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Im Strom des Bösen
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eBook254 Seiten3 Stunden

Im Strom des Bösen

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Über dieses E-Book

"Das Geräusch war laut, brutal, verriet die gewaltsame Zerstörung von Eigentum. Das Zersplittern von Holz rief in der Nachbarschaft jedoch keinerlei Reaktionen hervor. Die Axt donnerte ein zweites Mal in die Tür…"

Unterschiedlicher könnten die Lebensbedingungen der Menschen zu beiden Seiten des Flusses nicht sein. Parkähnlich angelegte Grundstücke, protzige oder dezent exklusive Villen säumen den nördlichen Uferrand. Eines haben alle Villen gemeinsam: Ihre Bewohner kommen nicht umhin, beim Ausblick in ihre Gärten das andere Ufer mit einzubeziehen. Graue Betonklötze, bröckelnder Putz, blinde Scheiben, Holzverschalungen, Treppenaufgänge von Unrat übersät. Machtstreben auf der einen Seite, Hoffnungslosigkeit auf der anderen. Kontakte werden vermieden. Doch der Schein trügt. Ungeahnte zwischenmenschliche Beziehungen, kriminelle Verbindungen von einem Ufer zum anderen, schlummern im Verborgenen. Ein brutaler Mord löst panische Angst auf beiden Uferseiten aus. Kommissar Borchert, dienstmüde, kann durch sein planloses Vorgehen weitere Verbrechen nicht verhindern.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum18. Jan. 2017
ISBN9783741884702
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    Buchvorschau

    Im Strom des Bösen - Mara Dissen

    Kapitel 1

    Nebelschwaden hüllen die Stadt in eine groteske Wirklichkeit, haben sich in dem südlichen Stadtrand förmlich festgefressen, bekommen Nachschub von dem in unmittelbarer Nähe verlaufenden Fluss. Schwaden, die unsichtbar machen, scheinbar Erbarmen haben mit der Trostlosigkeit, der verlorenen Hoffnung der hier lebenden Menschen, die in Verwahrlosung übergleitet, Elend, das sich zuzudecken lohnt.

    Viel zu langsam löst sich der dichte Nebel über dem Stadtteil auf. Viel zu schnell, würden wohl die meisten Menschen am anderen Ufer des Flusses sagen, die den verachteten, ihrer Meinung nach versifften südlichen Stadtteil, planiert sehen wollen, ihre Bewohner, die sie respektlos nur die SIFFS nennen, in andere, weit abgelegene Gebiete verbannen möchten.

    Graue Betonklötze offenbaren schemenhaft ihre Schäbigkeit. An den Fassaden bröckelt der Putz. Blinde Scheiben befinden sich nicht mehr in allen Fensterrahmen, sondern haben Holzverschalungen scheinbar kampflos Platz gemacht. An den Eingangstüren hat man sich nicht dieser Mühe unterzogen. Die Türen fehlen oder lassen sich nicht mehr schließen. Wie durch einen gierigen Schlund zeigen sich Treppenaufgänge, die von Unrat übersät sind. Vor den Eingangstüren stapelt sich der Müll, Müll, deren Besitzer nicht mehr in der Lage oder nicht Willens waren, ihn in die Mülltonnen zu schmeißen, Müll, von der Müllabfuhr nicht beseitigt, weil nicht sachgerecht entsorgt. Schon lange haben Ratten, nicht nur nachts, die Wohnblocks zu ihrem Reich auserkoren.

    Von den defekten Klingelanlagen an den Eingangstüren scheint niemand Notiz zu nehmen. Die Bewohner wissen, welche Wohnungstür ihnen zugewiesen wurde oder sie sich hart erkämpft haben. Auch den Freiern sind Etagen und Türen der Wohnungspuffs wohlbekannt. Eine Klingelanlage wäre für sie nur eine weitere Hürde zur Anonymität.

    Nahtlos reiht sich ein Obdachlosenheim unter die Wohnblocks. Bänke am Eingang, die zum Verweilen auffordern sollten und nur Blick auf Elend zulassen, haben ihr Ziel verfehlt, wahrscheinlich auch Aggressionen ausgelöst. Sie bestehen nur noch als Gerippe. Einige wenige Menschen auf der anderen Seite des Flusses wissen um die Bewohner dieser Unterkunft, möchten verdrängen, dass sie einst Nachbarn waren, bevor diese die Katastrophe ereilte.

    Ein langgezogener, zweistöckiger Bau fällt durch seine moderne Bauweise auf und macht deutlich, dass die Stadtplaner die Siedlung noch nicht endgültig ihrem Schicksal überlassen wollten. Die überdachte Ladenzeile entlang der Hauptstraße zeigt jedoch das städtebauliche Versagen und den verlorenen Kampf gegen die Hoffnungslosigkeit auf. Leerstehende Flächen, Graffitis an Wänden und Scheiben, erschweren den wenigen verbliebenen kleinen Geschäften den Existenzkampf. Einzig der Getränkemarkt hat guten Zulauf. Die Gerüchte um die Schließung des Kaufhauses , scheinen sich zu bewahrheiten.

    Der Kiosk am Ende der Hauptstraße hat sich zur Trinkhalle entwickelt. Längst haben die Stadtplaner die Versuche aufgegeben, das Gelände, das sich im Besitz einer zerstrittenen Erbengemeinschaft befindet, dieser abzukaufen, um wenigstens hier einen Neuanfang zu wagen.

    Mit viel Ausdauer hat das kleine Kino im Zentrum der Siedlung dem Überlebenskampf getrotzt. Allabendlich finden sich Besucher ein, um für eine Zeitlang ihr menschenunwürdiges Schicksal zu verdrängen.

    Von vielen gemieden, ragt das Parkhaus wie ein mahnender Finger aus den übrigen Bauten der Siedlung hervor. Fixerutensilien, blutige Spritzen, Dönerreste liegen auf den Treppenstufen. Treppenaufgang, Fahrstuhl und Ausgänge stinken nach Exkrementen.

    Einzig der Park, mit altem Baumbestand und üppig blühenden Ziersträuchern, lädt zu längerem Verweilen ein, wird jedoch, wie die gesamte Siedlung, nur von wenigen Menschen der anderen Seite des Flusses aufgesucht. Die meist nächtlichen Besucher würden ihren Aufenthalt im SIFF jedoch strikt leugnen und somit versuchen, sich den Nachforschungen über kriminelle Machenschaften zu entziehen.

    Vereinzelte Sonnenstrahlen haben es nicht geschafft, die Nebelschwaden endgültig aufzulösen und überlassen den Friedhof am Rande der SIFFS seiner Trostlosigkeit. Schlichte Grabsteine und Plastikblumen beherrschen das Bild. An einigen Gräbern hat man sich selbst dazu nicht mehr die Mühe gemacht, vielleicht hat aber auch die Kraft einfach nicht mehr ausgereicht.

    Die kleine Trauergemeinde in der letzten Reihe vor der Friedhofsmauer starrt schweigend auf das frisch ausgehobene Grab. Sie wird sich keine Gedanken machen, dass bald kein Platz mehr für weitere Beerdigungen in ihrer SIFF ist. Wohin dann mit all den Gescheiterten?

    Jemand hat auf ein Brett mit Holzkohle einen Namen geschrieben und es neben dem Erdhügel abgelegt. Was für Außenstehende aussieht wie ein Akt geringfügiger Achtung, ist für die Anwesenden ein Ausdruck tiefsten Mitgefühls und Trauer. Mit der Trauer schwingt jedoch auch Angst. Zu grausam wurde der Mensch zugerichtet, geradezu abgeschlachtet, was selbst bei abgestumpften SIFF-Bewohnern Entsetzen und Unruhe auslöst. Dass der Mörder oder die Mörder noch nicht gefasst wurden, machen die zwei Polizisten, die ihre Beobachtungsposten am Rande der Beerdigungszeremonie bezogen haben, nur allzu deutlich. Hass, der schnell in Gewalt sein Ventil findet, hat sich unter den Jugendlichen breitgemacht. Dem Menschen, zu Lebzeiten fest im SIFF verankert, wurde nicht hier in seinem Stadtteil das Leben auf bestialische Weise genommen, sondern im verhassten Wohngebiet am anderen Ufer des Flusses.

    Kapitel 2

    Sonnenstrahlen haben sich ihren Weg durch den Nebel gebahnt, haben es geschafft, den Stadtteil am anderen Ufer des Flusses von seinem grauen Schleier zu befreien, während der SIFF nur von wenigen Strahlen erreicht wird, von den wabernden Schwaden nahezu noch eingehüllt. Selbst das Wetter scheint Kapriolen hervorzubringen, um die Privilegien der OBEREN, wie sich die Bewohner des Stadtteils nur allzu gerne bezeichnen lassen, aufzuzeigen. Hier, auf der anderen Seite des Ufers, ballt sich die reiche Neustadt zusammen, steht als Eingangstor für die sich gleitend anschließende Altstadt, von Touristen überschwemmt, von Edelboutiquen übersättigt.

    Parkähnlich angelegte Grundstücke säumen den Fluss. Akribisch gepflegte Rasenflächen, umgeben von natursteingepflasterten Wegen, Pflanzen, die eindeutig in anderen Ländern beheimatet sind und den hiesigen Winter in Gewächshäusern verbringen, prägen die Landschaft. Nutzgärten stehen nicht hoch im Kurs, sind vergeblich zu suchen oder haben einem Pool Platz gemacht. Pavillons, ausgestattet mit schwerem Eichenmobiliar oder ausgewählten Designermöbeln, die an Originalität und Leichtigkeit nicht zu überbieten sind, finden sich in jeder Gartenlandschaft, sind Ausdruck des nachbarschaftlichen Wettstreits. Bootsanlegestege gelten als weiteres Statussymbol oder sollen die körperliche Fitness der Besitzer unterstreichen und fehlen an keinem Grundstück. So sehr die Gärten sich auch ähneln, gibt es große Unterschiede bei den Villen. Protzig und überladen, den Wohlstand seiner Bewohner herausschreiend, dominieren einige Bauten die Ansiedlung. Andere Villen fallen durch ihre schlichte, elegante Bauweise auf, die erahnen lässt, dass die Häuser mit erlesenen Einrichtungsgegenständen ausgestattet sind.

    Eines haben alle Villen gemeinsam: Ihre Gärten, Terrassen und großen Fensterflächen sind nach Süden ausgerichtet, um sie möglichst der Sonnenseite auszusetzen. Die Bewohner kommen jedoch nicht umhin, beim Ausblick in ihre Gärten, die SIFF auf der anderen Seite des Flusses, mit einbeziehen zu müssen.

    Schon zu lange warten sie auf die Umsetzung der Planung, die SIFF platt zu machen und das Gelände, ähnlich dem OBEREN, zu bebauen, wie es ihnen beim Kauf ihrer Häuser zugesagt wurde. Man hatte den ausschließlich mündlichen Versprechungen naiv vertraut. Dieses auch bedingt durch die Tatsache, dass dringend benötigtes Bauland innerhalb der Stadtgrenzen nicht mehr vorhanden ist, Bauland für Einfamilienhäuser, um solvente Bürger anzuziehen und somit das Ansehen und die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt, immer weiter voranzubringen. Im Laufe der Jahre hat sich das Bild gewandelt. Es ist nicht zu übersehen, dass Wohnungen im niedrigen Mietpreissektor dringender benötigt werden als Eigenheime für betuchte Mitbürger. Wohnungsbaugesellschaften tun sich schwer, zu investieren. Zu risikobehaftet ist ein Abriss der SIFF und Neubau bezahlbarer Wohnungen. Wohin mit all den SIFFS, die auch die geringere Miete nicht aufbringen könnten. Die Verhandlungen um Fördergelder von Stadt und Land sind in einer Endlosschleife zum Stillstand verkommen.

    Das Klima zwischen SIFFS und OBEREN ist verpestet. Ein tolerantes Miteinander, das stets auch nachbarschaftliche Hilfe mit einschließt, aber auch eigene Lebensfreiräume zulässt, ist nicht nur durch die Flussbegrenzung undenkbar, sondern auch durch die jeweiligen erfahrenen Biografien, den unterschiedlich gefärbten Machtansprüchen, die sich daraus entwickelt haben. Ein Funken reicht aus, um sich gegenseitig, auch mit körperlicher Gewalt, anzugehen. Der grausame Mord eines SIFFS in dem Gelände der OBEREN hat den Funken entfacht, lässt vergessen, wie viele ungeahnte zwischenmenschliche Beziehungen, kriminelle Verbindungen von einem Ufer zum anderen im Verborgenen schlummern.

    Kapitel 3

    Tiefschwarze Nacht, Dunkelheit, mit den Händen zu greifen, gelbgetöntes Licht der Straßenlaternen, nicht ausreichend, auch in die Gärten Sicherheit zu strahlen, Überwachungskameras, Scheinwerfer, hellerleuchtete Häuser, deren Besitzer sich der verschiedenen Techniken der „Anwesenheitsvortäuschung" bedienten.

    Die Bewohner der Villa am Ende der Sackgasse, hatten sich jedoch nicht dem Aufrüstungszwang ausgeliefert. Der gelbliche Lichtkegel der Straßenlaterne erhellte nur schemenhaft die Gargeneinfahrt, ohne das Haus zu erreichen. Zeichen der Anwesenheit konnte man seit Wochen nur sporadisch erahnen. Die Nachbarn hatten das Interesse an dem Anwesen und ihren Bewohnern verloren.

    Das Geräusch war laut, brutal, verriet die gewaltsame Zerstörung von Eigentum. Das Zersplittern von Holz rief in der Nachbarschaft jedoch keinerlei Reaktionen hervor. Die Axt donnerte ein zweites Mal in die Tür, die den Abstellraum und die angrenzende Garage von der Villa trennte, blieb in der Holzverschalung stecken. Der Fluch, einem aggressiven Aufschrei gleich, hallte durch die nächtliche Stille, ohne Resonanz zu finden. Schnell, nahezu hektisch, löste sich schemenhaft eine weitere Gestalt aus der Tiefe der Nacht, stürzte sich auf die Axt, entriss sie brachial ihrer Umklammerung, um erneut auf die Tür einzuschlagen. Die Öffnung, einer klaffenden Wunde ähnlich, reichte nun aus, den Schuppen zu erobern. Es bedurfte keines weiteren Axthiebs. Bevor das Tatwerkzeug, seiner Holzverkleidung entzogen, donnernd zu Boden fallen konnte, umklammerten die zwei Männer blitzschnell den Griff, wobei sie sich gegenseitig behinderten und somit der scharfen Klinge nicht ausweichen konnten. Der erstickte Schmerzensschrei ließ kleinere Schnittverletzungen vermuten, jedoch auch erahnen, dass die Beteiligten über ausgesprochen beachtenswerte Selbstbeherrschung verfügten, gewohnt waren, Schmerzen zu ertragen.

    Mit katzengleicher Eleganz löste sich die dritte Person aus dem schützenden Dunkel der Nacht, die Stablampe siegesbewusst auf die eingeschlagene Tür gerichtet. Es war sein Privileg, als erster den Raum zu betreten, den seine Vasallen für ihn gewaltsam geöffnet hatten. Die Rangordnung schien unausgesprochen festgelegt. Sich seiner Wichtigkeit bewusst, schob er seinen Arm lässig durch das gewaltsam herbeigeführte Loch, um die Innenverriegelung zu lösen. Die Tür ließ sich jedoch schwerer öffnen als von ihm erwartet. Holzspäne, die sich durch die Gewaltanwendung unter der Türfüllung angesammelt hatten, nötigten ihn, sich mit aller Kraft gegen die Tür zu werfen, was seinem Ego widersprach und doch gleichzeitig seine Machtansprüche unangefochten in den Mittelpunkt stellten. Krachend knallte die Tür aus ihrer Verankerung, landete in dem Abstellraum, riss den Mann mit sich. Es gelang ihm, sich mit den Händen auf dem Boden abzufangen. Er erstarrte. Waren sie am Ziel? Mühsam, langsamer als er es sich vor seinen Mittätern eingestehen wollte, kam er zum Stand. Siegesbewusst umklammerte er die Taschenlampe, ließ ihren Lichtkegel den Raum abtasten, über unzählige an den Wänden gestapelte Kartons gleiten, die Schriftzüge renommierter Elektronikfirmen freigebend. Der Erlös aus der Beute würde eindeutig höher ausfallen, als der Informant ihnen in Aussicht gestellt hatte. Anerkennend, dem richtigen Hinweis nachgegangen zu sein, schlugen sie sich auf die Schulter.

    Der markerschütternde Schrei kam für die drei Eindringlinge unerwartet, hatte nichts Menschliches an sich, wiederholte sich, erfuhr eine Steigerung ins Unerträgliche. Reflexartig wurde die Taschenlampe ausgeschaltet. Erst danach zeichnete sich der Lichtstrahl unter der Tür zur angrenzenden Garage ab. Die bestialischen Schreie erstickten, wurden durch Stimmen ersetzt, die durch ihre Intensität blankes Entsetzen in die Nacht schleuderten. Einer der drei Einbrecher stürzte sich auf die am Boden liegende Axt, näherte sich der Verbindungstür, um sich gewaltsam Zugang zu dem Nebenraum zu verschaffen. Schwungvoll holte er aus, konnte den Schlag jedoch noch rechtzeitig abbremsen, als die Tür von der anderen Seite aufgerissen wurde. Der Anblick, der sich den drei Eindringlingen bot, überstieg ihre Vorstellungskraft und ließ sie augenblicklich erstarren. Vor ihnen befand sich eine ehemalige, als Stall umgebaute Garage. Schwach erleuchtet, aber doch gut erkennbar, lag ein Tier in einer großen Blutlache und schien bereits verendet. Ein hysterisch kreischender und wild mit einem Schlachtermesser herumtobender Mann schien nicht Herr seiner Sinne zu sein und ließ sich von einem weiteren anwesenden Mann nicht einfangen. Dessen Ruf nach Hilfe prallte an dem dritten Mann ab, der lauernd und angriffsbereit in der von ihm aufgerissenen Tür zum Lagerraum stand und sein Gegenüber fixierte. Nahezu gleichzeitig bückten sich beide Männer nach der auf den Boden geworfenen Axt. Der Irre stürzte herbei, mischte sich unter die Kämpfenden. Nur einer konnte sich durchsetzen, schlug erbarmungslos zu, ohne in dem diffusen Licht sein Ziel zu erkennen. Dem Fluch folgte ein Aufschrei, der verriet, dass das Werkzeug den Menschen nicht verfehlt hatte. Eine gespenstische Stille, die nur wenige Sekunden anhielt und doch wie Minuten erschien, legte sich über beide Räume.

    In der Stimme, die den Rückzug befahl und der qualvollen Ruhe ein Ende setzte, lag nicht nur Kapitulation, sondern auch nackte Panik.

    Im Stall war der tobende Irre am Ende seiner Kräfte, stand mit hängenden Schultern gelehnt an einer der Wände, starrte auf seine blutverschmierte Kleidung, schien die Ursache nicht reflektieren zu können. Seine beiden Freunde lösten sich nur langsam aus ihrer Schockstarre. Vorsichtig richteten sie ihre Taschenlampen in den Lagerraum, bereit, einen Angriff abzuwehren, aber auch angsterfüllt, einen schwerverletzten oder gar getöteten, verstümmelten Menschen vorzufinden. Der Raum war blutverschmiert, aber zu ihrer Erleichterung menschenleer. Die Eindringlinge waren somit in der Lage gewesen, gemeinsam das Weite zu suchen.

    Mit ihren Stablampen leuchteten die Freunde die gestapelten Kartons ab, ihre Beute, die sie bis aufs Blut gegen die anderen verteidigt hatten. Es war eindeutig etwas schief gelaufen und dazu gehörte nicht nur die grausame Tierquälerei ihres Freundes.

    Flexibilität war gefragt, was sich im Zuge der unvorhergesehenen Ereignisse als schwierig erwies. Die Kartons mussten schnellstens weg. Der Lieferwagen stand nicht, wie geplant, vor der Einfahrt zur Verfügung. Sein Fahrer hatte versagt, seine Aggressionen planlos an einem Tier ausgelassen, sich nicht an seine Anweisungen gehalten.

    Kapitel 4

    Edith Wange war eine energiegeladene Frau, die ihre uneheliche Tochter Jenny alleine großgezogen hatte. Über Jennys Vater bewahrte sie stets Verschwiegenheit, wurde aber auch nie ernsthaft gefordert, ihr Schweigen verteidigen zu müssen. Ihrer Tochter war es so recht. Sie kannte es von den meisten ihrer Freundinnen nicht anders. Edith bewegte sich jahrelang am finanziellen Existenzminimum, entwickelte sich jedoch zu einem Finanzjongleur der Armen. Es gab kaum einen Monat, an dem sie nicht irgendwoher ein paar Euro hervorzauberte und somit die größte Not von sich und ihrer Tochter abwenden konnte. Das Wohlergehen ihrer Tochter und eine Erziehung, die Jenny zu einem anständigen, liebenswerten aber auch durchsetzungsfähigen Menschen formen sollte, waren der Mittelpunkt ihres Lebens. Jahrelang war sie auf sich und Jenny, das Ergebnis ihrer Erziehung, stolz. Seit Jenny vor einigen Monaten eine eigene Wohnung in einem der Blocks bezogen hatte, wusste sie jedoch nicht mehr, worauf ihr Stolz beruhte. Zu sehr hatte sich Jenny verändert, entsprach nicht mehr Ediths Vorstellung einer mit Liebe aufgezogenen Tochter.

    Die Spuren harter Arbeit, der sich Edith jeden Tag aussetzte, sah man ihr nicht auf den ersten Blick an. Klein, drahtig, jedoch mit fülliger werdender Taille, worin sie sich nicht von vielen gleichaltrigen Frauen Anfang fünfzig unterschied, konnte sie sich wieselflink von einer ihrer Arbeitsstellen zur nächsten bewegen. In ihrem Gesicht hatten sich nur wenige Falten eingenistet. Es war nur schwer zu beurteilen, ob es Sorgenfältchen, Zeichen des Alterns oder Ergebnisse häufigen Lachens waren. Wer jedoch wusste, dass Edith im SIFF beheimatet war, verwarf die Vorstellung von feinen Spuren der Lebensfreude. Die braunen, kleinen Augen waren ständig in Bewegung, um ihre Umgebung genauestens wahrzunehmen, eine jahrelang trainierte Überlebensstrategie, die sie vor unangenehmen Überraschungen oft bewahrt hatte. Sie gab sich Mühe, ihren ergrauten, kinnlangen, krausen Haaren das Braun hervorzuzaubern, das ihr in jungen Jahren so viel Bewunderung eingebracht hatte. Es ließ sich jedoch nicht verbergen, dass es sich um klägliche Eigenversuche handelte. Nicht an allen Stellen war das Grau abgedeckt, am Hinterkopf zeigten sich scheckige Flecken, aber die konnte Edith nicht sehen, folglich litt sie nicht darunter. Professionelle Arbeit konnte sie sich nicht leisten. Sie ließ es sich nicht nehmen, einmal im Monat im Kaufhaus BIKA Gesichtscreme und Lotion für wenig Geld einzukaufen. Sie befand es für gut und Warentester gaben ihr Recht. Edith Wange hatte sich nicht aufgegeben. Aufgegeben hatte sie ihre Hände. Rissig und aufgequollen widerstanden sie jeder Handcreme, warteten auf ihren nächsten Einsatz.

    Edith Wange war Putzfrau. Bei den OBEREN wurde sie als Zugehfrau tituliert, eine Ausdrucksweise, die dem Vokabular ihrer Arbeitgeber entsprach und gleichzeitig Anerkennung bei deren Freunden und Bekannten einbrachte. Edith Wange sah sich jedoch ausnahmslos als Putzfrau. Mit dem Wort Zugehfrau konnte sie nichts anfangen. Sie verstand nicht, auf wen sie denn zugehen sollte, und dass sie eine Frau war, stand für sie unwiderruflich fest. So unerklärlich für sie das Wort auch war, ließ sie es stets unkommentiert im Raum stehen, nickte verschmitzt und ordnete sich den Gegebenheiten unter. Vehement hatte sie sich jedoch bei einer Neueinstellung gegen die Bezeichnung Haushälterin gewehrt. Wie sollte sie ein Haus halten? In ihrem kleinen Kino in der SIFF hatte sie Filme gesehen, in denen Haushälterinnen eine wichtige Rolle spielten und komplexe Aufgaben zu erfüllen hatten. Betrachtete sie die angebotene Entlohnung durch die potenziellen neuen Arbeitgeber, so war sie sich sicher, doch nur die Putzfrau zu sein. Auf keinen Fall wollte sie der Familie zu noch größerem Ansehen verhelfen, indem diese kundtun konnte, eine Haushälterin eingestellt zu haben. Da Edith bei den OBEREN einen hervorragenden Ruf besaß,

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