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Im Schatten der Gitter
Im Schatten der Gitter
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eBook204 Seiten2 Stunden

Im Schatten der Gitter

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Über dieses E-Book

"Weglaufen, weit weglaufen, um somit eine Rückkehr an diesen grauenvollen Ort,
ihren Arbeitsplatz, unmöglich zu machen..."

Susanne Rüter, Ärztin im Maßregelvollzug, hasst sich und ihre Arbeit in der Anstalt.
Von der Gesellschaft weggeschlossen, nutzen psychisch kranke Straftäter die desolaten Zustände hinter den Gittern, um ihre Gewaltphantasien weiter ausleben zu können, sie Wirklichkeit werden zu lassen. Anfeindungen und brutale Ausschweifungen sind unter den Insassen an der Tagesordnung. Im Schweigen sind sie jedoch wieder vereint.
Diese Mauer des Schweigens erschwert Kommissar Bode die Aufklärung eines Mordes an dem Ort, der sich Maßregelvollzug nennt und doch nur weitere Schwerverbrechen hervorbringt. Als noch ein zweiter Mord folgt, gerät der Ermittler an seine Grenzen, denn auch Frau Rüter trägt ein Geheimnis mit sich, welches sie vor den Insassen und Mitarbeitern gehütet glaubt. Doch sie täuscht sich gewaltig..
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum4. März 2015
ISBN9783737535069
Im Schatten der Gitter

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    Buchvorschau

    Im Schatten der Gitter - Mara Dissen

    Januar 2014

    Mit raumgreifenden Schritten, die Umgebung scheinbar nicht wahrnehmend, nähert sie sich dem imposanten Anwesen. Nur noch spärlich gesetzte Rhododendronbüsche trennen sie von der herrschaftlich anmutenden Auffahrt, als sie abrupt stehen bleibt. Wie von einem Peitschenhieb getroffen, wird sie von der Vergangenheit eingeholt, lässt sie taumeln, zweifeln an ihrem Vorhaben. Sie ermahnt sich, Ruhe zu bewahren, sich an ihre Überlebensstrategien zu erinnern. Nur mühsam gelingt es ihr, einen gleichmäßigen Atem-rhythmus aufzubauen. Mit jedem Atemzug wird sie sich ihrer Umgebung bewusster, nimmt Einzelheiten wahr, die doch schon so lange verschüttet waren.

      Den Mantelkragen hochgeschlagen, die Hände zu Fäusten geballt und an die Oberschenkel gepresst, starrt sie auf das nur schwach erleuchtete Gebäude. Die hohen vergitterten Fenster waren ihr nie bedrohlich erschienen, sondern standen für Sicherheit innerhalb der massiven Wände. Heute sendet jeder Eisenstab eine Bedrohung aus, die von innen nach außen zu strahlen scheint.

      Ihr Blick schweift weiter zu der riesigen Eichentür, gesichert mit schweren Eisenbeschlägen. Vergeblich versucht sie, die Kratzspuren auszumachen, entstanden durch die vielen Befreiungsversuche der Bewohner und ihrer hilflosen Rückkehr nach gescheitertem Dasein in vermeintlicher Freiheit. Sie redet sich ein, dass die Entfernung zu groß, die Spuren zu gering seien, um sich ihr zu zeigen. Sie wehrt sich dagegen, dass die Sachbeschädigungen nur in ihrer Vorstellung existieren sollten. Zu vernichtend hatten die Qualen der Menschen, eingesperrt hinter dicken Mauern, von ihr Besitz ergriffen, sie fast selber an den Rand des Wahnsinns getrieben. Sie klammert sich an objektiv Messbarem, sucht Beweise für ihre Empfindungen, um so dem Drang, ihrem Leben ein Ende zu setzen, zu entgehen. Die Kratzspuren würde sie später, bei näherer Betrachtung als real wiedererkennen, redet sie sich ein und verspürt wohltuend die wiederkehrende Sicherheit, die ihr für ihr Vorhaben so wichtig erscheint.

      Langsam entkrampfen sich ihre Hände. Die gerade noch zu Fäusten geballten Finger fangen an, die Oberschenkel abzutasten, fahren fort an ihrem Gesäß, landen an ihrer Hüfte und ballen sich erneut zu Fäusten. Es hatte sich nichts verändert. Noch immer ist sie unförmig und fett.

      Unfähig sich zu bewegen, starrt sie auf das Gebäude, das ihr einst so vertraut gewesen war. Nur noch schemenhaft kann sie die Giebelfenster ausmachen, die auch heute noch eine trügerische Ruhe und Geborgenheit ausstrahlen. Sie verbietet es sich, an Stunden voller ekstatischer sexueller Hingabe zu denken, unter wohlbehüteten Betttüchern, mit einem Partner, der scheinbar bereit gewesen war, ihr gemeinsames Geheimnis zu bewahren und sie doch nur missbraucht hatte.

      Zusehends ruhiger betrachtet sie ihre Umgebung. Nur wenige Häuser stehen verstreut in der weitläufigen Landschaft. Ein jedes hätte ohne weiteres als herrschaftliches Anwesen bezeichnet werden können. Imposante Gartenanlagen, geprägt von Rosenstöcken, Azaleen, Akazien und kunstvoll gestutzten Lebensbäumen umrahmen Gebäude, die viel über ihre Bewohner aussagen.

      Lichtdurchflutet, nur wenige Räume der Neugier der Mitmenschen entzogen, spiegeln sich riesige Glasflächen in künstlich angelegten Teichen.

      Trutzburg ähnlich scheinen sich andere wiederum dem Interesse der Mitmenschen entziehen zu wollen. Ihre Häuser verfügen über dicke Mauern, die Fenster gleichen Schießscharten.

      Eines haben jedoch alle gemeinsam: Ihre Bewohner wollen Abstand, Abstand von der alles dominierenden Anstalt, wie das vor ihr liegende Gebäude genannt wird. Es sind nicht nur die Anstaltsbewohner, die in allen Nachbarhäusern Beklemmung hervorrufen und die Grundstückspreise in den Keller ziehen, sondern auch die Menschen, die vorgeben, den psychisch erkrankten Kreaturen im offenen Klinikbereich zu helfen, behaupten, auch die Schwerverbrecher im hinteren Bereich des Gebäudes, der Anstalt des Maßregelvollzugs, sicher weggeschlossen zu haben. Das Misstrauen macht keinen Unterschied zwischen Ärzten, Pflegern und sonstigen Mitarbeitern. Zu oft musste die Polizei die Anstalt aufsuchen, um grauenvolle Verbrechen aufzuklären.

      Die Kälte kriecht unter ihren hochgeschlagenen Mantelkragen, läuft den Rücken hinunter, erreicht ihr Gesäß. Zitternd bearbeitet sie mit den Fäusten ihre Oberschenkel, schaltet die Vorstellung aus, wie sich ihr Fett bei jedem Schlag schwabbelnd um eine Faust legt.

      Es ist ihr nicht bewusst, wie lange sie in der anbrechenden Dunkelheit verharrt hat. Wut steigt in ihr auf. Sie will sich nicht durch Erinnerungen von ihrem Plan abbringen lassen. Sein Wagen, ein auffälliges, nicht zu übersehendes Statussymbol, hätte wie immer provozierend vor dem Eingang stehen müssen. Die Auffahrt ist verlassen.

      Verunsichert und doch entschlossen nähert sie sich Schritt für Schritt der schweren Eichentür. Er soll für jede Minute Leid das er ihr zugefügt hat bezahlen, unsagbaren Schmerz verspüren, Schmerz der ihren bei weitem übersteigt. Erbarmungslos will sie sich in seiner Pein laben. Seinen Tod würde sie langsam und fachgerecht einleiten. Sie ist sich bewusst, dass sie die Mittel als seine langjährige Assistenzärztin dazu besitzt.

    15. Januar 2005      06.00 Uhr

      Die Küche am Ende des langen Ganges war zu einem Ort geworden an dem man sich traf und die letzten Neuigkeiten austauschte.

    , hatte vor nicht allzu langer Zeit der Azubi euphorisch aber naiv seinen Empfindungen freien Lauf gelassen.

      Die Arbeitsbelastungen in der Privatklinik „Mitten im Leben" waren hoch. Die Verdichtung der Arbeit war die Folge eines massiven Personalabbaus. Die Sparmaßnahmen erfassten jedoch nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität der Mitarbeiter. Die Ausbildung des Pflegepersonals entsprach in vielen Fällen nicht den Anforderungen, die die hochgradig schwierige Klientel stellte. Fortbildung und Weiterbildung galten als Fremdwörter. Therapeuten mussten Behandlungsmethoden anbieten, für die sie nicht ausgebildet waren. Ärzte mit adäquater Fachausbildung waren Mangelware. Burnout hatte um sich gegriffen. Oft wurden erforderliche Arbeiten bewusst übersehen, Vermeidungsstrategien angewandt.

      Es gelang, dem imposanten Gebäude äußerlich einen erhabenen Eindruck zu verleihen. Innerhalb der Anlage war der langsame Verfall jedoch nicht mehr zu verbergen. Immer wieder mussten von den Behörden aufgezeigte Hygiene- und Sicherheitsmängel beseitigt werden. Die angespannte Atmosphäre unter der Belegschaft nahm die Luft zum Atmen.

      Das Fehlen niedergelassener Ärzte und daraus schlussfolgernd zunehmende Zwangseinweisungen hatten bei den wenigen anderen psychiatrischen privaten Kliniken und Anstalten des Maßregelvollzugs zu Gewinn, verbunden mit langen Aufnahmezeiten geführt. Der von der Leitung ‚Mitten im Leben‘ propagierte Wettbewerb mit vergleichbaren Einrichtungen verfehlte aufgrund von Misswirtschaft seine Wirkung. So lag auch der erhoffte Erfolg gegenüber dem üblicherweise staatlichen Maßregelvollzug in weiter Ferne. Die eigenen Mitarbeiter, eine Entlassung fürchtend, sich gegenseitig belauernd, Fehler anderer aufzeigend, um somit der eigenen Arbeitslosigkeit zu entgehen, machten die wenigen innovativen Bestrebungen zunichte. Ein Kampf um Existenzsicherung war entbrannt. Die Betreuung der Patienten wurde vom reinen Zeitfaktor beherrscht und nicht mehr von deren Bedürfnissen. Der Sicherheitsaspekt im Bereich des Maßregelvollzugs wurde vernachlässigt.

      Nur wenige Mitarbeiter gestanden sich ein, dass die Küche für sie ein Zufluchtsort war, in dem sie die Schrecken und Grauen nach langen, nicht enden wollenden Dienstzeiten vermeintlich vergessen konnten. Kaum ein Angestellter verließ die Klinik nach einem anstrengenden Arbeitstag, ohne in der Küche zumindest vorbeigeschaut zu haben. Es schien, als würden hier die gegenseitigen Anfeindungen und Intrigen zum Stillstand gelangen. Erschöpft lehnte man sich an die Wand oder ließ sich auf einen der wenigen Stühle sinken. Bruchstückhaft flogen Wortfetzen wie: , , , , vom einen zum anderen Ende der Großraumküche.

      Martin Okram beherrschte sein Metier. Töpfe und Pfannen wurden rasant schnell, kaum nachvollziehbar für Außenstehende, auf den Herdplatten hin und her geschoben, ihr Inhalt mit diversen, teils exotischen Gewürzen verfeinert. Mit einer scheinbar schwebenden Leichtigkeit wechselten die Kochutensilien von einer Hand in die andere, um das jeweilige Mahl genau auf den Punkt zu bringen. Er besaß das Talent, immer wieder neue, schmackhafte, ausgefallene Gerichte zu kreieren.

      Anders als anderen Abteilungen, war Okrams Budget nicht dem Rotstift anheim gefallen, was er jedoch wohlweislich für sich behielt. Er war sich bewusst, dass ihm unausgesprochen die Aufgabe zufiel, durch seine verlockenden Köstlichkeiten, die Belegschaft zumindest einmal am Tag bei Laune zu halten.

      Niemand konnte nachvollziehen, was Okram mit seinen Fähigkeiten als Koch in einer psychiatrischen Anstalt hielt. Mitarbeiter, aber auch einige wenige Insassen, sahen seinen Arbeitsplatz in einem Nobelrestaurant, wo sein Talent wohl eher geschätzt werden würde, als in einer Anstalt, in der verirrte Seelen wie Schwerverbrecher, paranoide Persönlichkeiten, Suizidgefährdete, mehr von der Einnahme ihrer Medikamente, als von einem ausgezeichneten Mittagsmahl abhängig waren.

      Die meisten Insassen hatten zeitlebens von einfacher, billiger Kost gelebt und konnten Okrams fantasievollen Gerichten nur wenig abgewinnen. Nicht selten kam es zu lauthalsen Protesten und dem Schrei nach Fast Food. Verhaltensoriginellen Patienten fiel auch schon hin und wieder eine äußerst zweckentfremdete Verwendung des ihnen kredenzten Mahls ein.

      Viele Mitarbeiter führten die Anziehungskraft der Küche auf Okrams Kochkünste und die appetitanregenden Düfte zurück. Nur wenige gestanden sich allerdings ein, dass es Okram selbst war, der sie magisch anzog. 

      Groß, muskulös, stets braun gebrannt, stand er aufrecht vor den Arbeitsplatten oder schritt eilig von einem Bereich zum anderen. Seine Bewegungen wirkten nie überhastet, strahlten immer Zielgerichtetheit aus, übermittelten Verlässlichkeit, die außerhalb der Küche in der Anstalt so selten anzutreffen war. Seine Anweisungen an das Küchenpersonal umfassten nur wenige Worte, gerade laut genug, um die Geräusche der eilig hantierenden Mitarbeiter zu übertönen. Das Team war ohne Zweifel eingespielt, Okram das unangefochtene Leittier.

      Am Ende eines jeden Arbeitstages lehnte sich Okram an einen der breiten, hohen Schränke. Die kräftigen Arme im weißen, kurzärmligen Shirt vor der Brust verschränkt, betrachtete er voller Stolz und Genugtuung sein Reich. Er wusste um seine charismatische Ausstrahlung und verstand es hervorragend, sie nicht in Arroganz umkippen zu lassen. Geduldig wartete er auf das allabendliche Ritual. Langsam wurde von außen vorsichtig die Küchentür geöffnet.

    „Ich bin jetzt fertig", flüsterte eine Männerstimme stets nur diesen einen Satz. Gemeinsam verließen sie die Küche. 

    18. Januar 2005      06.30 Uhr

      Die frühe Morgensonne schien nur matt durch die hohen vergitterten Fenster, deren Eisenstäbe Schattenspiele auf den Boden warfen. Der lange Flur war in ein unwirkliches Licht gehüllt. Die Türen, hinter denen sich Therapie- und Behandlungszimmer befanden, waren geschlossen. In der Küche hatten Okram und sein Küchenteam die Arbeit noch nicht aufgenommen.

      Der Gang, der in der Mitte des langen Flures abzweigte, lag verlassen da. Schwere geschlossene Eichentüren, eine jede wie in einem Hotel mit einer Nummer versehen, vermittelten den Eindruck von einstigem Reichtum und Erhabenheit und ließen scheinbar vergessen, dass sich hinter jeder Tür Wohnraum für Elend und Leid verbarg. Die Patienten in diesem Bereich der Klinik waren freiwillig gekommen: Zwangserkrankte, Suizidgefährdete, Depressive, die die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatten, am Leben der Gesellschaft teilhaben zu können.

      Nur der geschulte Beobachter konnte am Ende des Ganges eine leicht geöffnete Wohnungstür mit der Nummer 7 wahrnehmen und den Spalt als einen Schrei nach Hilfe deuten, Hilfe, die für so viele Klinikinsassen in weiter Ferne lag.

      Der Speisesaal auf der gegenüber liegenden Seite sollte zum Verweilen auffordern, hatte jedoch zu so früher Morgenstunde sein Ziel noch nicht erreicht.

      Energisch wurde von innen die Tür des Personalbereichs geöffnet, und es offenbarte sich eine gähnende Leere. Die Klinikinsassen schienen sich selbst überlassen zu sein.

      Susanne Rüter blieb unschlüssig im Türrahmen stehen, entschied sich, den Tag doch nicht so schwungvoll fortzusetzen, wie sie ihn mit dem Aufreißen der Tür begonnen hatte. Es lohnte sich nicht, nicht hier. Als sie die leicht angelehnte Wohnraumtür Nummer 7 sah, stöhnte sie innerlich auf, ignorierte sie.

    , schoss es ihr durch den Kopf. Sollten sich doch die anderen darum kümmern. Die anderen, die ihre Nachtschicht unten im behaglich eingerichteten Kellerraum verbrachten, weit genug entfernt vom nächtlichen Wimmern und Phantasieren der ihnen anvertrauten Schutzbefohlenen.

      Jede Nacht losten sie eine Aufsicht aus, die im extremen Notfall, und nur dann, Alarm schlagen sollte. Diese hatte heute ihren Platz im Bereitschaftsraum schon vor einiger Zeit verlassen. Vermeidungshandeln, fälschlicherweise gedeutet als Arbeitsverweigerung, stand jedoch für Überforderung und prägte jede Nacht.

      Wie eine Marionette stakste Susanne den Gang entlang, versuchte die Geräusche, die aus den Wohnräumen drangen, auszuschalten. Sie hatte sich nichts vorzuwerfen. Ihre Schicht hatte noch nicht begonnen. Susanne war wie immer viel zu früh.

      Für ihr Pflichtbewusstsein wurde sie belächelt.

      Niemals hatte sie sich während ihrer Nachtschichten zu den Mitarbeitern in den Keller gesellt. Wie jeden Morgen warteten sie in den Tiefen des Gebäudes auf ihre in Kürze stattfindende Schichtablösung, ließen sich aber Zeit, in der Patientenetage, ihrem eigentlichen Arbeitsplatz, zu erscheinen.

      Susanne wusste, dass man davon ausging, dass sie wie immer zu früh ihren Dienst antreten und die Probleme auf der Station schon regeln würde.

      Heute täuschte man sich. Susanne hatte keine Lust. Man täuschte sich überhaupt gewaltig in Susanne, wenn man sie nur für die dicke, plumpe Person hielt, an der das Leben schändlich vorbeilief. Flachbusig mit allerdings ausladendem Hintern und enormen Oberschenkeln, unter ihrem weißen Kittel stets unvorteilhaft und bieder gekleidet, galt sie nicht nur als hässlich, sondern auch als ausgesprochen humorlos. Kollegen und Patienten begegnete sie verschlossen und unnahbar. Man hielt sich jedoch auch von ihr fern. Zu gegensätzlich waren ihr unvorteilhaftes Aussehen, gepaart mit Unnahbarkeit und rätselhafter Ausstrahlung von Begierde und dem Wunsch geliebt zu werden.

      Als sie den sonnendurchfluteten Gang erreicht hatte, blieb sie abrupt stehen, betrachtete nachdenklich die geworfenen Schatten der Fenstergitter und schaute in den hinteren Teil des Gebäudes. Martialisch anmutende Eisenstäbe, Verankerungen in Boden und Wänden zogen eine Trennlinie durch das Gebäude, könnten als Verbindung zu den so unterschiedlichen und doch oft seelenverwandten Bewohnern im hinteren Teil des Gebäudes gedacht sein, wäre an den Gitterstäben nicht die schwere Kette befestigt gewesen. Zögernd wandte sich Susanne in die entgegengesetzte Richtung und betrat ihr Behandlungszimmer.

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