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Schlimmer geht immer: Aufgeben ist keine Option
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Schlimmer geht immer: Aufgeben ist keine Option
eBook211 Seiten3 Stunden

Schlimmer geht immer: Aufgeben ist keine Option

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Über dieses E-Book

Josefine erlebt das schlimmste Jahr ihres Lebens. Alleinerziehend mit drei Kindern als Deutsche in der Schweiz durchlebt sie eine Katastrophe nach der anderen. Vor allem ihr großer Sohn ist eine Herausforderung, gerät er doch immer stärker in den Strudel von Kriminalität und Drogen.
Überzeugt davon, dass am Ende alles gut wird, kämpft sie für ihre Familie und vor allem für das Überleben ihres Sohnes. Im Lockdown während der Corona-Pandemie begreift sie endlich, dass sie sich und ihre Entscheidungen radikal ändern muss, damit sich für alle Familienmitglieder das Blatt zum Guten wendet.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum29. Mai 2020
ISBN9783752900064
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    Buchvorschau

    Schlimmer geht immer - Natalie Leyendecker

    Schlimmer geht immer - Aufgeben ist keine Option

    Schlimmer geht immer

    Aufgeben ist keine Option

    Noch eine halbe Stunde, und hier im Haus herrschte immer noch Chaos. Wie oft hatte ich heute schon das Wohnzimmer gefegt, die Kissen aufgeschlagen? Aber erneut war das Sofa Gegenstand einer Kissenschlacht geworden. Die Kuscheldecke lag achtlos auf dem Couchtisch, die Kissen bunt im Raum verteilt, und auf dem Sofa fand ich die Fernbedienung, den Controller der Playstation und zahlreiche Batterien. Offensichtlich hatte die jemand ausgetauscht und die alten an Ort und Stelle entsorgt. Und der- oder diejenige hatte auch mindestens ein Paket Chips gegessen bzw. verteilt. Jedenfalls lagen zwischen Couchtisch und Sofa unzählige Krümel und im Zeitungskorb eine leere Chipstüte.

    Also schnappte ich mir schnell Handbesen und Kehrblech, entsorgte die Chips, warf die leeren Batterien in unsere Recyclinghoftüte, faltete die Decke und platzierte die Kissen wieder mittig auf dem Sofa. Dann folgte der Check im Badezimmer. Nein! Kann hier jemand die Toilette abspülen und vielleicht sogar die Klobürste benutzen? Der Seifenspender leer, das Händehandtuch weg.

    Ich war genervt und stand unter Zeitdruck. Noch 20 Minuten. »Kinder, kommt Ihr in zehn Minuten bitte mit zum Bahnhof, die Großeltern abholen?« Keine Antwort. »Kinder!«, ich rief lauter, aber sie hatten sich verkrochen. Sie hatten mir ja auch ungefähr 100 Mal in den letzten Tagen mitgeteilt, dass sie keine Lust hatten auf Besuch, auf Verwandtschaft, auf Großeltern, auf Ausflüge. Aber selbst wenn sie alles doof fanden, konnten sie nicht wenigstens an diesem Tag, dem Ankunftstag ihrer Großeltern, die uns zweimal jährlich besuchten, nicht überall ihr Chaos verteilen?

    »Jakob!« Genervt stürmte ich ins Zimmer meines vierzehnjährigen Sohnes. Meines »Problemkindes« wie meine Freunde sagten. Problemkind? Nein, einfach nicht stromlinienförmig, außergewöhnlich – vor allem leider außergewöhnlich anstrengend, so meine Meinung, jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt. Das Zimmer leer, er war wohl mal wieder mit »Kollegen« (so sagt der Schweizer zu Schulfreunden) unterwegs.

    Der Anblick, der sich mir in seinem Zimmer bot, war ein Albtraum. Der Schreibtisch verwüstet, auf dem Bett jede Menge Klamotten, Jeans, Shirts, alles Mögliche. Ich öffnete den Kleiderschrank, und ein Geruch von modriger, schmutziger Wäsche gemischt mit Tabak strömte mir entgegen. Ich warf blitzschnell alles, was ich fand, in den Kleiderschrank. Dann versuchte ich irgendwie die Tür zu schließen. Schwierig war es bei dem bunten Durcheinander von Kisten, Schulbüchern, Zigaretten, Feuerzeugen und Kleidungsstücken – sauber wie schmutzig. Hier passte nichts mehr rein, außer vielleicht eine Ratte. Aber den Schrank würden sie hoffentlich nicht öffnen, meine Eltern. Ich schmiss mich gegen die Tür. Gott sei Dank, sie ging zu.

    Okay, Zimmer fertig! Fertig? Nein, der Sofakasten stand noch zehn Zentimeter auf, die Sitzfläche quer im Raum. Noch zwölf Minuten bis zur Ankunft meiner Eltern. Meine Hände waren schweißnass, und ich spürte, dass ich wieder diesen getriebenen Blick in den Augen hatte, den ich selbst so an mir hasste.

    Egal, was ich tat, ich könnte es meinen Eltern nicht recht machen, nicht ich mit meinem Chaoshaushalt, ich, bei der die Theken nie glänzten, die Mülleimer immer schmutzig waren, die Kleidung meist fleckig und die Kinder … ja, die Kinder auch nicht so geraten wie die Enkelkinder ihrer Freunde.

    Die Sofakiste war immer noch offen. Ich versuchte die Sitzfläche anzuheben und fand jede Menge Bettwäsche. Gehetzt riss ich sie aus dem schmalen Kasten und dann – dann sah ich es:

    Eine Tüte, transparent und in der Größe von ungefähr drei Flugzeugflüssigkeitstüten, die mit dem Zip, in der man am Flughafen vor dem Check-in seine Flüssigkeitsbehälter, Kosmetika und sonstiges bis 200 Milliliter verpacken sollte. Aber das, was ich hier vor mir hatte, war kein Beutel fürs Handgepäck, auch nicht für den Koffer, den man aufgibt.

    Ich starrte die Tüte an, nahm sie an mich und verschloss die Zimmertür von innen. Meine Hände zitterten, meine Knie waren weich. Ich hatte das hier noch nie in Realität gesehen, ich, Josefine Kardishi - das naive Blondchen, die anständige Juristin, die niemals auch nur an einer Zigarette gezogen hatte. Ich kannte es nur aus Filmen. Aber es bestand kein Zweifel. Der süßliche Geruch, den ich schon so oft in Jakobs Zimmer beim stundenlangen Wecken am Morgen gerochen hatte, an seinen Jogginghosen in der Waschküche und in seiner Bettwäsche. Es waren Mengen, Mengen an grünen Kugeln – Kugeln aus Cannabis. 100 Gramm? Mehr. 200 Gramm? Mehr.

    Der Albtraum begann.

    Kapitel 2: Hurra es brennt

    16:38 Uhr, in dieser Minute kamen meine Eltern am kleinen Bahnhof unseres 5000-Einwohner Örtchens an. Und ich? Ich saß immer noch auf dem Bett meines Teenies mit einem riesigen Drogenfund in der Hand und weinte bitterlich. Meine Beine gehorchten mir nicht, als ich aufstehen wollte. Ich zitterte am ganzen Körper – und das bei 32 Grad Außentemperatur. Wir hatten den 5. Juli 2019, ein Datum, das ich nie vergessen werde.

    Irgendwann, Minuten später, nahm ich wie traumatisiert den Beutel, ging die Treppe hoch zu meinem Schlafzimmer und schob ihn unter mein Bett. Ich musste jetzt funktionieren, meine Eltern waren am Bahnhof und ich noch nicht mal auf dem Weg. Eigentlich musste ich immer funktionieren, jeden Tag. Ich, die Mutter von drei Kindern, alleinerziehend, zwei Jobs (Juristin einer Werbefirma für Kinos in der Schweiz und Anwältin für Medienrecht in Deutschland). Immer hatte ich Stress, immer Schulden, und trotzdem war ein grundoptimistischer Mensch. Jedenfalls bis zu diesem Tag.

    Wie in Trance nahm ich meinen Autoschlüssel, ging in unserem Haus am Berg drei Stockwerke tiefer zum Ausgang, verschloss die Haustür und setze mich in den Wagen, der in der Auffahrt stand. Immer noch liefen mir die Tränen unaufhörlich die Wange runter, ich spürte das Salz auf meiner Zunge, es schmeckte nach Verzweiflung. Ich war verzweifelt, und es war erst das zweite Mal in meinem Leben. Das erste Mal war ziemlich genau vor acht Monaten gewesen. Und ich erinnerte ich mich in diesem Moment an den vergangenen Oktober, als mein Kampf als Löwenmutter begonnen hatte …

    Oktober 2018 – Rückblick

    »Mein Sohn lügt nicht! Mein Sohn verkauft keine Drogen, weder am Bahnhof und schon gar nicht an der Schule!«

    Immer wieder wiederholte ich die Worte in dem kleinen engen Raum des Sitzungszimmers des Direktors von Jakobs Schule. Erst gestern hatte mich die Sekretärin angerufen, um ein dringendes Gespräch gebeten. Ich saß da gerade im Auto, unterwegs in Österreich zu einem meiner Kunden. Den Anlass hatten sie mir nicht genannt. Aber dann am Abend mein Sohn. »Die behaupten, ich hätte Drogen gekauft. Mama, ich! Stell dir das mal vor! Da sind so zwei Streberinnen, die sind total ausgeschlossen und wollen mich einfach fertigmachen, weil ich neu in der Klasse bin und schon viel mehr Freunde habe als die.« Ich war geschockt, was gab es bloß für Kinder? Mein armer Junge, jetzt hatte er endlich eine Schule gefunden, zu der er regelmäßig ging, nun das.

    Der Termin mit dem Direktor stand vor der Tür. Ich hatte nicht viel Zeit für die Vorbereitung gehabt, nur einen Abend konnte ich recherchieren über Schweizer Schulgesetze und Verordnungen. Eine Mappe mit ein paar Ausdrucken rechtlicher Grundlagen trug ich am nächsten Tag bei mir und war im engen Kostüm mit Jakob im Schlepptau ins Büro des Direktors gestürmt. Eine Minute zu spät – wirklich unpünktlich für Schweizer Verhältnisse. Dort erwarteten uns schon ungeduldig fünf Personen: der Direktor, der Klassenlehrer, die Schulpsychologin, der Heilpädagoge und die Sozialarbeiterin. Ich stellte mich vor, Josephine Kardishi, 45 Jahre, 3 Kinder – das Wörtchen »alleinerziehend« schenkte ich mir, vermutlich wussten Sie es ohnehin.

    Die Anwesenden waren freundlich, aber distanziert und schilderten mir nach meinen paar Eingangsworten die Vorgänge, von denen Jakob mir bereits berichtet hatte, und sagten, die Beweise seien erdrückend, sie sähen sich gezwungen, den Mädchen zu glauben. Mein Sohn hätte auf dem Schulhof mit Drogen gedealt, er hätte sie verkauft und sogar damit geprahlt.

    Ich war mir sicher, es musste ein riesiges Missverständnis sein. Wie konnten sie den anderen glauben, den Streberinnen, die neidisch waren auf meinen Jungen, seine vielen Freunde und seine Leichtigkeit in allen Dingen, die Schule nicht betrafen? Er war ein Aufschneider, ein Angeber. Wahrscheinlich hatten sie ihn gefragt: »Oh, verkaufst du Drogen?«, und er hatte gesagt: »Klar doch«, und sich cool dabei gefühlt.

    Und jetzt das! Dieser Vorfall könnte ihm das Genick brechen, dachte ich bei mir. Jakob hatte es doch ohnehin so schwer. Ein Vater, der ihn immer missachtet hatte, weil es in der Schule nicht lief. In welcher? In keiner. Nicht auf dem Gymnasium in Deutschland, nicht auf der Bezirksschule in der Schweiz und jetzt? Jetzt war er seit Sommer auf der Sekundarschule, gerade von einem Segeltörn (Klassenlager, wie die Schweizer sagen) zurückgekommen, ging täglich in die Schule, hatte neue Freunde und war glücklich.

    Aber mein Bitten und Flehen in dem Gespräch half nichts. Zwei Mitschülerinnen hatten nun mal beim Klassenlehrer angegeben, sie hätten in der Pause beobachtet, Jakob habe irgendetwas in Alufolie eingewickeltes einem Klassenkameraden gegeben. Dass er tatsächlich gedealt habe, konnte ihm nicht nachgewiesen werden, sein Rucksack und seine Jacke waren untersucht worden. Dennoch wurde er »zur Sicherheit« suspendiert – und zwar für einige Wochen.

    Als er wieder in die Schule zurückdürfte, blieb das Stigma des kriminellen Drogendealers an ihm kleben. Gefahren von Cannabismissbrauch war das Thema in Bio, in der Klassenstunde das Projekt Zivilcourage – warum ich illegales Verhalten melden muss, in Deutsch Aufsätze zum Thema Missbrauch von Substanzen. Es gab kein anderes Thema mehr. Die Klasse redete nur noch über Drogen und kurze Zeit später die halbe Schule. Bella, meine Tochter, wurde irgendwann angesprochen, ob ihr Bruder der Drogendealer sei.

    Als Ende Oktober 2018 und während der Zeit, als mein Sohn noch vom Unterricht suspendiert war, beim Elternabend seiner Klasse 28 (also alle) Eltern forderten, mein Sohn müsse die Schule verlassen, er sei eine Gefahr für die Allgemeinheit, brach ich abends auf den Stufen meines Hauses zusammen. Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich wirklich verzweifelt gewesen war. Für mich war dieser Elternabend ein Albtraum gewesen, eine absolute Vorverteilung. Es wurde in meinem Beisein über mein Kind geredet, als wäre ich nicht dabei und als wäre er ein Verbrecher. Man sprach darüber, wie wichtig es sei, die Augen aufzuhalten, um kriminelles Verhalten aufzuspüren. Der Direktor wies darauf hin, dass man bei strafrechtlichem Verhalten doch bitte Strafanzeige bei der Jugendstaatsanwaltschaft einreichen soll. Den Eltern wurde versichert, mein Sohn müsse sich nach Suspension den jetzt von der Klasse in seiner Abwesenheit entwickelten neuen Klassenregeln unterwerfen und vor allen entschuldigen.

    Es war ein Albtraum, aber ich wusste von Jakob, er wollte auf keinen Fall einen erneuten Schulwechsel, nachdem er vor eineinhalb Jahren erst von Deutschland in die Schweiz gezogen war. Deshalb musste ich für ihn kämpfen, damit er noch eine Chance bekam vom Direktor, vom Lehrerkollegium, von den Kollegen – seinen Mitschülern.

    Also lud ich einen Tag nach dem Hexenprozess, wie ich den besagten Elternabend fortan nannte, alle Eltern, deren Kinder »betroffen« waren, die ihn mit vermeintlichen Drogen gesehen hatten, in die Dorfkneipe ein – gemeinsam mit ihren Kindern. Wir redeten, sprachen uns aus, ließen die Kinder zu Wort kommen. Mein Plädoyer bestand immer wieder darin zu erklären: »Das Leben ist bunt« – »Wir sind alle verschieden, und das ist doch auch gut so.« Aber das Treffen brachte nicht den gewünschten Erfolg.

    Nach der Rückkehr von der Suspension war Schule für Jakob gelaufen. Die Lehrer hatten ihn vorverurteilt, und er fühlte sich beobachtet, ausgeschlossen. Immer wieder hatte er Bauchschmerzen oder Kopfweh und fehlte im Unterricht. Ich ging mindestens zweimal wöchentlich in die Schule zu Terminen mit Heilpraktikern, Lehrern, Direktor, Schulpsychologen und Sozialpädagogen. Immer stand ich hinter meinem Sohn, ich kämpfte wie eine Löwin.

    Täglich versicherte er mir, es sei eine Kampagne gegen ihn. Es sei alles eine riesige Intrige. Er habe erst zwei Mal Cannabis ausprobiert, aber es sei nichts für ihn. »Mama, ich habe noch nie etwas besessen, geschweige denn verkauft. Ich bin doch nicht blöd. Die Kollegen haben nur Alufolie bei mir gesehen und das für ein Graspaket gehalten, wie albern.« Und das war es doch, dachte ich auch. Mein Sohn war 14 zu dem Zeitpunkt, 14 Jahre. Er schrieb mir regelmäßig WhatsApp-Nachrichten mit Herzchen und bot seine Hilfe in der Küche an. Er war faul und ein Minimalist in der Schule, aber NIEMALS ein Drogendealer.

    Als die Sozialtherapeutin mir in einer dieser unendlichen wöchentlichen Sitzungen mitteilte, mein Sohn lüge, kippte ich den Becher mit heißem Kaffee über den Tisch und ging nicht mehr zu ihr hin.

    Acht Monate lief das so weiter, mein Sohn ging kaum in die Schule und ich umso mehr. Er traf stattdessen Freunde zum Basketballspielen, Fußballspielen und Rauchen. Ich hoffte auf Tabak, aber ganz sicher war ich mir nicht, vermutlich kiffte er tatsächlich. Jedenfalls roch sein Zimmer oft ziemlich komisch, so süßlich.

    Dennoch waren die Vorwürfe der Schule für mich haltlos. Mit 14 Jahren verkaufte niemand Drogen, schon gar nicht mein Sohn, selbst wenn er ab und zu konsumierte, was schlimm genug war. Ich verteidigte ihn bis aufs Blut. Das konnte ich schon immer gut, argumentieren, überzeugen. Nicht umsonst hatte ich Jura studiert. Ich hatte kein kriminelles Kind. Mein Sohn würde niemals ein Gefängnis von innen sehen, das schwor ich mir zu der Zeit. Denn meine Promotion hatte ich über Strafvollzug geschrieben, und nachdem ich dafür in zahlreichen Gefängnissen gewesen war, war Strafvollzug für mich ein absoluter Albtraum.

    Während dieser »Rettet-Jakob-Phase« ruhte meine Arbeit faktisch, und seine Geschwister, acht und elf Jahre, mussten sich hintenanstellen. Wer war dieser 1,80 Meter große, 14 Jahre alte Mensch, den ich bei einer 30-stündigen Geburt mit 4,5 Kilo geboren hatte?, fragte ich mich immer wieder in dieser Zeit. Jakob war undurchsichtig, schon immer gewesen, und vor allem in den letzten Jahren. Viele seiner Motive für seine Handlungsweisen hatte ich nie begriffen. Eine der einschneidendsten Fragen war lange Zeit: Warum wollte er 2017 zum Islam konvertieren? Es war im Oktober 2017, als er mir eine SMS schrieb, er wolle aus der Kirche austreten und hätte seine Gründe. Später erläuterte er mir dann, dass er zum Islam wolle, ihm gefielen die Strukturen und strengen Regeln und die »Anführer«.

    Ich hatte kein Problem damit, dass er sich für andere Religionen interessierte, und ich hatte kein Problem damit, dass er sich vom Christentum abwandte. Das hing zusammen mit meiner zwar wertebezogenen, aber immer sehr freiheitlichen Erziehung. Ich wollte in meinen Kindern kein Abbild von mir selbst sehen, sondern hatte immer zum Ziel, sie zu eigenständigen Persönlichkeiten zu erziehen, die Dinge hinterfragten. Aber jetzt fürchtete ich Schlimmes. Ich hatte nach sehr radikalen Gesprächen mit ihm über die Idee des Konvertierens sein Handy konfisziert und mir seine Apps angeschaut. Dort fand ich eine Arabisch lernen, eine App namens Brüder des Islam sowie Lernen aus dem Koran und Kinder im Islam. Über letztgenannte hatte ich gerade einen Artikel der Landesmedienanstalten gelesen. Salafisten würden hierüber versuchen, Kinder für den Dschihad zu rekrutieren. Ich bekam Angst. Angst, dass Jakob vielleicht schon jetzt islamistischen Führern mit radikalen Ideen an den Lippen hing und ich ihn an den IS verlieren würde, mein Kind in den Dschihad gehen würde.

    Ich hatte ihn damals zu einem Pfarrer nach Wuppertal gebracht, der Menschen aufnahm, die aus dem Islam ausgetreten waren und dafür mit dem Tode bedroht wurden. Er hatte lange mit meinem Sohn über Hassprediger im Internet und über die Vielfalt der Religionen gesprochen. Jakob hatte damals begonnen, zumindest ein wenig kritisch über die Idee des Konvertierens nachzudenken. Gleichzeitig versuchte ich, andere Leidenschaften bei ihm wiederzuerwecken. Er hatte sich in der Vergangenheit viel mit Reptilien beschäftigt, hatte schon eine Katze und Kaninchen gehabt, da er Tiere eigentlich seit seiner Geburt über alles liebte. Für mich war Jakob ein kleiner Dr. Dolittle, der die Sprache der Tiere spricht, so gut ging er mit ihnen um. Aber ein Reptil fehlte ihm noch, dachte ich mir, und er

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