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Loslassen: Autobiografische Erzählung
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eBook152 Seiten1 Stunde

Loslassen: Autobiografische Erzählung

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Über dieses E-Book

Laut einer Befragung unter Psychologinnen und Psychologen erleben viele Menschen den Tod ihrer Eltern als belastender als etwa die eigene Scheidung oder den Verlust des Arbeitsplatzes. Wie geht man als Angehöriger mit so einer Situation um? Soll man über das Sterben, den Tod, die Beerdigung sprechen? Wie leistet man Beistand und Trost? Was kann man überhaupt machen? Ist man mehr als eine Fallakte im Getriebe des Gesundheitsapparates? Welche Herausforderungen gilt es innerhalb der Familie zu bewältigen?
Der Autor setzt sich mit der Leukämieerkrankung seiner Mutter auseinander, die zu ihrem Tod führte. Er berichtet über Diagnose, Therapien, Verzweiflung, Wut und Hoffnung. Darüber, wie man die verbleibende Zeit sinnvoll nutzen kann, um dem Patienten einen würdigen Abschied zu ermöglichen und Versäumtes nachzuholen. Er versucht auch, sich auf das Leben nach dem Tod der geliebten Mutter vorzubereiten, nichts zu tun oder zu unterlassen, was er später bereuen könnte.
Dieses Buch ist weit weniger bedrückend, als es sein könnte. Es soll Mut machen, ein wenig Orientierung bieten und nicht zuletzt auch sehr persönliche Einblicke gewähren, in der Hoffnung, dass es anderen helfen kann, mit einer ähnlichen Situation möglichst gut zurechtzukommen.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum28. Apr. 2021
ISBN9783754114056
Loslassen: Autobiografische Erzählung

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    Buchvorschau

    Loslassen - Marc Frangipane

    Marc Frangipane

    Loslassen

    Autobiografische Erzählung

    Marc Frangipane

    Copyright: © 2021 Marc Frangipane

    Lektorat: Erik Kinting / www.buchlektorat.net

    Covergestaltung: Erik Kinting

    Published by epubli

    www.epubli.de

    Ein Service der neopubli GmbH, Berlin

    Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung, die über den Rahmen des Zitatrechtes bei korrekter vollständiger Quellenangabe hinausgeht, ist honorarpflichtig und bedarf der schriftlichen Genehmigung des Autors.

    Nicht mehr besetzt

    05362 655 – Ich wählte die Telefonnummer, obwohl ich wusste, dass niemand am anderen Ende ans Telefon gehen würde.

    »Dieser Anschluss ist zur Zeit nicht besetzt. Versuchen Sie es später noch einmal.«

    Ich legte auf und dachte darüber nach, wie oft ich diese Nummer in meinem Leben wohl gewählt hatte: in den letzten Monaten, in den letzten Jahren. Diese Telefonnummer war eine der wenigen, die ich sogar im Halbschlaf hätte auswendig aufsagen können. Vermutlich war es die erste, die ich kannte, die ich schon während Klassenfahrten auf langen Fluren in Landschulheimen gewählt hatte oder in Telefonzellen, nachdem ich von zu Hause ausgezogen war und noch keinen eigenen Telefonanschluss hatte. Immer wenn ich nach dem Wochenende wieder in meiner kleinen Wohnung war, wählte ich diese Nummer: »Bin wieder gut angekommen.« Häufig waren es nur wenige kurze Sätze, aber der Anruf war ein Ritual.

    Während sich meine Telefonnummer anfangs alle zwei bis drei Jahre änderte, weil ich umzog, blieb die Nummer meiner Mutter stets dieselbe. – Doch nun gab es sie nicht mehr. Der Anschluss wurde gekündigt.

    Nur wenige Wochen vorher hockte ich in einer schmalen Abseite auf dem Dachboden meines Elternhauses. Mit meiner Handy-Taschenlampe leuchtete ich in die Kartons, die dort herumstanden und in die bestimmt seit 30 Jahren niemand mehr gesehen hatte. Es waren alte Schulzeugnisse, ein Mutterpass (ich wusste bis dahin gar nicht, dass es so etwas gab), alte Schulaufsätze und Tapetenrollen, die hier offensichtlich als Ersatz gelagert wurden, für den Fall, dass mal irgendein Stück Tapete ausgewechselt werden musste; allerdings gab es viele dieser Tapeten gar nicht mehr, sie wurden längst übertapeziert. Sie hat wirklich nichts umkommen lassen, dachte ich und musste dabei lächeln. In einem Karton fand ich meine Kinderzimmertapete: Bäume, in denen bunte Vögel sitzen, alles gezeichnet. Irgendwann wurde auch diese Tapete mit einer neutraleren überklebt, weil mir das Muster ab einem bestimmten Alter peinlich war. Nun sah ich diese Tapete nach Jahrzehnten zum ersten Mal wieder und nahm ein Stück davon mit. Es hängt jetzt gerahmt in meiner Wohnung, die einzige Erinnerung an mein Kinderzimmer.

    Vermutlich würde dieses Stück Tapete nicht bei mir in der Wohnung hängen, wenn vieles anders gekommen wäre; wenn knapp drei Jahre zuvor meine Mutter nicht diesen Husten bekommen hätte, der einfach nicht weggehen wollte …

    Das Schicksal

    Viele Schicksalsschläge brechen von einer Sekunde auf die andere über uns herein, ohne Vorahnung oder Vorwarnung. Auf einmal ist nichts mehr so, wie es vorher war. Und es gibt Schicksalsschläge, die man anfangs gar nicht erkennt, weil sie sich geschickt tarnen.

    Die Verleihung der Sportabzeichen ist in dem kleinen Ort, aus dem ich komme, immer ein großes Event, so auch in jenem Jahr. Mitte Februar wurden die Sportabzeichen mit einer Urkunde übergeben, dann wurden Gyros, Souflaki und Bifteki gereicht und der Ouzo eingeschenkt. – Ein geselliger Abend im Sportverein. Es wurde gelacht, erzählt und es wurden Fotos gemacht. Auf einem ist auch meine Mutter drauf. Sie hat als Übungsleiterin die Wettkämpfe abgenommen. Sie lacht fröhlich in die Kamera. Ich sehe dieses Foto erst einige Jahre später und schaue es mir sehr lange an, denn vielleicht ist dieser Moment, in dem das Foto gemacht wurde, einer der letzten unbeschwerten Momente im Leben meiner Mutter. Heute weiß ich: Das Schicksal – oder wie man es auch immer nennen will – muss vermutlich bereits an diesem Abend zugeschlagen haben; noch so leise, dass es niemand bemerkte.

    Wenige Wochen später, Ende März, erwähnte meine Mutter in einem unserer regelmäßigen Telefonate eher beiläufig, dass sie seit Tagen einen starken Husten habe. Obwohl ihr Hausarzt bereits ein Antibiotikum verschrieb, ging er nicht weg.

    »Ist bestimmt eine schwere Erkältung, warte noch mal einige Tage ab«, riet ich ihr.

    Natürlich hatte ich gerade andere Sachen im Kopf als mich damit groß auseinanderzusetzen. Es war März und noch mehr Winter als Frühling, da war ein starker Husten nun mal alles andere als ungewöhnlich.

    Doch der Husten ging nicht weg. Ich war erleichtert, als ich hörte, dass beim Röntgen ihrer Lunge nichts Auffälliges gefunden wurde. Selbst als ihr Hausarzt Blut abnahm, um es untersuchen zu lassen, machte ich mir keine großen Gedanken.

    Doch das Ergebnis ließ mich zum ersten Mal aufhorchen: Irgendwas stimmte mit den Blutwerten nicht. Schlechte Blutwerte gab ich als Suchbegriff bei Google ein und die meisten Treffer ließen mich zusammenzucken. Ich glaubte aber erst mal, dass die Ursache ganz harmlos sei und man einer Ferndiagnose von Dr. Google nicht trauen dürfe. Ohnehin hatte ich wenig Zeit, mir irgendwelche Gedanken über den Gesundheitszustand meiner Mutter zu machen, denn sie hatte sich am Wochenende zum Besuch angekündigt. Das setzte bei mir und meinem Freund Jan ein mittlerweile eingeübtes Handlungsmuster in Gang, das wir im Laufe der Jahre perfektioniert hatten: Einkaufen, Wohnung aufräumen und putzen. Das machten wir natürlich auch sonst regelmäßig, aber wenn sich Besuch ankündigte natürlich umso gründlicher. – Und wenn meine Mutter kam, am gründlichsten. Sie hatte ein besonderes Auge dafür und neigte dazu, vermeintliche Defizite in unserem Haushalt offen anzusprechen: »Das Waschbecken hat aber auch lange keinen Putzlappen mehr gesehen. Soll ich euch mal einen kaufen?« Mit ihrer direkten Kommunikation und ihrer burschikosen Art konnte nicht jeder umgehen, Diplomatie war ganz sicher nicht ihre größte Stärke. Ich hatte das erst in den letzten Jahren immer mehr schätzen gelernt, nämlich als direktes und ehrliches Feedback, ohne die rosarote Mutterbrille. Vor einigen Jahren hatten wir uns einen neuen Wohnzimmertisch angeschafft. Als ich ihn ihr stolz präsentierte, musterte sie ihn kurz und sagte »Gefällt mir überhaupt nicht.« Viele andere Mütter hätten dies bestimmt anders formuliert; mich überkam eine seltsame Mischung aus Enttäuschung und Wut. Allerdings wusste ich so auch immer, woran ich war. Und wenn ich ehrlich bin, ist mir ein ungefiltertes Feedback lieber als ein diplomatisch verpacktes. So wurde meine Mutter in den letzten Jahren zu einem wichtigen Korrektiv für mich. Aber als Jugendlicher war mir diese Direktheit häufig etwas unangenehm.

    Schatten über der Elphi

    Ich hatte mir für dieses Wochenende ein schönes Programm in Hamburg überlegt. Wir besichtigten die (damals noch sehr neue) Elbphilharmonie und gingen abends zu unserem Lieblingsgriechen. Es war Ende Mai, das Wetter herrlich und unsere Stimmung meistens auch. – Doch etwas war anders als sonst. Mir fiel relativ schnell auf, wie schwach meine Mutter war, eine sehr sportliche 67-jährige Frau. Auf dem Weg zur Elphi musste sie sich mehrmals auf eine Bank setzen. Beim Essen im Restaurant hatte sie keinen großen Hunger, stocherte lustlos auf dem Teller herum und wollte früh wieder zurück in unsere Wohnung.

    Am nächsten Morgen fuhr sie wieder nach Wolfsburg. Meine Mutter winkte mir noch lange aus dem halb offenen Autofenster zu. Das hatte sie noch sie so intensiv getan, sie bevorzugte sonst immer die nüchternen Abschiede: »Tschüss – bis zum nächsten Mal.« Mit einem komischen Gefühl ging ich zurück in die Wohnung.

    Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnte: Am frühen Morgen hatte ihr Hausarzt bereits eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen: »Bitte rufen Sie mich sofort zurück.«

    Die zweite Blutuntersuchung ließ keinen anderen Schluss zu: Meine Mutter war an akuter myeloischer Leukämie erkrankt. Ich erfuhr den Befund erst am Abend, als ich sie anrief, um mich zu vergewissern, ob sie gut zu Hause angekommen war: »Bei mir ist übrigens nicht alles in Ordnung«, sagte sie ungeschönt wie immer. »Ich habe Leukämie.«

    Ich nahm mein Handy aus der Tasche und musste nur Leu eintippen, um mehr zu erfahren: Die Leukämie, umgangssprachlich auch als Blutkrebs bezeichnet, ist eine bösartige Erkrankung des blutbildenden Systems. Leukämien zeichnen sich durch die vermehrte Bildung von weißen Blutkörperchen und vor allem ihrer funktionsuntüchtigen Vorstufen aus. Diese Leukämiezellen breiten sich im Knochenmark aus und verdrängen dort die übliche Blutbildung. Je nach Verlauf unterscheidet man akute und chronische Leukämien. Akute Leukämien sind lebensbedrohliche Krankheiten, die unbehandelt innerhalb weniger Wochen zum Tode führen.

    Ich musste raus aus der Wohnung. Ich ging an einem Kanal in der Nähe spazieren und setzte mich auf einen Holzsteg, der direkt am Wasser liegt. Von dort hat man eine schöne Aussicht auf den Kuhmühlenteich, ein kleines Gewässer in der Nähe der Hamburger Außenalster; Naturidylle inmitten einer Großstadt.

    Immer wieder ging ich in den folgenden Wochen und Monaten diesen Weg, immer dieselbe Strecke, auch wenn sich vieles um mich veränderte. – Nicht nur die Natur, durch den Wechsel der Jahreszeiten, sondern auch meine Stimmungslage. Damals konnte ich nicht mal ansatzweise ahnen, welche großen Schwankungen ich erleben sollte. Doch diese Strecke war eine feste Konstante in meinem Alltag. Ich begegnete auf dieser Runde nur wenige Menschen, was mir sehr entgegenkam, denn so konnte ich auch mal laut nachdenken, ohne schief angeschaut zu werden.

    Dieser Spaziergang wurde zu einem festen Ritual: Ich dachte stets darüber nach, wie es mir das letzte Mal auf diesem Weg gegangen war und wie ich mich jetzt fühlte. Diese Reflexion gab mir Kraft.

    Hoffnung ist stärker als Verzweiflung

    Menschliche Beziehungen sind komplex, vor allem Beziehungen zwischen Kindern und Eltern. Mich macht es immer traurig, wenn ich höre, dass jemand in meinem Bekannten- oder Freundeskreis, aus welchem Grund auch immer, keinen Kontakt zu seinen Eltern hat. Mein Bruder und ich hatten zu unserer Mutter ein intensiveres Verhältnis als zu unserem Vater. Sie machte mit uns die Hausaufgaben, wenn wir nicht mehr weiterkamen, ging mit uns ins Schwimmbad und organisierte unsere Kindergeburtstage. All das trug ganz sicher auch zu der starken Bindung bei.

    Bereits am nächsten Morgen wurde meine Mutter im städtischen Krankenhaus aufgenommen. Die Behandlung gegen die Leukämie musste sofort beginnen. Ich schickte ihr eine WhatsApp-Nachricht: Du hast schon so viele Kämpfe gewonnen. Ich dachte an die Scheidung von meinem Vater, an Probleme mit einigen Schülerinnen und Schülern in ihrem Beruf als

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