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Laborratten: Die wahre Geschichte eines fiktiven Biotech-Skandals
Laborratten: Die wahre Geschichte eines fiktiven Biotech-Skandals
Laborratten: Die wahre Geschichte eines fiktiven Biotech-Skandals
eBook315 Seiten4 Stunden

Laborratten: Die wahre Geschichte eines fiktiven Biotech-Skandals

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Über dieses E-Book

Der junge Biologe Nicolas Weinert entdeckt durch Zufall die Ursache für Magersucht bei Ratten. Weinerts ehrgeiziger Chef Professor Traubl erkennt darin sofort ein universelles Schlankheitsmittel mit riesigem Marktpotential. Getrieben vom Traum von Reichtum und Ruhm gründet er kurzerhand mit Gleichgesinnten eine Biotech-Firma. Doch der kometenhafte Aufstieg der Firma gerät plötzlich in Gefahr, denn es ist erneut Weinert, der beunruhigende Eigenschaften des angeblichen Wundermittels aufdeckt. Es beginnt ein gefährliches Spiel aus Vertuschung, Betrug und Verrat.

Der zu großen Teilen autobiografische Roman nimmt den Leser mit in die Welt der Biowissenschaften zur Zeit der Jahrtausendwende. Bahnbrechende neue Erfindungen und wissenschaftliche Meilensteine lassen selbst den normalen Bürger vom großen Geld als Anleger träumen. Nie zuvor (und danach) werden so viele Patentanträge gestellt und so viele Hightech-Firmen gegründet. Auch in den bislang eher verstaubten Biowissenschaften herrscht auf einmal eine Goldrauschstimmung. Zumindest für kurze Zeit.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum29. März 2016
ISBN9783737598729
Laborratten: Die wahre Geschichte eines fiktiven Biotech-Skandals

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    Buchvorschau

    Laborratten - Niels Wedemeyer

    Laborratten – Die wahre Geschichte eines fiktiven Biotech-Skandals

    Niels Wedemeyer

    Roman

    Impressum:

    Texte: © Copyright by

    Dr. Niels Wedemeyer

    Im Winkel 49, 48624 Schöppingen

    niels.wedemeyer@web.de

    Alle Rechte vorbehalten.

    Tag der Veröffentlichung: 29.03.2016

    Grundsätzlich sollte es sich jeder Student der Natur zur Regel machen, dass, was immer seinen Verstand mit besonderer Begeisterung verzückt, als verdächtig zu betrachten ist.

    Francis Bacon, Novum Organum, 1620

    Die wichtigsten Personen in der Reihenfolge ihres Auftretens

    Dr. Nicolas Weinert - Biologe und leidenschaftlicher Modellbauer

    Lieselotte Schrepper - Technische Assistentin

    Dr. Costas Padopoulos - Kollege von Weinert

    Prof. Dr. Franz Traubl - Neuer Institutsdirektor; Mitgründer und Vorstandsvorsitzender der Procerus Biotech GmbH

    Prof. Dr. Gerhardt Lamprecht - Ehemaliger Institutsdirektor; Doktorvater von Weinert; Hobbybildhauer

    Dr. Eva Kurz - Kollegin von Weinert; bekennende Feministin

    Dr. Kurt Bergius - Akademischer Oberrat

    Dr. Annegret Schultheiß-Gottlob - Wissenschaftliche Leiterin; Mitgründerin der Procerus Biotech GmbH

    Maja Prokowski - Technische Assistentin

    Prof. Dr. Karl-Heinz Schütte - Direktor des Instituts für Neurobiologie; Chef der NeuroTec-GmbH; Mitgründer der Procerus Biotech GmbH

    Dr. Andreas Wiese - Schüttes Assistent

    Sieglinde Wünschle - Traubls Sekretärin

    Johannes Buschkötter - Mitbewohner von Nicolas Weinert; Diplomkaufmann; Vertreter von Schokoriegeln

    Dr. Sybille Knies - Traubls Doktorandin; einer der beiden „Zwillinge"

    Dr. Sibylle Neisk - Traubls Doktorandin; einer der beiden „Zwillinge"

    Dr. Gregor Winzlshammer -       Wissenschaftlicher Mitarbeiter; „das Alien" genannt

    Frederik Steppensrieder - Wissenschaftsinteressierter Philosophiestudent

    Dr. Justus Klein - Ministerialbeamter

    Prof. Dr. Peter Krimnick - Spezialist für Nanopartikel und Mitbegründer der Procerus Biotech GmbH

    Stefan Rosenschlag - Leiter der Risikokapitalabteilung

    Jörg Jörgensen - Rosenschlags Investmentmanager

    Der „Lebensmittelchemiker" - Berater der Bank

    Dr. Friedrich Ernst - Vorstandschef der Bank und Rosenschlags Vorgesetzter

    Dr. Georg Weber - Geschäftsführer der Procerus Biotech GmbH

    Dr. Andrew MacCarthy - Freund von Weber und Finanzchef der Procerus Biotech GmbH

    Anja Böcking - Traubls Doktorandin

    Joost Gerber - Geschäftsführer der Firma HandyMap AG und Jetset-Mann

    Prolog

    Sie wusste nicht, wie lange sie schon in ihrem am Straßenrand geparkten Wagen saß und durch den peitschenden Regen hinaus auf den Wendehammer am Rande des bewaldeten Abhangs starrte. An schönen Sonntagen parkten hier die zahllosen Autos der Ausflügler, die durch den weitläufigen angrenzenden Buchenwald spazieren wollten. Heute hingegen war dieser Ort trist und menschenleer. Das unablässige Trommeln der Tropfen auf dem Autodach verstärkte noch ihre Anspannung, die seit Tagen nicht weichen wollte.

    „Er wird kommen, versuchte sie sich zu beruhigen, „Sicher kommt er, denn er hat panische Angst. Das hatte sie am Telefon sofort gespürt, nachdem sie ihm heute Morgen eröffnet hatte, dass sie unumstößliche Beweise dafür in Händen hätte, das auch er frühzeitig von den katastrophalen Ergebnissen gewusst hatte und somit genauso des Betrugs schuldig war wie sie. Sie blickte auf die goldene Uhr, die er ihr in einem seltenen Anflug romantischer Gönnerhaftigkeit letztes Jahr geschenkt hatte. Er war bereits 15 Minuten zu spät.

    Sollte er ihren Bluff doch durchschaut haben und sie nun endgültig im Stich lassen? Ihre schweißnassen Hände krallten sich um das Lenkrad, während sie erfolglos versuchte, zu verhindern, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten. Nun war also auch sie in den Wissenschaften gescheitert, wie so viele Geschlechtsgenossinnen zuvor. Ihr fiel unweigerlich der Artikel in einem Nachrichtenmagazin ein, wonach die Zahl der weiblichen Führungskräfte in den Biowissenschaften trotz hoher Studentinnenzahlen nach wie vor gering ist. 10 %, 20 %?

    Und was sind das für Frauen, die sich diese Positionen im wahrsten Sinne erkämpft haben? Zumeist verhärmte Frauen wie sie, die mehr geopfert hatten, als ihnen lieb und bewusst war. Sofort kamen ihr wieder die vielen schmerzlichen Erinnerungen in den Sinn. Um sich von der größtenteils mittelmäßig begabten männlichen Konkurrenz abzusetzen, hatte sie um ein Vielfaches besser sein müssen, hatte härter und ausdauernder arbeiten müssen. Wie oft stand sie noch im Labor, während all die Kollegen ihren mannigfaltigen Freizeitbeschäftigungen nachgingen oder in ihr trautes Heim mit Frau und Kindern entschwanden. Sie hingegen hatte alle noch so hoffnungsvollen Beziehungen ausnahmslos ihrem einzigen Ziel geopfert: Sich in den Biowissenschaften durchzusetzen. Sie betrachtete sich im Rückspiegel und erkannte die tiefen Furchen um die Mundwinkel, die dieser Lebensweg ihr ins Gesicht gefressen hatte.

    Das Handy auf dem Beifahrersitz piepte aggressiv. Wie in Trance hob sie es auf und starrte auf das kleine blinkende Display. BANK, stand dort in großen Lettern. Sie spürte, wie die Angst sie erfasste und ihr Herz zu rasen begann. Jedes weitere Piepen des Handys wurde ihr zur Qual, doch sie brachte nicht die Kraft auf, den Knopf mit dem roten Hörer zu drücken. Völlig klar. Man gibt ihr die alleinige Schuld an der Katastrophe, wenn nicht noch ein Wunder geschah. Obwohl er genauso beteiligt war wie sie, hatte er im Gegensatz zu ihr perfekt vorgesorgt und vermutlich bereits alle Spuren verwischt. Sie konnte seine Beteiligung leider nicht beweisen. Was sollte sie ihm also sagen, wenn er noch käme? Ihm drohen, ihn auf Knien anflehen, auf die schöne gemeinsame Zeit verweisen?

    Ihre Gedanken wurden durch ein sich schnell näherndes Auto unterbrochen. Der große silbrige BMW fuhr bis zum Wendehammer und parkte unsanft am Seitenrand. Ihm entstieg ein kleiner dunkelhaariger Mann mit schütterem Bart, der sich den Kragen seines zu großen Trenchcoats hochklappte, während er sich nervös umblickte. Als er ihren Wagen erblickte, begann er nach anfänglichem Zögern langsam auf sie zuzugehen. Sie war nun auf unerklärliche Weise erleichtert, ihn zu sehen.

    „Es wird alles gut", versuchte sie sich einzureden, obwohl sich insgeheim Zweifel regten. Um nicht in den Regen hinaus zu müssen, startete sie den Wagen und fuhr ihm im Schritttempo entgegen. Abrupt blieb er stehen, steckte lässig die Hände in die Manteltaschen und schaute sie an. Seine Nervosität schien nun gänzlich von ihm gewichen zu sein. Sein regungsloses Gesicht verzog sich nun allmählich zu einem Lächeln. Aber es war ein Lächeln, das sie bei ihm nicht erwartet hatte. In diesem Lächeln war keinerlei Zuneigung zu sehen, noch nicht einmal Freundlichkeit. Sie meinte in diesem Lächeln vielmehr seinen Triumph über sie zu erblicken. Mehr noch war dieser Blick voll eiskalter Gehässigkeit.

    „Du Schwein", entfuhr es ihr, während sie ohne weiter zu überlegen das Gas mit aller Kraft durchdrückte. Ihr Kleinwagen nahm dennoch erst spät Fahrt auf. Vielleicht erklärte dies, warum er so spät begriff. Sie registrierte mit einiger Freude die plötzliche Furcht in seinem Gesicht und sah, wie er linkisch in Richtung seines Autos rannte. Sie folgte unerbittlich. Er entschied sich nun hastig um und lief stolpernd in Richtung Wald. Mit einiger Genugtuung hörte sie ihn schreien. Als er den hohen Bürgersteig erreicht hatte, war sie nur noch wenige Meter entfernt. Ihre Augen waren weit geöffnet, das Gesicht zu einer jubelnden Fratze verzerrt, als der Wagen mit einem gewaltigen Knall schräg gegen den Bordstein krachte. Aber anstatt ihn zu überwinden, schrammte er wie auf unsichtbaren Schienen geführt geräuschvoll an ihm entlang Richtung Abhang. Wie in Zeitlupe sah sie sein dümmlich erstauntes Gesicht, die geweiteten Augen, den offenen Mund, an sich vorbeiziehen, bevor der Wagen mit allen vier Reifen vom Boden abhob. Sie spürte den ungeheuren Druck in ihrem Magen und schaute mit grauenvollem Unverständnis den schnell näher kommenden Abhang hinunter.

    „Es ist Aus. Alles vorbei", sagte eine fremde Stimme in ihrem Kopf. Mit einer unfassbaren Wucht, die ihr gänzlich die Sinne nahm, setzte der Wagen auf dem steinigen Waldboden auf und nahm erneut Fahrt auf. Sie starrte wie paralysiert auf den mannshohen Findling am Ende des Hangs, während duzende Baumstämme an ihr vorbei zu fliegen schienen. Als der Wagen gegen einen flachen Baumstumpf auffuhr, verlor er erneut die Bodenhaftung, drehte sich zweimal in der Luft, bevor er mit einem fürchterlichen Krachen auf den Findling prallte. Obwohl noch heller Tag, wurde es augenblicklich tiefste Nacht.

    Kapitel 1 – Die Laborratten

    Auf dem Labortisch lag mit offenen Augen friedlich dösend eine ohnmächtige Ratte. Im Unterschied zu normalen Ratten war dieses Exemplar auf geradezu krankhafte Weise hager. Durch das schüttere Fell zeichneten sich deutlich die Rippen ab, die Wangen waren eingefallen und die Augen traten bizarr hervor. Kaum eine Armlänge von der ohnmächtigen Ratte entfernt stand eine Art Miniaturguilloutine, die auf ihren grausigen Einsatz wartete. In dem kleinen Raum, der vorwiegend für die Tötung von Labortieren und deren Präparation benutzt wurde, stand ein groß gewachsener blonder Mann im nicht mehr ganz so weißen Kittel, der das Fläschchen mit dem Betäubungsmittel Isofluran im Lösungsmittelschrank verstaute. Er wollte sich gerade wieder der betäubten Ratte zuwenden, als mit einem weiten Schwung die Tür geöffnet wurde. Herein kam hektischen Schrittes eine kleine ältere Dame mit einer Laborflasche, in der eine milchige Flüssigkeit schwappte.

    „Dr. Weinert, das EDTA will sich nicht lösen", sagte sie aufgebracht.

    „Das kann nicht, wenn Sie genau nach meiner Vorschrift vorgegangen sind", antwortete der Wissenschaftler ruhig, während er die Flasche, die er dicht vor seinem Gesicht hin und herschwenkte, mit leicht zugekniffenen Augen betrachtete.

    „Ich habe mich genau an ihre Vorschrift gehalten", entgegnete sie beleidigt und übergab dem Mann im weißen Kittel einen kleinen Notizblock. Er hatte so seine Zweifel, war seine Technische Assistentin Frau Schrepper doch für ihre Flüchtigkeitsfehler berüchtigt. Ihm entging bei der Durchsicht der Notizen, dass die Hinterbeine der Ratte bedrohlich zu zucken begannen.

    „Da haben wir es, sagte er mit einiger Genugtuung, „1 Molar statt 0,5 Molar. Sie haben doppelt so viel Salz eingesetzt, wie ich Ihnen gesagt habe. Die Lösung ist längst gesättigt. Diese Menge Salz löst sich nicht in hundert Jahren. Als er wegen der wiederholten Unzuverlässigkeit von Frau Schrepper demonstrativ den Kopf schüttelte, nahm er aus den Augenwinkeln war, dass die Ratte taumelnd auf die Beine kam.

    „Tür zu", schrie er. Doch es war zu spät. Die Ratte wurde vermutlich erst durch seinen Schrei in Panik versetzt und urinierte augenblicklich mit einem bemerkenswerten Strahl, der Weinert mitten auf dem Kittel traf. Noch bevor er sie wild fluchend mit den Händen greifen konnte, sprang sie vom Labortisch. Kreischend ließ Frau Schrepper die Flasche fallen, die mit einem ohrenbetäubenden Knall auf dem Boden explodierte. Die Ratte nutzte den kleinen, noch bestehenden Türspalt, um zu fliehen. Mit einem tadelnden Blick in Richtung Frau Schrepper stürzte Weinert aus dem Labor. Der lange Gang war von kleineren Schränken gesäumt, die einen idealen Unterschlupf für die flüchtige Ratte boten. Auf Knien rutschend nahm er jeden Schrank in Augenschein, während aus einem weiter entfernten Labor ein hünenhafter Mann mit schwarzem Pferdeschwanz kam und sichtlich amüsiert auf Weinert zuging.

    „Nicolas, lass mich raten: Dir ist wieder mal eines deiner `Supermodells´ davongelaufen."

    „Costas, ich bin wirklich nicht in Stimmung für Deine Scherze. Hilf lieber mit suchen."

    „Tut mir Leid, Hombre. Aber ich habe noch einiges bis zur Antrittsvorlesung unseres neuen Chefs zu erledigen." Weinert kannte den Ekel, den sein griechischer Kollege Costas Padopoulos für sein Forschungsobjekt hegte, und konnte ihm daher sein Verhalten nachsehen. Auch ihn widerten diese Ratten, die an erblich bedingter Magersucht litten, an, aber Forschung ist eben kein Wunschkonzert, wie sein jetzt emeritierter Chef Prof. Dr. Lamprecht immer zu sagen pflegte. Zumindest nicht für einfache Angestellte. Ein dürres Geschöpf huschte gerade über den Gang. Weinert stürzte ihr nach. Ein Blick unter den etwas ramponierten Aktenschrank zeigte ihm, dass sie in der Falle saß, da die Unterseite des Schranks nur nach vorne offen war.

    Und da hockte Weinert mit ausgebreiteten Armen, die sich vorsichtig der zitternden Ratte näherten. Seine größte Sorge war es nun, das zarte Geschöpf gleich beim ersten Zugriff zu zerquetschen. Noch ehe er mit beiden Händen zupacken konnte, biss die Ratte wild um sich. Mit einem markerschütternden Schmerzenschrei wich Weinert zurück und musste mit ansehen, wie die Ratte die Chance zur Flucht nutzte und unter dem Schrank hervor schoss, Richtung Eingang. Vor der Eingangstür, so seine Hoffnung, gab es keine weiteren Unterschlupfmöglichkeiten mehr. Doch es sollte anders kommen. Kaum hatte Weinert krabbelnd den Eingangsbereich erreicht, als sich die Tür öffnete und die Ratte zwischen den Beinen des Ankömmlings verschwand. Weinert, immer noch auf allen Vieren hob den Kopf und erblickte einen kleinen Mann mittleren Alters mit braunem Bart und gewaltiger Nase, der ihn irritiert anschaute.

    „Guten Tag, mein Name ist Professor Traubl, ich bin der neue Institutsdirektor."

    Warum sich Nicolas Weinert nach dem Abitur für die Biologie entschieden hatte, wusste er selbst nicht mehr so genau. Wenn in ihm überhaupt so etwas wie Leidenschaft steckte, so war es seit frühester Jugend der Modellbau gewesen. Er konnte sich nach wie vor stundenlang in seinem Bastelzimmer, einer umgebauten Abstellkammer, zurückziehen und sich mit dem Zusammenbau von Kreuzfahrtschiffen, Hubschraubern oder nostalgischen Lokomotiven in Miniaturformat beschäftigen. Beim Zusammenkleben und Bemalen seiner Objekte waren ihm alle irdischen Probleme angenehm fern. Ihm kam dabei seine große Stärke zugute, mit unendlicher Geduld sich schier unlösbaren Problemen zu stellen. Vorausgesetzt, die nötige Zeit war vorhanden. Unter Druck brachte er kaum etwas Brauchbares Zustande, was Eltern, Lehrer und Freunde des Öfteren an den Rand der Verzweiflung brachte und ihm, zu Unrecht, den Ruf eines pathologischen Lethargikers einbrachte.

    Als er nun eines Tages den Bescheid für einen Studienplatz der Biologie erhielt, fragte er sich erstaunt, wer diesen eigentlich für ihn beantragt hatte. Er selber konnte sich partout an nichts erinnern. Bis heute besteht er darauf, sich damals für Physik angemeldet zu haben. Er konnte sich zwar wie fast jeder Jugendliche für die Tiersendungen im Fernsehen begeistern, eine besondere Passion für die Erforschung der Natur hatte er aber nicht. Aber wie es nun einmal seinem Naturell entsprach, fügte er sich in sein Schicksal, ohne sich ein einziges Mal über das ihm zugetragene Studium zu beschweren. Das lag auch daran, dass er in der Biologie Tätigkeitsfelder entdeckte, die seiner Modellbau-Leidenschaft schon sehr nahe kamen. Die relativ neue Gen- und Biotechnologie erwies sich als ideale Spielwiese für Technologiebesessene, fern ab der klassischen Suche nach dem Sinn aller Dinge.

    Hier ging es mehr um handwerkliche Fähigkeiten und weniger um alltagsferne Gedankenspiele. Und das war es, was auch Weinert sofort anzog. Nicht, dass er geistig anspruchsvollen Aufgaben nicht gewachsen gewesen wäre, doch wurde seine zurückhaltende und ruhige Art vielfach als verminderte Auffassungsgabe fehl interpretiert. Die, die ihn besser kennen gelernt hatten, wussten sehr wohl um seine sehr ausgeprägten analytischen und strategischen Fähigkeiten. Nur nutzte er diese so gut wie nie zu seinem eigenen Vorteil. Wer weiß, was Nicolas Weinert hätte erreichen können, wäre ihm der Begriff des Ehrgeizes nicht dermaßen fremd gewesen.

    An dieser Stelle sollte erwähnt werden, dass Ehrgeiz allein nicht ausreicht, um in der Wissenschaft Erfolg zu haben. Man konnte zwar bis zum Umfallen arbeiten und sich beim Chef über Gebühr „Liebkind" machen, doch normalerweise war nur der experimentelle Erfolg von Wert. Das Schicksal wurde meist schon durch die Aufgabenstellung der Doktorarbeit festgelegt. Diese kam zumeist von einem bereits völlig praxisfernen Professor, der sich üblicherweise das Thema während einer langweiligen Zugfahrt zu einem noch langweiligeren Kongress erdacht hatte. Dem Kandidaten fehlte es üblicherweise an genügend Expertise, um den Sinn oder Unsinn der Aufgabe bereits zu Beginn der Doktorarbeit zu erkennen. Darum schuftete man von nun an drei bis sechs Jahre intensiv, meistens für ein halbes Gehalt, an einem bestimmten Thema, ohne Gewähr auf experimentellen Erfolg oder Titel. Nicht selten stellte sich das Thema dann als komplett realitätsfern, undurchführbar, zu komplex, zu langwierig oder, was für die Promotion noch schlimmer ist, als bereits von anderen bearbeitet heraus.

    Auch Weinert war nicht das große Losglück beschieden als er vor fünf Jahren sein Thema erhielt. Zu seinem Doktorvater, Professor Lamprecht, war er nur gekommen, weil kein anderer Professor der Fakultät ihn nach seiner missglückten externen Diplomarbeit in der Medizin in seinem Team haben wollte. Eine Note 4 für die Diplomarbeit gilt, wie im Falle von Weinert, als ein für alle sichtbares Brandmal. Man schließt daraus, dass die Person ein fauler Hund, ein Idiot oder, schlimmer noch, ein Querulant ist. Auf Weinert traf keines dieser Attribute zu.

    Der Begriff Pech traf es in seinem Fall wohl am besten. Aber wer möchte schon einen Pechvogel an seiner Laborbank stehen haben. Seine durchaus glaubhaften Beteuerungen, er sei während der Diplomarbeit entgegen aller vormals getroffenen Versprechungen der zuständigen Medizinern weder richtig betreut noch unterstützt worden, halfen da wenig. Wie groß seine Verzweiflung war, zeigte allein sein Gang zu Lamprecht. Keiner seiner Kommilitonen wäre freiwillig zu Lamprecht gegangen. Der alte Professor für Physiologie (Stoffwechselkunde) galt aufgrund seiner für Studenten des Grundstudiums viel zu komplexen Vorlesung und seiner hoffnungslos veralteten Praktika im Hauptstudium als unberechenbarer, griesgrämiger Kauz. Sein an Zynismus grenzender Humor waren ebenso berühmt wie gefürchtet. Weinert stand eines Tages mit zittrigen Knien vor Lamprechts Büro.

    Er hatte auf den Rat seiner Kommilitonen gehört, die gesagt hatten, dass Lamprecht nach dem Mittagessen in der Kantine ein wenig ruhiger und verträglicher wäre. Eine halbe Minute nach seinem zaghaften Klopfen, schallte ihm ein alles andere als ruhiges und verträgliches „Herein entgegen. Weinert hatte kaum den Kopf zur Tür herein gesteckt und ein zittriges „Ich hoffe, ich störe nicht, Herr Professor von sich gegeben, als ihm ein brummiges „Hamse aber" entgegengeschleudert wurde. Weinert betrat zum ersten Mal überhaupt Lamprechts Büro. Der Raum strahlte nicht die Spur von Wärme aus, war dunkel, da die Fensterläden trotz des herrlichen Sonnenscheins zugezogen waren und enthielt keinerlei Assessoires, die für ein wenig Gemütlichkeit hätten sorgen können.

    Kein Bild an der Wand, keine Pflanze auf der Fensterbank. Der Schreibtisch sowie einer der beiden Gästestühle, aber auch große Teile des Bodens waren übersät mit Fachbüchern und vollgekritzelten Kopien von Fachaufsätzen. Darüber hinaus stank das Büro penetrant nach kaltem Rauch. Dass Lamprecht Kettenraucher war, war allgemein bekannt. Er hatte sogar die Genehmigung der Verwaltung bekommen, während der Vorlesung zu Rauchen. Ironischerweise stand er dabei meistens unter einem großen „Rauchen verboten"-Schild an der hinteren Wand des Hörsaals. Auf Weinert wirkte Lamprechts Büro wie der Vorhof zur Hölle. All dies steigerte nicht gerade seine Hoffnung, seinen bisher recht unglücklichen beruflichen Werdegang zum Besseren zu wenden.

    „Was wollen sie? Die Anmeldungen für das Praktikum sind bereits gelaufen.", bölkte Lamprecht, ohne die Zigarette aus dem Mundwinkel zu nehmen. Weinert fasste sich und sagte:

    Ich wollte mich bei Ihnen auf eine Doktorandenstelle bewerben. Weinert versuchte, aus der Miene von Lamprecht irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Vergebens. Der alte Professor verharrte wie versteinert auf der anderen Seite des Schreibtisches, während ihm unentwegt Asche seiner Zigarette auf den Pullover fiel. Weinert hätte niemals gewagt, ihn darauf aufmerksam zu machen. Selbst, wenn Lamprecht Gefahr drohte, in Flammen aufzugehen.

    „Ich habe ihre Gesicht schon mal gesehen, kann mich aber nicht erinnern, dass sie mir in den Praktika und Seminaren positiv aufgefallen wären", brummelte Lamprecht.

    „Aber ich denke auch nicht, dass ich Ihnen negativ aufgefallen bin", erwiderte Weinert schnell und hatte ad hoc das Gefühl, einen irreversiblen Fehler begangen zu haben.

    „Nein., sagte Lamprecht jetzt deutlich aggressiver, „Sie gehören zu der Masse profilloser Studenten, die meinen, sie könnten sich durch das Studium schweigen und hätten durch ihre Belanglosigkeit die Saat für späteren Erfolg gelegt. Aus Angst, zu versagen, machen sie lieber gar nichts, reden jedem nach dem Mund und sind froh, wenn in den Experimenten der Praktika das rauskommt, was alle für das Wahrscheinlichste halten. Ich gebe ihnen kostenlos einen kleinen Rat mit auf den Weg: Entweder zeigen sie als Wissenschaftler Profil und Rückrat oder sie verschwinden mit den meisten ihrer Zunft in einem Ausbilungsseminar für Taxifahrer oder Versicherungsvertreter.

    Weinert stand wie gelähmt in dem muffigen Büro, ohne zu wagen, sich auf den noch freien Gästestuhl zu setzen, und sagte mit einer alles anderen als selbstbewusstenStimme „Ich lasse mir meinen Glauben an meinen Beruf nicht von Ihnen mies machen". Es war mehr Verzweiflung als Mut. In Erwartung eines Wutanfalls des Alten ging Weinert spontan einen Schritt zurück und spannte sämtliche Muskeln an, die er hatte (es waren übrigens nicht sonderlich viele). Aber Lamprecht lehnte sich gelassen in seinen abgewetzten Chefsessel zurück und meinte nur:

    „Welch Überraschung. Sie scheinen ja sogar etwas Saft in den Knochen zu haben. Können Sie mir noch mal sagen, warum Sie mich belästigen?"

    „Ich bin auf der Suche nach einer Promotionsstelle."

    „Ach. Und dann kommen Sie zu mir und gehen nicht zu all den Speerspitzen der Forschung in dieser Fakultät, deren Forschung und Technologie angeblich so ‚sophisticated’ ist? Lassen Sie mich raten, Sie waren schon bei allen und sind überall rausgeflogen. Haben Sie in Ihrer bisherigen Karriere zufällig schon mal Zentrifugen geklaut, sich Technischen Assistentinnen unsittlich genähert oder Forschungsgelder veruntreut?"

    Obwohl keine dieser Annahmen im Entferntesten zutraf, fühlte sich Weinert eigenartigerweise ertappt. Es gab hier nichts mehr zu verschleiern oder zu beschönigen, zumal er nun keinerlei Chance mehr sah, bei dem Alten unterzukommen.

    „Weder noch, antwortete er, „Ich habe meine Diplomarbeit in der Medizin versägt, weil ich mich naiv auf Leute verlassen habe, die mir vorgaukelten, mehr zu wissen als ich. Dem war leider nicht so. In Kurzform: Hier traf wissenschaftliches Unvermögen auf schlechte Laborbedingungen und ungeeignetes Probenmaterial. Das Problem war nur, dass ich derjenige war, der aus dem ganzen Unsinn anschließend eine Diplomarbeit stricken musste. Lamprecht sah Weinert lange eindringlich, aber ohne Spur von Häme an.

      „Was können Sie denn so?" Plötzlich fühlte sich Weinert hellwach und witterte eine wenn auch kleine Chance.

    „PCR, Klonierungen, Southern und Western Blotting, HPLC .... „Reicht!, stoppte ihn Lamprecht laut.

    „Ich meinte weniger ein Methodenspektrum, dass ich von absolut jedem Absolventen des Hauptstudiums verlange, sondern vielmehr Ihre Interessen für bestimmte Fachrichtungen und Fragestellungen, ob sie Ihre Stärken mehr im Analytischen oder im Handwerklichen sehen."

    „Eine Vorliebe habe ich ehrlich gesagt nicht. Dazu kenne ich noch zu wenig. Aber der Vorteil von uns Naiven ist, dass wir uneingeschränkt begeisterungsfähig sind." Wieder schaute Lamprecht ihm tief in die Augen. Dieses Mal bog sich die harte Linie seines Mundes allmählich zu so etwas wie einem Lächeln. Nach einer Minute sagte er endlich:

    „Ich weiß nicht, warum ich

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