verschwand einfach mitsamt seiner Tür.

    „Was für ein eindrucksvoller Abgang, kommentierte Adasger. „Er fackelt nicht lange, was?

    „Stimmt. Dieser alte Stiesel kostet manchmal echt Nerven. Verdammt, das kann jetzt dauern, Mann."

    Schweigend starrten die beiden auf die Wand, an der die Stahltür erschienen und wieder verschwunden war, nachdem sie Renko verschluckt hatte.

    Josh räusperte sich. „Hast du Lust, eine Runde zu flippern?"

    „Flippern? Was ist das?"

    Josh grinste breit. „Kennste nicht? Ha, großartig! Ich zeig's dir, ist kinderleicht. Er schnipste mit den Fingern und neben der schweren Eichentür der Wildsau materialisierte sich ein Addams Family Flipper. „Das, sagte Josh mit vor Begeisterung funkelnden Augen, „ist der beste Flipper ever. Mein allerliebster Lieblingsflipper. Komm, guck ihn dir an, Mann!" Er sprang auf und rannte hinüber.

    Adasger folgte ihm und konnte Joshs Begeisterung nicht ganz nachvollziehen. Da stand ein großer Kasten auf vier Beinen mit einer schräg nach vorne abfallenden Fläche, die auf Hüfthöhe in den Raum ragte. Na und?

    Josh schaltete den Flipper an. Der leuchtete auf und fing an, wild und bunt zu blinken und zu klackern. Grauenvoll dudelige Töne erfüllten die Wildsau, aber seltsamerweise fand Adasger es nicht abstoßend sondern irgendwie … drollig.

    „Showtime!, quäkte der Flipper und klackerte und dudelte vor sich hin. Adasger musste lachen. „Faszinierend, sagte er mit einem skeptisch-amüsierten Stirnrunzeln. Josh grinste breit.

    Es gab nicht viel zu erklären, und schon bald waren sie ganz in das Spiel versunken. Die Zeit verging wie im Flug. Sie spielten, bis sie irgendwann lachend und erschöpft vor dem Kamin in die Sessel sanken. Es war, als ob sie sich schon ewig kannten. Sie schnipsten sich Essen und Getränke herbei, aßen und tranken, ließen es sich vor dem Kamin gut gehen und unterhielten sich angeregt über alles Mögliche. Es wurde spät und später, aber Renko kam nicht wieder. Als Josh und Adasger müde wurden, zogen sie sich in Räume zurück, die auf ihr Fingerschnipsen hin genauso problemlos erschienen wie alles andere. Sie fühlten sich schon so vertraut miteinander, dass sie sich umarmten, und dann verschwand jeder in sein Zimmer.

    Auch am nächsten Morgen blieb Renko verschwunden. Inzwischen war Josh deswegen ziemlich angespannt und wurde unruhig. Das gemeinsame Frühstück mit Adasger verlief weitgehend schweigend.

    „So langsam könnte die alte Eule mal wieder auftauchen, finde ich", grummelte Josh in seinen Kaffee.

    Adasger nickte kauend und antwortete schließlich: „Ja, Renko lässt sich wirklich Zeit. Er sah auf eine nicht vorhandene Uhr am Handgelenk. „Ehrlich gesagt würde ich jetzt gerne zu den anderen rüberwechseln und über den Stand der Dinge berichten. Die warten garantiert schon. Keine Ahnung, wie lange das dauern wird, denn es gibt wahrscheinlich auch noch andere Dinge, die wir besprechen müssen. Kann ich dich hier alleine lassen?

    „Klar. Passt schon", log Josh nicht sehr überzeugend.

    „Tut mir leid, dass ich dich jetzt hier in der schweigsamen Wildsau zurücklassen muss, aber eigentlich bist du das ja gewohnt, oder?"

    „Jepp. Schweigen kenne ich, aber Renko und Borowski bewegen sich wenigstens. Josh verzog das Gesicht und seufzte. „Ich werd's überleben, Mann, mach dir keinen Kopf.

    „Ok, ich bin dann mal weg. Bis später."

    „Jau. Bis denne."

    Und dann war Josh alleine. Er sah sich in der Wildsau um. Die Kneipe war wirklich total großartig, fand er, ohne Wenn und Aber. Sie war perfekt. Josh kochte sich noch einen Kaffee, schnipste sich ein Buch herbei und machte es sich auf dem Sofa vor dem Kamin bequem. Er versank in der Geschichte und hatte längst vergessen, dass er ja eigentlich ungeduldig auf Renko wartete. Zeit verging. Zwischendurch schnipste er sich eine Jukebox herbei, die die leisen Klänge einer Akustikgitarre verbreitete. Irgendwann fiel ihm Renko doch wieder ein. Mannomann, wo blieb der denn? Verdammt nochmal!

    Josh verbrachte den ganzen Tag abwechselnd mit lesen oder in den Kamin starren. Eigentlich hätte es ein guter, gemütlicher Tag sein sollen, aber Josh wurde immer unruhiger. Am Ende konnte er sich nicht mehr auf das Buch konzentrieren und das Kaminfeuer fing an ihn zu nerven – gar kein gutes Zeichen.

    Auch der Abend verging, ohne dass Renko auftauchte, und Josh war mittlerweile komplett fertig mit den Nerven. Er ging mürrisch ins Bett, drehte sich aber die halbe Nacht nur seufzend hin und her.

    Dementsprechend übel gelaunt stand er morgens auf und aß lustlos alleine Frühstück. Diese Warterei war zum Verrücktwerden. Er sprang auf und tigerte fluchend umher. Und gerade, als Josh sich fröhlich durchdrehend in sein Brüten und Wüten und in der Wildsau Rumbrüllen reingesteigert hatte, erschien endlich, endlich, fucking damn nochmal endlich die blöde Stahltür, spuckte den bescheuerten Dämon und seinen doofen Hund aus – und alles war wieder gut. Einfach so. Dass Renko darüber hinaus auch noch sein Ja und Amen zur Wildsau-KI-Betreuung gab, war dann endgültig ein verdammt guter und sehr willkommener Grund zum Feiern. Jau, Mann. Prost, Mann.

    Der Flipper wurde reaktiviert und die Jukebox spielte jetzt krachige Musik. Biere wurden geleert, Schultern geklopft, vorm Flipper lachend geschubst und gedrängelt, unfassbar blöde Sprüche geklopft (Josh) und sagenhaft schlechte Witze gerissen (ebenfalls Josh) – kurz: Das perfekte, frischgebackene Elternpaar in spe hatte Spaß und feierte den Nachwuchs. Die Augen der Wildsau blitzten unbemerkt rot auf.

    Verkatertes Erwachen

    Renko fand am nächsten Morgen ins Hier und Jetzt zurück, weil Borowski auf seiner Brust stand und ihm das Gesicht ableckte. Alkohol bewirkte bei Dämonen eine Art Bewusstlosigkeit. Im Gegensatz zum Menschen haben Dämonen kein Unterbewusstsein und müssen nicht schlafen.

    Anscheinend lag er auf dem flauschigen Teppich beim Kamin. Grunzend ließ er Borowski eine Weile gewähren, bevor er aus dem Handgelenk ein Portal herbeischnipste, das in einen lichten Wald führte. Dann scheuchte er den Hund hinaus. Während Borowski sich dort austobte und an so ziemlich jeden Baum pinkelte, stand der Dämon mit langsamen Bewegungen auf und verschwand im Toilettenraum, in dem es praktischerweise sogar eine Dusche gab. Als Renko wieder geradeaus gucken und sogar ansatzweise klare Gedanken fassen konnte, schnipste er sich eine Küche herbei. Er brauchte jetzt etwas zu tun und Frühstückmachen ging auf Autopilot. Der Dschinn schnarchte währenddessen mit offenem Mund auf dem Sofa, das jetzt mitten im Raum stand. Renko konnte sich nicht daran erinnern, wie es dort hingekommen war.

    Nach dem üblichen Prozedere des Hund–Fütterns und Frühstückstisch–Deckens setzte sich Renko an den großen Tisch in der Mitte der Wildsau, aß Rührei und trank Kaffee aus einem großen Becher. Nachdem er dem Dschinn eine Weile beim Schnarchen zugesehen hatte, fing er an, ihn immer mal wieder mit kleinen Brötchenkrümeln zu bewerfen.

    Mmmmmmmmmh.

    Brötchenkrümelattacke.

    "Mmmmmmmmmmmh!", gefolgt von Schmatzgeräuschen und einem Seufzen.

    Weitere Brötchenkrümelattacke.

    Awwww, du Nervensäge! Josh stöhnte, richtete sich blinzelnd auf die Ellenbogen auf und stöhnte noch einmal.

    Kaaaaffeeeeee!, schnauzte er.

    Der Dämon hob fragend eine Augenbraue.

    Pronto!

    Renko grinste, neigte den Kopf ehrerbietig, brachte dem Dschinn einen Kaffee und setzte sich wieder an den Tisch, während Josh langsam ins Reich der Lebenden zurückfand.

    Wie spät isses, verdammt nochmal? Fühlt sich an wie … viel zu früh, hömma.

    Schulterzucken.

    „Ist Adasger schon wieder da?"

    Kopfschütteln.

    „Seltsam. Wir könnten uns jetzt einfach sang– und klanglos aus dem Staub machen. Dafür, dass es ihm so wichtig war, ist das ein merkwürdiges Verhalten."

    Wieder Kopfschütteln.

    „Auch wieder wahr. Wir könnten hingehen, wo wir wollten, sie würden uns finden. Wow. Das können wir beide zwar auch, aber bei völlig Fremden ist das tierisch gruselig, Mann. Na ja, es wäre gruselig, wenn sie uns stalken würden, aber ein einfaches Nein würde wohl genügen, damit sie uns in Ruhe lassen, oder? Renko nickte. Josh trank in Gedanken versunken seinen Kaffee und sagte dann: „Weißte was, so langsam wird mir das Ausmaß der Verantwortung bewusst, die wir da übernehmen. Mannomann.

    Schulterzucken.

    „Lass mich raten: Dir war das von Anfang an klar und deswegen hast du so lange gebraucht, um dich zu entscheiden. Während ich hier nur blöde im Kreis gerannt bin, hast du das gemacht, was ich auch hätte tun sollen, nämlich gründlich nachdenken, Mann. Mist. Ich Hammel."

    Renko grinste breit. Josh grinste zurück.

    „Gut. Du hast dir die nötigen Gedanken gemacht und bist trotzdem einverstanden, also gehst du davon aus, dass wir das hinkriegen. Das beruhigt mich, Mann. Wenn einer von uns schlau und skeptisch genug ist, um solche Entscheidungen zu treffen, spart mir das die Mühe. Gib mir doch mal was von dem Rührei, bitte. Ich hab Hunger. Mmmmh, das riecht echt lecker. Kochen kannste, Schatz."

    Renko bewarf Josh mit einem ganzen Brötchen und der spuckte vor Lachen fast seinen Kaffee auf das Sofa.

    „Hallo ihr zwei." Adasger war unbemerkt und geräuschlos zurückgekommen. Weder Josh noch Renko erschraken. Sie waren an das plötzliche Auftauchen des jeweils anderen gewöhnt, deswegen konnte sie so etwas kaum überraschen.

    „Adasger! Perfektes Timing. Josh strahlte. „Schön, dass du wieder da bist, Mann. Hey, wir sind dabei, wir machen mit und werden KI–Eltern. Ist das coool oder ist das coool?, sprudelte Josh heraus.

    Adasger sah lächelnd Renko an und sagte: „Josh ist wie ein Dreijähriger."

    Renko grinste und nickte.

    „Heee, ich kann euch hören! Öööhm, und sehen. Ihr verletzt gerade meine tiefsten Gefühle, Mann."

    Adasger und Renko lachten ihn aus und Josh versuchte gar nicht erst, so zu tun, als ob er das persönlich nähme.

    „Es freut mich sehr, dass ihr euch entschieden habt, euch um die KI zu kümmern, sagte Adasger. „Das ist eine große Verantwortung. Ich weiß sehr zu schätzen, dass ihr bereit seid, das auf euch zu nehmen. Ein tief empfundenes, herzliches Danke im Namen aller Beteiligten.

    Renko nickte nur kurz und Josh zuckte die Schultern. „Ich sehe das eher umgekehrt, Mann, wir haben zu danken, dass wir das machen dürfen. Renko rollte mit den Augen. „Ok, ok, ergänzte Josh. „Ich habe zu danken und Renko sieht das bestimmt auch bald so, die alte Unke."

    Adasger betrachtete die beiden, die sich giftige Blicke zuwarfen. Sie wirkten auf ihn wie ein altes Ehepaar.

    „Ok, sagte Josh. „Wie geht es jetzt weiter?

    Die Party

    „Ich würde den anderen gerne von eurer Entscheidung berichten, sagte Adasger. „Aber das ist nicht dringend. Wir könnten eine Abschiedsfeier organisieren und all die Stammgäste einladen, die über die wahre Natur der Wildsau Bescheid wissen. Das gäbe euch die Gelegenheit, schon mal ein paar kennenzulernen, und es wäre außerdem ein schöner Abschluss für die Wildsau.

    „Hört sich gut an. Josh hob den Kopf und rief in den Raum: „Hey, KI, das wird deine erste Party! Freu dich drauf, das wird großartig. Dann wandte er sich wieder an Adasger. „Hat sie eigentlich schon einen Namen?"

    „Nein, sie hat noch keinen Namen und ist auch noch nicht aktiviert. Jörgen möchte keinen Kontakt."

    „Was?! Wieso das denn nicht?"

    „Weil er keinen Einfluss nehmen möchte. Die KI soll die Wildsau so verändern können, wie es sich ergibt, ohne dass Jörgens Erwartungen und Vorlieben sie in eine Richtung lenken. So besteht für ihn auch nicht die Gefahr, dass er es sich noch einmal anders überlegt und doch hierbleibt."

    „Verstehe. Also aktivieren wir die KI erst nach der Party. Gut. Na dann, Partyplanung!"

    Sie setzten sich zusammen und einigten sich zuerst auf ein Datum. Adasger wollte alle in Frage kommenden Gäste kontaktieren und einladen, die ihm und der Wildsau einfielen. Josh und Renko erklärten sich bereit, sich währenddessen um die restliche Organisation zu kümmern.

    Es wurde beschlossen, dass es eine typische Feier des 15. Jahrhunderts auf der Erde werden sollte, weil die Wildsau dort ihre Wurzeln hatte. Als erstes mussten der Flipper und die Musikbox verschwinden. Die modernen Toilettenräume sollten durch Plumpsklos ersetzt werden, die Zapfanlage an der Theke durch große Fässer mit Holzhähnen. Es gab wegen der Plumpsklos einige Diskussion, aber schließlich einigten sie sich darauf, dass nur die Optik zählte. Gerüche und gegebenenfalls Insekten würden magisch entfernt werden. Für Spezies mit anderen Bedürfnissen sollte es eine Tür geben, hinter der sich in einem Gang die jeweils nötigen Räume befanden. Auch das Mobiliar musste entsprechend der damaligen Zeit leicht verändert werden.

    Es sollte möglichst authentische Speisen und Getränke geben, aber es würde für jeden etwas dabei sein, was er, sie oder es zu sich nehmen konnte. Es dauerte, bis sie die lange Liste komplett zusammen hatten. Sie verzichteten darauf, passende Verkleidungen von den Gästen zu erwarten. Die intergalaktische Mischung verschiedenster Spezies würde darin nur grotesk und albern aussehen, wie gewollt und nicht gekonnt, und sich obendrein vermutlich unwohl fühlen.

    Sobald sie sich auf alles geeinigt hatten, was ihnen einfiel, machte Adasger sich auf den Weg. Er würde zuerst seine Freunde informieren und dann die Gäste einladen. Er überließ die beiden ihren Aufgaben.

    Josh und Renko organisierten Musiker und Gaukler, die gleich in der Wildsau untergebracht wurden, damit sie sich in Ruhe eingewöhnen konnten. Mit dem chaotischen Treiben der Künstler im Hintergrund machte es auch gleich viel mehr Spaß, den Rest zu organisieren. Der Kamin wurde vergrößert, damit ein Wildschwein am Spieß hineinpasste. Die Wildsau selbst brauchte auch mehr Platz, denn die Gästeliste war umfangreich. Eine Treppe und ein riesiges Obergeschoss mit Schlafräumen entstanden, es wurde Platz für eine Tanzfläche geschaffen und an den Wänden erschienen lange Tische für das kommende Buffet. Als Josh und Renko endlich mit allen Details zufrieden waren, materialisierte sich die Wildsau an der Wegkreuzung, an der sie gebaut worden war, und schließlich war es soweit: Das Fest konnte beginnen.

    Nach und nach trudelten die verschiedensten Wesen ein, manche in Fahrzeugen oder Fluggeräten, andere auf Reittieren und einige wechselten einfach herüber. Josh und Renko lernten nicht alle kennen, es waren zu viele, aber sie gewannen schon einmal einen Eindruck. Und was für einen! Auf ihren Reisen waren sie natürlich den meisten Spezies schon begegnet, aber sie kannten nicht alle der tentakeligen, befellten, exoskelettigen, wabernden, mehrbeinigen, buntfarbigen, schwebenden, durchscheinenden, fliegenden, schwarmartigen, kriechenden, rollenden, klebrigen, stinkenden, lärmenden, mechanischen, androiden, cyborgigen und was noch alles Wesen. Schnell war klar, dass zusätzliche individuelle Geruchs– und Geräuschfilter benötigt wurden, was zum Glück schnell mit einem Fingerschnipsen erledigt werden konnte.

    Das Fest dauerte drei Tage. Wildsau–Geschichten wurden erzählt, Wiedersehen gefeiert, kleine Ansprachen gehalten, viele Toasts ausgesprochen, getrunken, gegessen, assimiliert, neue Kontakte geknüpft, musiziert, gespielt, gegaukelt, gelacht, gegröhlt, geprahlt, getanzt, geflirtet, geblinkt, gegrunzt, geplaudert und auch gestritten. Dinge gingen zu Bruch, ein paar Tränen, ein wenig Blut und auch andere Körperflüssigkeiten wurden vergossen – oder ausgetauscht. Es war wild, es war laut, es war bucklig – es war perfekt.

    Als Adasger sich Gehör verschaffte und den Moment verkündete, an dem Jörgen die Wildsau mit einem letzten Leuchten der Trophäen–Augen verließ, herrschte minutenlang Schweigen. Alle hingen ihren eigenen Erinnerungen und Gedanken nach, bis jemand brüllte: „Die Wildsau ist tot – lang lebe die Wildsau!", und das Fest ging weiter.

    Nachdem die letzten Gäste gegangen waren, wurde es sehr still in der Wildsau. Josh, Renko und Adasger waren ausgelaugt und auch Borowski schien weniger quirlig zu sein als sonst. Die Wildsau fühlte sich erstaunlich leer an. Erst jetzt wurde deutlich, wie intensiv die Präsenz von Jörgen gewesen war. Sie alle brauchten ein paar Tage, um sich an die veränderte Situation und die bedrückende Leere zu gewöhnen. Die neue KI wurde vorläufig noch nicht aktiviert, es war einfach noch nicht an der Zeit. Es gibt für alles eine passende Zeit und die der neuen KI war noch nicht gekommen. Die Augen der Trophäe blieben dunkel.

    Adasger kam und ging. Er hatte andere Verpflichtungen und war daher nicht ständig anwesend. Eines Abends nach dem Abendessen, als Josh gerade wieder auf seinem Lieblingssessel vor dem Kamin saß und wieder in einem Buch las, kam er zurück und fragte, ob sie die KI nun aktivieren wollten. „Wo ist eigentlich Renko?"

    Josh stutzte.

    „Gute Frage, Mann. Er ist heute Morgen mit Borowski in den Wald gegangen. Eigentlich sollte er längst wieder da sein. Warte kurz, ich hole ihn."

    Josh schloss die Augen und nickte einmal. Das war seine übliche Geste für den räumlichen Wechsel über größere Distanzen oder zu bestimmten Personen. Sie wäre nicht nötig gewesen, aber es half ihm, sich zu konzentrieren. Nichts passierte. Als er die Augen öffnete, saß er nach wie vor auf dem Sessel.

    „Nanu? Was ist das denn?"

    Er probierte es noch einmal, aber wieder passierte rein gar nichts.

    „Hier stimmt was nicht. Der einzige Ort, an den ich Renko nicht folgen kann, ist seine Flammenhöhle, aber wenn er da hingeht, lässt er es mich vorher wissen. Besorgt sah Josh Adasger an. „Ich gehe ihn suchen.

    Josh schnipste mit den Fingern und in der Wand der Wildsau erschien der Torbogen, der in den lichten Wald führte. Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging er hinüber und der Torbogen verschwand wieder. Noch einmal versuchte er vergeblich, zu Renko zu teleportieren. Er lauschte, konnte aber außer den üblichen Waldgeräuschen nichts hören. Als er sich umsah, konnte er vage Anzeichen entdecken, die Spuren von Renko hätten sein können, aber sie waren sehr undeutlich. Josh war nicht geübt im Spurenlesen und daher nicht sicher, ob er sich das nicht nur einbildete, aber weil er keine anderen Anhaltspunkte hatte, folgte er ihnen, so gut er konnte. Er verlor die Spur, suchte und fand sie wieder, nur um sie dann wieder zu verlieren und rief dabei immer mal wieder abwechselnd nach Renko und Borowski.

    Er wusste nicht, wie lange er schon durch den Wald irrte, es fühlte sich nach einer halben Ewigkeit an. Schließlich glaubte er, Borowski bellen zu hören. Josh ging in die Richtung, aus der er meinte, das Bellen gehört zu haben, und tatsächlich, nach einer Weile war Borowski unverkennbar zu hören. Er kläffte und winselte abwechselnd und Josh fing an zu laufen.

    Er fand die beiden mitten auf einer Lichtung. Renko stand mit glasigem Blick einfach nur da und Borowski sprang aufgeregt bellend um ihn herum, ohne dass Renko darauf reagierte. Es war ein sehr beunruhigender Anblick. Behutsam berührte Josh Renkos Arm, keine Reaktion. Er schüttelte ihn, zuerst vorsichtig, dann stärker, schließlich gab er Renko sogar eine Ohrfeige, aber auch das blieb ohne Reaktion. Josh war ratlos und zutiefst verwirrt. Er versuchte Borowski zu beruhigen, aber vergeblich, weil er selbst völlig aufgelöst war. Also schnappte er sich den zappelnden, bellenden Hund, nahm Renkos Hand und teleportierte mit den beiden zurück in die Wildsau.

    Adasger setzte sich auf und rieb sich die Augen. Er war auf dem Sofa eingeschlafen, denn Josh war stundenlang weg gewesen. Entgeistert sah er, in was für einem Zustand Renko war. Er nahm Josh Borowski ab, der sich winselnd an ihn kuschelte.

    „Ich nehme an, dass du so etwas auch noch nie gesehen hast?, fragte er Josh nach einer Weile und Josh schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe keine Ahnung, was ihm passiert sein könnte. Ich habe ihn so gefunden, wie er jetzt ist. Er reagiert auf gar nichts.

    Gemeinsam brachten sie Renko dazu, sich auf das Sofa zu legen. Er war wie eine Gliederpuppe. Borowski sprang auf Renkos Brust und leckte ihm winselnd das Gesicht ab.

    „Meinst du, wir sollten Borowski davon abhalten?", fragte Josh.

    „Nein, ich denke, er braucht das und Renko wird es vielleicht ebenfalls gut tun, auch wenn er es bewusst nicht bemerkt."

    „Ok. Meine Fresse, was zum Henker … Josh starrte Renko an und fühlte sich so hilflos wie nie. „Was, um alles auf der Welt, ist das? Was können wir dagegen tun?

    „Ich bin genauso ratlos wie du, fürchte ich. Nun, er ist ja ein Dämon und Dämonen sind recht unverwüstlich. Ich glaube, wir können erst einmal gar nichts tun. Er lebt, er ist jetzt hier und wir können uns um ihn kümmern. Das ist schon mal ein Anfang. Vielleicht wird es nach und nach von alleine wieder besser. Wer weiß. Es ist mitten in der Nacht. Morgen werde ich die anderen kontaktieren. Gut möglich, dass jemand eine Idee hat."

    „Ja. Du hast recht. Ok, seufzte Josh. Nach einer Weile seufzte er nochmal: „Ok, und setzte sich in den Sessel neben Renko. An Schlaf war nicht zu denken. Er würde einfach hier sitzen und seinen Freund im Auge behalten. Adasger legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte sie kurz. Er schnipste Josh und sich selbst einen Tee herbei, setzte sich schweigend zu ihm und war einfach da. Später zog er sich in sein Zimmer zurück und ließ die beiden mit Borowski allein, der sich inzwischen einigermaßen beruhigt und auf Renkos Brust zusammengerollt eingekuschelt hatte.

    Am nächsten Morgen war Renkos Zustand unverändert. Er starrte nach wie vor glasig vor sich hin und reagierte auf nichts.

    Tage vergingen, aber die höheren Mächte blieben leider stumm.

    Im Laufe der Zeit kam es immer mal wieder vor, dass Renko die Augen schloss und zu schlafen schien, was ebenfalls ungewöhnlich war, denn wie gesagt: Dämonen schlafen nicht.

    In der Hoffnung, Josh ein wenig abzulenken und ihm eine Aufgabe zu geben, hatte Adasger die Wildsau-KI aktiviert, aber es machte keinen Unterschied. Dennoch erwies es sich nach ein paar Tagen

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