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Stojan räumt auf: Kriminalroman
Stojan räumt auf: Kriminalroman
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eBook323 Seiten4 Stunden

Stojan räumt auf: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Immer noch sieht der längst pensionierte Kriminalkommissar Peter Stojan genau hin und mischt sich ein, wenn er ein Verbrechen wittert. Dass das Sauerland nicht von den Ungerechtigkeiten auf der Welt verschont wird, weiß er. Giovanni Amuso aus dem tiefen Süden Italiens erfährt es am eigenen Leib. Eine vermeintliche Traueranzeige erscheint in der Zeitung, die sich als Fälschung entpuppt. Denn niemand trauert um den Verstorbenen. Behutsam und beharrlich sucht Stojan nach Zusammenhängen. Er verreist, lässt sich belehren über Mafiaorganisationen und Gefängnisstrukturen, hinterfragt den Zusammenhalt in Familien und Partnerschaften und scheut sich nicht, gesellschaftliche Missstände anzuprangern. Dabei verliert er sich selbst und sein privates Umfeld aus den Augen. Während Zeugen, Opfer und Täter Rollen tauschen, droht ihm das Heft des Handelns zu entgleiten.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum26. Mai 2021
ISBN9783347307704
Stojan räumt auf: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Stojan räumt auf - Norbert Möllers

    Prolog

    „Porco dio, Gesu Maria! Warum steht der Idiot da mit seinem Fahrrad? Spring zur Seite, Herrgott spring! Der sieht mich nicht, madre Maria!"

    Die Reifen quietschten, wenigstens die drei, auf denen Giovanni in die letzte Kurve gerauscht war. Rasch hatte er das Steuer von rechts nach links geworfen. Und wieder nach rechts. Fahren konnte er, da machte ihm keiner etwas vor. Keinen besseren hätten sie haben können. Verdammt, jetzt hatte er ihn erwischt. „Spring, Idiot! Spring, habe ich gesagt, spring, die schießen, idiota!"

    Der Radfahrer rutschte, hielt sich soeben aufrecht. Er musste ihn so anfahren, dass er kippte, platt wurde, zu platt, für die Gewehrkugeln. Vielleicht gelang es ihm sogar, den Kerl in den Graben zu schubsen. „Hör auf zu schreien, Idiota!"

    Soll froh sein, wenn die ihn nicht sehen. Tempo, durchtreten! Quietschen. „Porco dio!" Warum haben die bloß geschossen?

    Nach rechts. Nicht bremsen! Schleudern. Jetzt war er dran. Der Wagen gehorchte ihm nicht. Gott sei Dank freie Bahn. „Gesu Maria. Falscher Gang. Der Motor heult. Hinten flattert was, haben sie endlich die Türen zu gekriegt, diese Idioten, verdammt. Der Wagen schlingert. Jetzt langsam beschleunigen, nicht überstürzen. „Gesu Maria, verdammt, merda! Hoffentlich ist der nicht tot, der mit der Uniform.

    „He, Itaker, hast du eben gehupt? Sag mal, hast du sie noch alle? Mach doch Blaulicht an! Du Schwachkopf! Hast du einen Knall? Lebensmüde? Brauchst du nur zu sagen. Wir sind das aber nicht, ist das klar! Los, zeig mal, was du kannst, Itaker, drück mal auf die Tube!

    Brauchst du Anfeuerung von hinten? Und was murmelst du da die ganze Zeit, meinst du wir hören das nicht?"

    1

    Sollte er Bilanz ziehen? Vorsätze formulieren? Weil ein neues Jahr anfing? Das sah Stojan nicht ein. Außerdem witterte er Gefahr für seine Bequemlichkeit.

    Vorsätze waren etwas für Träumer. Träumer und Hellseher. War er nicht. Behaupteten einige. Er wusste es.

    Dieses Mal war es anders, zugegeben. Er war nicht mehr allein. Emotional, unterbewusst. Streng genommen war er das vorher auch nicht, wenn er sich richtig entsann. Und wenn allein, dann nicht einsam. Die Rolle des Partners hielt Fido, der Boxerrüde, besetzt. Darüber war zu reden. Mit sich selbst. Und mit dem Hund. Gleich.

    Ging es ihm gut? War das stumme Ertragen des Älterwerdens die richtige Strategie? Oder sollte er sich wehren?

    Gelegentlich tat ´s irgendwo weh, linkes Knie, rechte Hüfte. Er ging regelmäßig mit seinem Hund spazieren, hin und wieder aß er mal einen Apfel. Wenn so Älterwerden funktioniert, konnte das seinetwegen weitergehen.

    War ´s das? Neue Batterien konnte er seinem Blutdruckmessgerät mal spendieren, die letzte Messung nach seinem Unfall vor einem halben Jahr hatte er nicht mehr ablesen können. Konnte auch an den Augen liegen, da war manchmal ein feiner Schleier. Dass es im Kopf schon mal hämmerte, war wohl normal. Aber er aß gesund, selten Fast Food, wenig Süßigkeiten. Oder er ging zu Tasso.

    „Griechische Küche ist die gesündeste der Welt!, sagte der auch ungefragt oft und gerne. Bei Tasso spielte er auch wieder Schach. Mit anderen Rentnern, dienstags abends ein paar Stunden. Dann wurden Könige, Damen und Springer bewegt, Stirne gerunzelt, Haare gerauft, gelegentlich „Schach gesagt. Ansonsten schwieg man sich die meiste Zeit an. Das war zweifelsohne gesund.

    Nach wie vor pflegte er freundschaftlichen Kontakt zu seinen ehemaligen Mitarbeitern. Sonja Steeger ließ ihn immer mal wieder an aktuellen Fällen teilhaben. Seine Perspektive hatte Gewicht und sie nahm gerne Tipps ihres alten Chefs wenigstens zur Prüfung mit. Gelegentlich wurde es etwas sentimental, wenn man in Erinnerung an frühere Fälle ins Schwelgen geriet. Die meisten hatten sie im Team gelöst, den letzten nach Stojans Pensionierung.

    Mit Jankowski traf er sich alle paar Wochen zum Angeln. Das heißt, Jankowski angelte und Stojan sah zu. Es wurde diskutiert, philosophiert, geblödelt, man tauschte sich aus. „Von Mann zu Mann", nannte Helen das. Kriminalfälle, die Fragen offengelassen hatten, die ungelöst abgelegt worden waren, tauchten in ihren Gesprächen ab und zu auf wie Fische an der gebogenen Angel. Stojan brauchte das, die Erinnerung an alte Fälle war er den Opfern schuldig.

    Jankowski selbst schätzte die abwägende Grübelei seines ehemaligen Chefs. „Der Chef denkt eben noch analog", war das eine oder andere Mal dann sein eher bei- als abfällig gemeinter Kommentar.

    Aber was war mit Helen? Das war die wichtigste Frage. Darum kam sie auch zuletzt. Sie hatten an den Weihnachtstagen harmonische Stunden verbracht, die Zeit vergessen, vertrunken, verschlafen und sich in den Winterberger Wäldern verlaufen. Sie hatten beide gespürt, dass da etwas gewachsen war. Gesprochen hatten sie nicht darüber, keiner wollte auf ein zartes Pflänzlein trampeln. Zunächst nur genießen. Aber dass Helen Silvester bei ihrem Bruder in Süddeutschland verbracht hatte, hatte ihm schon einen Stich versetzt.

    Stojan hatte mit Fido in seinem Bungalow an einer möglichen Zukunft gemalt, war bei seinen Überlegungen aber schon am Wort Bungalow hängen geblieben und hatte viel Zeit verschwendet mit Recherchen über die Herkunft dieses Begriffs. Ja, Zeit verschwenden zu können, erschien ihm durchaus ein reizvolles Privileg des Single-Daseins zu sein. „Wenn Helen da ist, riecht es besser, was meinst du, Fido?" Der Hund schnupperte: Da lag ein Stück Käse von gestern, drei Teller standen in der Spüle und warteten auf heißes Wasser, ein paar Gläser daneben. Die Flaschen müssten zum Altglas. Die gelben Säcke hatte er längst schon untersucht, seine Fleischdosen schienen alle leer zu sein. Die Socken auf dem Sofa gehörten Herrchen, der Knochen daneben ihm. Ein 2016er.

    Nein, der Hund hatte an dem Geruch im Hause Fido-Stojan nichts auszusetzen. Aber Helen sollte trotzdem gefälligst bald wiederkommen.

    Die klare Winterluft, die sie dann mittags auf dem Spaziergang begleitete, räumte die Nasen von Herrn und Hund auf. Wenig Schnee an den Wegrändern, ein paar angetaute Regenpfützen, der Blick nach vorne und nach oben war angenehmer: ein bisschen Blau, ein heller Schimmer. Der Kopf wurde geputzt, freier. Und beschloss, dass im Moment keine Entscheidungen anstanden. Keine, die an Bedeutung die Frage nach der nächsten Mahlzeit übertraf.

    Beinahe hätte er die Wildkamera übersehen, die an einem Weidezaunpfahl kaum dreihundert Meter hinter seinem Grundstück befestigt war. Er wusste, dass solche Kameras auf Bewegung reagierten, zur Wildbeobachtung und Grundstücksüberwachung eingesetzt wurden. Oder gestörten Persönlichkeiten beim Spannen ihre Dienste anboten. Zu letzteren zählte er unbedingt seine nächsten Nachbarn, ein Geschwisterpaar. Sie besaßen einige Wiesen und Waldstücke. Früher hatte Stojan den ehemaligen Soldaten und seine als Seherin firmierende Schwester für schrullig gehalten. Mittlerweile hatten sich die beiden als äußerst unangenehme Zeitgenossen entpuppt. An Fensterscheiben und an den vorgelagerten Schuppen pinnten sie wechselnde Slogans, die ihre rassistische Grundeinstellung kaum verhehlten. Und deren strafrechtliche Relevanz nach Stojans Meinung längst mal überprüft gehörte. Selten, dass er ohne irgendwelche Mensch oder Hund beleidigende Nachrufe an dem Grundstück vorbeikam. Stojan war froh, dass deren Wohnhaus zwar in Sichtweite, aber dennoch weit genug entfernt von seinem eigenen lag.

    Die Ausrichtung der Kamera machte ihn stutzig. Wieso auf den Gehweg? Der Asphaltbelag war längst übergegangen in einen schmierigen Untergrund aus vereistem Laub und mit wenig feuchtem Kies gefüllten Furchen, dazwischen standen vereinzelte Grasbüschel. Hier gab es nichts zu überwachen. Wild hielt sich nicht an Wegbegrenzungen. Selbst Liebespaare mit spärlicher Fantasie sollten romantischeres und komfortableres Ambiente finden, mit Sicherheit im frühen Januar. Hier fuhren gelegentlich Trecker her, Fahrzeuge der Forstbetriebe. Selten sah man Spaziergänger. Stojan wollte es jetzt wissen. War die Kamera mit einem Weitwinkel- oder einem Teleobjektiv ausgestattet? Er blickte zurück. Sein Grundstück lag gut sichtbar vor einer Kurve.

    Völlig in Gedanken verpasste er eine Abzweigung und fand sich vor Tassos Kneipe wieder. Geschlossen. Er drehte um und schlug gemächlicheren Schrittes den Rückweg ein. Er würde die Kamera mitnehmen, beschloss er. Wenn sich einer deswegen zu beschweren hatte, wusste er wenigstens, mit wem er es zu tun hatte. Notfalls konnte er sich immer auf Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte berufen. Fido, der sich an die bummelige Gangart gewöhnt hatte, wurde ihm auf einmal zu langsam.

    „He, Boxer, mach vorwärts!" Ein paar Mal ruckte er an der Leine, bevor der Hund einsichtig war. Bald hatten sie die Wiese mit den Weidepfählen wieder erreicht. Sie standen im Abstand von circa sechs Metern zueinander, Stojan suchte sie mit den Augen ab. Welcher von den acht war es? Einen Drahtzaun zwischen den einzelnen Pfählen gab es nicht. Weit und breit waren weder Vieh noch Pferde zu sehen. Die Kamera war mit einem mehrmals um den Pfahl gewickelten Gurt befestigt, auffällig genug von beiden Seiten. Auf jeden Fall, wenn man aufmerksam war. Fünf der Pfähle hatten sie passiert, auch an den drei letzten hing keine Kamera. Stojan ging zurück, suchte Pfahl um Pfahl ab. War sie hinuntergerutscht? Er kontrollierte die Perspektive. Sein Haus lag am sichtbaren Ende des Wegs, kurz bevor er sich in einer Rechtskurve verlor. Hier war es, kein Zweifel. Vor knapp einer halben Stunde jedenfalls.

    Stojan schritt ein weiteres Mal die Pfähle ab. Neuerdings ertappte er sich gelegentlich dabei, wie er seine eigenen Wahrnehmungen hinterfragte. „Reine Vorsichtsmaßnahme, Fido, solltest du auch mal machen! Fido guckte unverständig. „Verdammter Mist! Warum habe ich die nicht sofort mitgenommen? Mist, verdammt!

    Das Fluchen half nicht. War das Zufall? Alles harmlos? Nirgends eine Wildkamera. Irgendwer hatte seine Beute eingetütet. Ob jetzt der Tierfreund seine Familie mit verwackelten Wildschweinen nervte oder der Wissenschaftler am Bildschirm die sauerländische Fauna einem internationalen Vergleich unterzog, war ihm schnuppe. Und wenn der Liebhaber schlüpfriger Filmchen seine Sammlung um menschliches Paarungsverhalten im Winter bereicherte, viel Spaß dabei. Ging ihn nichts an.

    Wohl aber, wenn er die Zielscheibe war. Oder seine Gäste. Sollte er jemandem davon erzählen? Oder lachte man ihn aus?

    In jedem Fall würde er etwas unternehmen. Aktiv. Mal beim Arzt durchchecken lassen. Oder war das passiv? Mal zum Friseur gehen. Das war eindeutig passiv. „Fido, was meinst du?"

    2

    Die Tabletten wirkten. Nicht dass die Schmerzen nachließen, nein, kein bisschen, eher das Gegenteil war der Fall. Der alte Mann ächzte. Das Sofa wurde ihm unbequem. Aber das Rumoren im Bauch und die aufsteigende Übelkeit ließen keinen Zweifel aufkommen: Ein Prozess war in Gang gesetzt worden. Musste ein chemischer Prozess sein. Er kannte das. Bald würde sich der Druck verstärken, kaum aufhalten lassen und dann musste er wieder gehen, sich bücken und hocken und hoffen, sich später wieder hochhangeln zu können. Morgen wollte er die Tabletten weglassen, ausprobieren, ob sie eine andere Wirkung hatten als Grimm und Revolte in den Eingeweiden. Eine Nebenwirkung, die er erst wahrnahm, wenn sie fehlte. Zum Beispiel Unterdrücken von anderen Schmerzen, die sich dann frei entfalten durften: im Kopf, im Nacken, in den Fingern, da, wo er sonst wenig Qual verspürte.

    „Danke! Danke, dass ich nicht auch Schmerzen an der Nasenspitze habe, danke. Liebe Nasenspitze, dich mag ich lieber als den Rücken, weißt du das schon?"

    Manchmal halfen Selbstgespräche. Überhaupt war er seltsam klar, konnte von gestern bis morgen denken. Oder weiter.

    Vielleicht hatten die Tabletten einen weiteren Nutzen. Einen, indem man sie nicht nur nicht einnahm, sondern sammelte. Damit sie dann alle ihren gemeinsamen Auftritt bekommen, als großes Orchester. Ein Tutti, hieß das nicht so? Oder Tutto. Nein, Tutto hieß die Nachbarskatze.

    „Hoffentlich muss ich nicht kotzen." Er hatte Geräusche vernommen. Oder sich eingebildet?

    Manchmal helfen Selbstgespräche nicht. Seine Augen suchten nach einem Handtuch.

    Alle hatten ihn ausgenutzt. Hätte er einen Sohn gehabt, wäre das anders ausgegangen. Oder eine Tochter. Aber das lag nicht an ihm, das lag an seiner Frau und ihren Gitanes. Ohne Filter. Gott habe sie selig.

    Er war feige. Irgendwann war es zu spät. Ist nicht alles irgendwann zu spät? Jetzt ist es sowieso zu spät. Die Nichte sah traurig aus, wenn sie kam.

    „Sie weiß etwas. Sie guckt in mich hinein. Seine Stimme war leise, er konnte sie selbst kaum hören. „Immer muss ich irgendetwas unterschreiben, was ich nicht verstehe. Gemurmel.

    Und dann halfen sie doch wieder. Die Selbstgespräche.

    Irgendjemand war im Raum. Er war sicher. Ohne die Augen zu öffnen. Er schob das Handtuch vom Gesicht.

    So viel war ihm entglitten. Immer nur unterschreiben. Früher hatte er gearbeitet. Er merkte, dass es nicht gut war, sich mit diesen Dingen zu beschäftigen, die Schmerzen kamen wieder.

    Jetzt wusste er, woher die Geräusche kamen. „Habe ich mehr Krebs oder mehr Kopfdurcheinander, weißt du das, Doktor?" Er duzte die Menschen, die ihn besuchten. Das war einfacher für ihn. Manchmal kamen Menschen, die er nicht kannte, gestern erst oder vorige Woche. Der Arzt machte irgendetwas, drückte und horchte, schrieb etwas auf. Das musste er nicht unterschreiben.

    „Du bist doch mein Hausarzt, oder?"

    „Sicher, ich bin Ihr Hausarzt. Haben Sie heute wieder Schmerzen? Dr. Thilo Hebert duzte ihn nicht, er vermied die Anrede. Er hatte es mal mit „Heinz und „Sie" versucht, sich aber dabei nicht wohlgefühlt. Und ihn mit Nachnamen anzusprechen, kam ihm nicht passend vor. Auf Respekt und Höflichkeit verzichtete der Arzt nicht, erst recht nicht bei alten und dementen Menschen. Und dieser hatte sicher etwas geleistet in seinem Leben, seinen Mann gestanden in dem Betrieb, in den er eingeheiratet hatte. Soweit Hebert wusste, hatte man es seinem mittlerweile ziemlich hinfälligen Patienten nie leicht gemacht.

    „Du bist doch kein Neger, Doktor?"

    Hatte er richtig verstanden? Der Regen klatschte laut gegen die Scheiben, stürmisch war es den ganzen Tag schon. Die Stimme des Alten schien von weit her zu kommen.

    „Oder Jude?"

    Was ging in dem Alten vor?

    „Oder schwul?" Lauter, bohrender.

    Der Regen hatte einen schnell peitschenden Rhythmus gefunden. Der Arzt überlegte, ob er antworten sollte ober lieber so tun, als habe er nichts gehört. In einer halben Stunde fing seine Nachmittagssprechstunde an. Das Wartezimmer war donnerstags immer überfüllt, meistens schon um diese Zeit. Er war müde, und ihm war ein wenig übel. Er war völlig überrascht von dieser Attacke des Alten.

    Ihn in die Schranken zu weisen, das war auch eine Sache der Hygiene. Hatte er die Kraft, die Zeit, die Lust dazu?

    Der alte Mann sah auf einmal wieder klarer. Hatte der Doktor ihm eben eine Spritze gegeben? Ihm war so. Er hatte irgendetwas gesagt, was er besser nicht gesagt hätte. Die Miene des Doktors schien ihm abweisend. Aber auch abwesend.

    „Ich brauche mehr Tabletten gegen Schmerzen, hörst Du, Doktor?", sagte er. Dann habe ich sie schneller zusammen, sagte er nicht.

    Dr. Hebert nahm noch etwas Auszeit. Dann war er wieder im Dienst. „Und wie ist es mit Übelkeit?"

    „Geht so." Aber wenn er jetzt an die Firma dachte und wie das alles passieren konnte, dann wurde ihm wieder schlecht. Früher hatte er es verstanden. Es ging um Geld, das ihm gehörte, das war kompliziert. Dann spendete er es und es gehörte ihm nicht mehr. Das war verständlich.

    „Ich schreibe welche auf." Der Alte sah, dass die Hände des Arztes zitterten. Was hatte er zu ihm gesagt? Er hatte es vergessen. Er war doch nicht unhöflich gewesen? Das war nie seine Art. Die Gedanken hüpften.

    „Bist du etwa ein alter Nazi? Dr. Hebert hatte den Respekt verloren. Ganz nah war er ans Sofa getreten. „Ja? Bist du das? Jetzt rann dem Doktor sogar etwas Speichel aus dem Mundwinkel. Rasch packte er seine Utensilien in den kleinen Koffer und verließ den Raum und das Haus ohne Gruß.

    Er musste mit der Nichte sprechen. Unbedingt. Es gab Grenzen.

    3

    Irgendwo summte etwas. Dann schepperte ein altes Klavier. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Stojan sein Handy unter der Zeitung gefunden hatte.

    „Hallo, Herr Stojan! Gut, dass ich Sie endlich erreiche. Oft scheinen Sie nicht auf Empfang zu sein. Kleefisch hier, Paul Kleefisch, JVA Werl. Ich wollte Sie informieren, Sie hatten mich gebeten …, Herr Stojan? Hören Sie?"

    Peter Stojan hörte. Hörte und dachte und überlegte: Wer zum Teufel war Paul Kleefisch?

    „Ja? Was wollte ich?" Kleefisch, Kleefisch, nee. Paul …? Schon mal gar nicht.

    „Herr Stojan, ich rufe an wegen Amuso, Giovanni Amuso. Sie haben mich gebeten, Ihnen Bescheid zu geben, wenn es etwas Neues gibt."

    Noch ein Name. Aber einer, der Stojan sofort etwas sagte, ihn elektrisierte. Die Scheiben frei kratzte. Mit einem Ruck hatte er sich aus seinem Sessel erhoben. „Ach Kleefisch, Herr Kleefisch, klar, Sie sind das. Warum sagen Sie das nicht gleich. Was ist mit Amuso?"

    Was zu schreiben, Moment, wer hat meinen Kuli schon wieder…? „Warten Sie, Herr Kleefisch, ich suche gerade einen Stift, warten Sie, hier …, gleich …. Er war jetzt an seinem Schreibtisch angelangt. Vom Fenster drang keine Helligkeit mehr nach innen, obwohl es kaum fünf sein konnte. Aber seit Tagen hatte dichter Nebel wenig Licht ins Rothaargebirge gelassen. „Was ist mit Amuso, kommen Sie schon! Hat er was gesagt?

    Er hatte endlich einen Bleistift ertastet und ein Schreiben von der Haftpflichtversicherung. Die Rückseite war zwar schon zur Hälfte vollgekritzelt, aber für die Neuigkeiten sollte der freie Platz reichen. Seinen Lieblingskuli musste Marina, seine Putzhilfe, verschleppt haben. Wie immer. Wer sonst.

    „So, ich höre jetzt, Herr Kleefisch, bitte." Er ließ sich zurück in den Sessel fallen, streckte die Beine von sich. Um im nächsten Moment allerdings wieder kerzengerade im Raum zu stehen.

    „Was sagen Sie?"

    „Tot. Amuso ist tot, Herr Stojan. Am 7. Januar ist Giovanni Amuso gestorben."

    4

    „So geht der Deal, junge Frau. Die Anzeige muss raus. Sie haben das doch verstanden? Der alte Herr und seine Sünden interessieren mich nicht, ich bin nicht sein Beichtvater. Mir hat der nichts getan. Der nicht. Mir nicht. Aber ewig kann ich nicht warten. Ich will nicht, dass die Bombe in meiner Hand hochgeht, dann ist die auch im Arsch, junge Frau. Die hier. Sie verstehen das?" Er hob seine rechte Hand in die Höhe und drehte sie im Gelenk und winkte langsam hin und her.

    Das sieht unbeholfen aus, dachte die junge Frau, die wenig älter war als der Mann. Unbeholfen, obwohl es doch seine bessere Hand war. Überhaupt war er ihr unheimlich, sie leugnete es nicht. Er passte in die muffige Wohnung mit den vollgestellten Wänden und den abgelebten Möbeln, zu der es mindestens sechs Stufen hinunterging. Das nächste Mal würde sie zählen.

    Zuerst hatte sie den Eingang nicht gefunden, nirgendwo stand ein Name. Aber das hatte man ihr vorhergesagt: Sie würde nicht nur räumlich in die Souterrains eintauchen. Das Benehmen konnte genauso unterirdisch sein. Zu diesem armen Teufel hatte sie ein spezielles Verhältnis. Manchmal war er witzig, zumindest besaß er eine makabre Art von Humor, sagte mal etwas, das sie kurz stutzen ließ.

    Allein, wie er sich vorgestellt hatte, damals: „Gestatten, Quasimodo. Sie schickt mir der Himmel oder die Hölle".

    Es hatte gedauert, bis sie sich an seine Aussprache gewöhnt hatte. Er konnte argumentieren, überzeugen, er wusste Bescheid, gut sogar. War er besser vernetzt, als sie vermutete? Den Plan hätte sie ihm zunächst kaum zugetraut. Er war perfide, aber er hatte was.

    „Ein Datum kommt ja nicht auf die Anzeige, aber man wird schon wissen, dass die Leiche nicht mehr warm ist. Und man hatte möglicherweise bereits Zeit für irgendwelche Schlaumeiereien. Ihm gehts nicht so gut, dem alten Herrn? Isst und trinkt nicht mehr so richtig? Ganz gelb im Gesicht, sagen Sie? Das sieht doch gut aus, nach Punktlandung. Heißt doch so."

    Er hielt den Kopf schief, sodass die Augen wieder nebeneinanderstanden, und blinzelte sie von unten aus dem Sessel mit dem abgewetzten Cordbezug an. Will sie ihn hinhalten, fragte er sich. Wird sie sentimental? Ach Gott, die doch nicht. Die weiß, was sie tut. Die hat das genau bedacht. Von ihr hatte er das Programm. Er hatte ihren Namen vergessen. Irgendetwas mit G, war es nicht so?

    Alles war möglich. Sogar, dass nichts passiert. Oder man denkt, es passiert nichts.

    Wie bei einer Lunte, die so tief ist, dass sie keiner riecht, so lang, dass man sie vergisst.

    „Dass das in Gang kommt! Nicht ewig fackeln! Wir brauchen eine Deadline. Sonst wird ´s kompliziert, für alle Beteiligten. Mit der linken, schlechteren Hand schob er seine Steppjacke von einem Hocker und wies auf die neu geschaffene Sitzgelegenheit. „Mittwoch würde gut passen.

    „Danke, lassen Sie mal. Ich stehe gerne. Außerdem war alles gesagt. Mittwoch. Könnte klappen. „An mir solls nicht liegen. Ich werde Vollzug melden. Sie wollte weg. An die frische Luft. Auch wenn es draußen trüb war, neblig und kalt, so war es dennoch fraglos besser als stickig, abgewetzt und hinterhältig.

    „Hat der Vogel genug Futter?" Sie war ja nicht nur subversiv unterwegs.

    Der Mann, der sich Quasimodo genannt hatte, antwortete nicht. Die Frau, deren Namen er vergessen hatte, schloss die Tür, tastete sich durch den Gang, zählte die Stufen. Sie war verwirrt.

    Hatte sie nichts verkehrt gemacht? Immerhin war es eine Entscheidung von beträchtlicher Tragweite.

    5

    Das Gewerbegebiet war unübersichtlich, schmuddelig. Entstanden wie Wildwuchs, nicht sorgfältig auf dem Reißbrett entworfen von ambitionierten Stadtplanern mit Soziologie im Nebenfach. Wildwuchs, Unkraut, Warzen.

    Oder Metastasen, schoss Stojan in den Kopf, dessen Blick auf die Autowracks fiel, die Reifenstapel vor den Hallen mit

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