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Die letzte WG von Prenzlauer Berg
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eBook167 Seiten2 Stunden

Die letzte WG von Prenzlauer Berg

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Über dieses E-Book

Spider, der Lesebühnenautor mit der unnachahmlich-eigenwilligen Art, unsere Gesellschaft zu betrachten und zu kommentieren, ist bekannt für seine hochoriginellen Einfälle, für treffende Sozialkritik und scharfzüngige Satire.
Spider hat einen neuen Band seiner unverwechselbaren Kurzgeschichten zusammengestellt. Wer wissen möchte, was es mit der "letzten WG von Prenzlauer Berg" auf sich hat oder wie man in ebenjenem Stadtteil Kindergeburtstage feiert; wer mehr darüber erfahren will, was er bei seinem Aufenthalt unter dem Meeresspiegel erlebte oder wie das war, als er endlich Deutscher wurde, der lese sein neues Buch. Diese und viele andere seiner lakonischen, pointierten und humorvollen Geschichten sind darin zu finden. Und über Ostern mit Frau und Kindern gibt es sogar eine Schauergeschichte.
SpracheDeutsch
HerausgeberVoland & Quist
Erscheinungsdatum7. Jan. 2015
ISBN9783863911065
Die letzte WG von Prenzlauer Berg

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    Buchvorschau

    Die letzte WG von Prenzlauer Berg - Andreas Spider Krenzke

    Joghurt in der Eiszeit

    Dieser Konsum wird uns alle in den Wahnsinn treiben. Bei mir ist es schon so weit. Ich bin total mit den Nerven runter.

    »Bring doch Joghurt für die Kinder mit«, sagte sie. Und ich Narr antwortete: »Mach ich.« Ich kaufe sonst nie Joghurt, habe ich noch nie gemacht. Aber Nahrungsbeschaffung ist nun mal des Mannes Bürde. Steht so in unseren Zellkernen. Ein genetisches Erbe aus der Eiszeit. Das steht so in einem Buch, hat mir mal wer erzählt. Jetzt stehe ich da. Ich Paläo-Männchen. Vorm Kühlregal. Es gibt so viele Sorten. Die in der ersten Regalreihe, die in der zweiten Regalreihe, die in der dritten Regalreihe, die in der vierten Regalreihe, die unten in diesem breiten Fach. Ich fühle mich wie einer, der sich nicht entscheiden kann, ob er auf null reizen soll oder lieber passen und auf Ramsch hoffen. Ich würde jetzt gern ein bisschen weinen. So muss sich eine Frau im Baumarkt fühlen, wenn der Mann gesagt hat: »Bring doch ein paar Bohrer mit.« Ich bin überfordert. Das gebe ich gern zu. Meine Offenheit macht mich ja so sympathisch, alle finden das, denke ich oft. Gerade als Mann. Ich kann sowas zugeben. »Ich würde jetzt gern ein bisschen weinen«, sage ich zu dem Typen neben mir. Aber er hat Kopfhörer auf in der Größe von halbierten Honigmelonen. Das sieht ulkig aus, aber er versucht damit seiner Freundin subtil mitzuteilen, dass er meint, sie solle ihre Brüste vergrößern lassen. Er hört mich nicht.

    Wenn ich einfach beobachte, was er kauft, und dann das Gleiche nehme? Ein Freund von mir war mal in Japan und wollte dort Punk-CDs erwerben, also beobachtete er japanische Punks dabei, was die kauften, und nahm das Gleiche.

    Hoffentlich ist hier in der Kaufhalle das Gleiche dann noch da und der Typ mit den Porno-Körbchen auf den Ohren hat nicht die letzten Exemplare genommen. Sonst müsste ich ihm diese heimlich aus dem Wagen stehlen.

    Das ist mir schon einmal passiert, dass mir in der Kassenschlange auffiel, ich hatte Eier vergessen. Glücklicherweise hatte der Schwabe hinter mir eine Packung Eier in seinem Wagen. Die habe ich mir einfach genommen, als er nicht hingeguckt hat, wegen Werbung für Schnaps. Als er dann seinen Krempel auf das Kassenband legte, hörte ich ihn murmeln: »Die Eier? Hab ich die Eier vergessen?« Er rannte in die Halle zurück und ließ seinen Einkaufswagen in der Reihe stehen. »Ach, ich hab Kartoffeln vergessen«, sagte jemand, der hinter ihm stand, und nahm die Kartoffeln aus dem herrenlosen Wagen. »Huch, ich brauch ja noch Fisch«, erinnerte sich eine Oma und griff zu. Aber sie legte ihm dafür auch etwas aufs Kassenband, Katzenfutter nämlich.

    Als der Schwabe zurückkam, hatte er eine Packung Milch in der Hand. Er kratzte sich am Kopf, blickte in seinen Einkaufswagen und auf das Förderband. »Dieser Konsum wird mich noch mal in den Wahnsinn treiben, ich glaube, es ist schon so weit«, murmelte er, »ich hätte nie nach Berlin ziehen dürfen. Dieses Opfer war der Maklerjob nicht wert, trotz der Kohle. Ich hätte nie herkommen sollen«, sagte er zu sich selbst. Er ließ seinen Wagen und den Kram auf dem Band einfach stehen, ging in die Getränkeabteilung, kam mit einem Kasten Oettinger zurück und stellte sich an einer anderen Kasse an. Seitdem sitzt er jeden Tag in der kleinen Grünanlage neben der Kaufhalle. Und jetzt hat er Freunde.

    Ah, endlich greift der Typ mit den Kopfhörern zu. Er nimmt einen Würfel Hefe und geht. Das hilft mir auch nicht.

    Also weine ich ein bisschen. Aber sogleich versuche ich mich zu trösten. Die Menschen in den unterentwickelten Hungerzonen der Welt haben ganz andere Probleme als ich. Aber laut der Millenniumsstudie der Vereinten Nationen ist die Anzahl extrem armer Menschen weltweit um eine Milliarde zurückgegangen. Die müssen sich also zunehmend auch mit solchen Problemen herumschlagen wie ich. Außer es kommt eine Finanzkrise, so wie in Südeuropa, und rettet sie vor zu viel Luxus. Erste-Welt-Sorgen statt Dritte-Welt-Probleme.

    So viele Joghurts. Manche sind ganz billig. Manche sind ganz teuer. In Joghurt gibt es mehr verschiedene Obstsorten als in der Obstabteilung. Das Schlimmste aber ist, dass die kalte Luft aus dem Kühlregal nach unten auf den Boden sinkt. Ich habe nur Flipflops an den Füßen und somit schon ganz kalte Zehen. Auch so ein Problem, dass ich schon seit der Eiszeit kenne. Ich halte das nicht länger aus. Mein Leben ist die Hölle. Mir wird auf einmal klar, wie menschenverachtend und mörderisch der Kapitalismus agiert. Also trete ich einen Schritt vom Regal zurück. Jetzt bemerke ich die entsetzten Gesichter mehrerer Menschen, die links und rechts neben mir gewartet haben, um zu gucken, was ich nehmen werde. »Wasn jetzt, nimmste gar nüscht?«, fragt einer leise und weinerlich. »Ick dachte, du bist voll der Auskenner.« Aber ich kann nur mit den Schultern zucken.

    Dann habe ich doch noch eine Idee. Ich kaufe einen Kasten Bier und setze mich zu dem Schwaben in die Grünanlage. Im Laufe des Nachmittags werden wir immer mehr.

    Meine Vorfahren

    Neulich in der Kneipe beim Bier machte mich mein Kumpel darauf aufmerksam, dass das Universum erst ungefähr 13,75 Milliarden Jahre alt ist. Bekanntlich dehnt es sich aus. Das kann man im Alltag leicht nachprüfen. Zwar dehnen sich Lineale und Maßbänder mit dem Universum zusammen aus, aber man fühlt doch recht eindeutig, dass der Weg zur Arbeit einem jeden Morgen etwas weiter vorkommt und schwerer zu bewältigen. Oder jeden Abend der Heimweg von der Kneipe. Auch dass Fahrkarten, sowohl im Nah- als auch im Fernverkehr sowie Flugtickets jedes Jahr teurer werden, ist ein eindeutiges Indiz dafür. Dehnt sich das Universum mit Lichtgeschwindigkeit aus, dürfte es also höchstens einen Radius von 13,75 Milliarden Lichtjahren haben. Wenn es sich langsamer ausdehnt, dann ist es natürlich kleiner. Wie groß das Universum tatsächlich ist, weiß angeblich wieder mal keiner so genau, aber es sind mindestens 78 Milliarden Lichtjahre im Radius. Mehr als fünfmal so viel, wie eigentlich sein dürfte.

    Als ich das hörte, musste ich gehörig schlucken, denn der Kellner brachte schon wieder ein neues Bier. Entweder war das Licht früher schneller oder die Zeit lief langsamer, sodass die Welt rechtzeitig ihre heutige Größe erreichen konnte. Wahrscheinlich sind es raumzeitliche Effekte, die sich erst ab einer gewissen Größenordnung beobachten lassen. Wahrscheinlich dieselben Effekte, wegen denen jetzt der Großflughafen Berlin-Brandenburg nicht fertig wird.

    Ich habe dann am nächsten Morgen beim Frühstück versucht, den Kindern diese Problematik zu erklären, damit sie auch in den Ferien was lernen. Klar, der Große ist erst in der zweite Klasse, da muss er das Ganze eigentlich noch nicht verstehen, aber der Kleine ist Autist, von dem erwarte ich natürlich schon eine gewisse naturwissenschaftlich-mathematische Inselbegabung. Von mir aus nicht Universum und vierdimensionale Raumzeit und so, aber wenigstens die Lottozahlen sollte er irgendwann einmal voraussagen können, finde ich.

    Meine Frau wollte mir das Ganze mal wieder nicht glauben. »Du willst mir doch nicht weismachen, ihr redet in der Kneipe über das Universum!« Sie glaubt tatsächlich, wir reden über Fußball, Autos und Computer.

    Mir ist dann aufgefallen, dass wir die Eltern unserer Kinder sind. Und zwar hat jedes unserer Kinder eine Mama und einen Papa, also zwei Eltern, aber insgesamt sind es für alle Kinder zusammen auch bloß zwei. Gut, das ist trivial – aber jetzt kommt’s: Ich selber habe ja auch zwei Eltern. Eine Mama und einen Papa. Jeder Mensch hat die. Auch meine Eltern. Demzufolge habe ich vier Großeltern, zwei Opas und zwei Omas. Acht Urgroßeltern. 16 Ururgroßeltern. Mit jeder Generation verdoppelt sich die Anzahl meiner Ahnen. Ein exponentielles Wachstum meines Stammbaumes in die Vergangenheit hinein. Vor zehn Generationen hatte ich 1024 Vorfahren. Nimmt man einen Generationenabstand von 30 Jahren an, was realistisch ist, denn der Generationenabstand schwankt seit Beginn des 17. Jahrhunderts zwischen 25 und 35 Jahren, dann hatte ich diese 1024 Vorfahren vor 350 Jahren. Vor 380 Jahren waren es doppelt so viele. Vor 410 Jahren viermal. Vor 33 Generationen, also vor 990 Jahren, hatte ich über sieben Milliarden Urahnen. So viele wie die gesamte heutige Weltbevölkerung. Mehr Menschen gibt es nicht. Noch mehr Ahnen kann kein Mensch haben. Sehen wir also den Konsequenzen dieser Berechnung ins Antlitz! Die gesamte Menschheit kann unmöglich älter als 1000 Jahre sein!

    Das Christentum ist seiner Grundlage beraubt, denn vor über 2000 Jahren, als Jesus Christus geboren worden sein soll, gab es noch keine Menschheit. Die gesamte Antike ist ein ausgemachter Humbug. Die ersten Menschen lebten ungefähr ab 1023, also im frühen Hochmittelalter.

    Meine Frau war natürlich sofort wieder skeptisch. Bloß weil diese wissenschaftliche Erkenntnis von mir kommt. Genau widerlegen kann sie meine glasklare Beweisführung zwar nicht, aber sie vermutet, dass mehrere Menschen in früheren Generationen gemeinsame Vorfahren gehabt haben müssten. Dass sie also dieselben Urgroßeltern, Großeltern oder gar Eltern gehabt haben könnten. Diese Theorie ist sehr populär. Geschwisterehen werden besonders den Regionen Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt immer wieder nachgesagt. »Ich kann mir gut vorstellen«, sagte ich zu meiner Frau, »dass das bei deinen Vorfahren durchaus häufig der Fall war. Für meine eigene Ahnenreihe halte ich das allerdings für ausgeschlossen.« Eigentlich eine Frechheit, ich arbeite seriös wissenschaftlich und sie kommt mit unsachlichen Argumenten. Manchmal denke ich, das Einzige, was uns noch miteinander verbindet und unsere Beziehung zusammenhält, ist die Liebe.

    Man könnte jetzt einwenden, dass ja möglicherweise vor über 1000 Jahren die Menschheit weitaus umfangreicher war als jetzt. Viel mehr als sieben Milliarden Menschen. Das ist aber sehr unwahrscheinlich. Denn aufgrund der Expansion des Universums mit Überlichtgeschwindigkeit war damals für so viele Menschen gar nicht genug Platz.

    Im Grunde ist das alles egal. Vergangenheit ist Vergangenheit und außerdem schon lange vorbei. Aber wenn bei meinen Kindern demnächst in der Schule der Geschichtsunterricht beginnt, wenn die Lehrerinnen ihnen offensichtlich ausgedachte Fantasy-Schnurren über Urmenschen, Zweistromländer und ein angebliches Altertum erzählen werden, dann kann ich ihnen die nötigen Grundlagen zum eigenen Denken schon mal mit auf den Weg geben. Dann können sie von niemandem mehr verarscht werden. Das bin ich ihnen als Vater schließlich schuldig.

    Der Bettler

    Auf dem Bürgersteig der Schönhauser Allee spielt ein Mann auf einem in den achtziger Jahren verrückt gewordenen Akkordeon. Vor den beiden liegt eine Mütze auf dem Weg, in der ein paar Münzen schlafen.

    Menschen telefonieren mit ihren Fotoapparaten. Kaffee wird im Pappbecher spazieren geführt. Hundehalter freuen sich, denn was sie zu Hause mit ihren Hunden machen, wäre mit Kindern nicht erlaubt. Hundelose Ehepaare führen ihre Kinder unangeleint aus.

    Ein Junge mit Rastas versucht Abonnenten für eine Tageszeitung zu gewinnen. Junge Tierschützer bauen ein Hindernis auf dem Gehweg auf und essen dann Bratwurst. Frauen eilen vorbei mit Kopftuch und Männer mit Burka. Polizisten schwitzen. Teenager schwatzen. Allergiker rotzen. Touristen aus den umliegenden Herbergen flanieren zu den nahe liegenden Cafés.

    Ein Mann lehnt an einer Säule und hält einen Becher in der Hand. In den Becher soll man etwas hineintun. »Ein bisschen Kleingeld bitte«, sagt der Mann. Ich habe kein Kleingeld. Ich habe bloß große Scheine. Soll ich ihm einen Zwanziger geben?

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