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Lucus Molyos
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eBook293 Seiten3 Stunden

Lucus Molyos

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Über dieses E-Book

Die Zukunft hat begonnen. Sei mit dabei in Lucus Molyos! Nach Jahrzehnten im Koma wacht Steffen ohne sein Gedächtnis in einer Psychiatrie auf und hält sich für Gott. So trifft es sich gut, dass ein gefallener Engel und Jesus Christus dort ebenfalls als Patienten einsitzen. Gemeinsam müssen sie sich einer Bedrohung apokalyptischen Ausmaßes entgegenstellen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum4. Dez. 2020
ISBN9783752924497
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    Buchvorschau

    Lucus Molyos - Christian Kremer

    1. Tempus fugit

    Barto wachte eines Morgens auf und bemerkte, dass die Zukunft begonnen hatte. Von der Morgensonne erleuchtet versank er in dösigen Halbschlaf und träumte ein Potpourri aus den Zukunftsvisionen der vergangenen Jahrtausende. Was war schon Realität geworden? Welche Prophezeiung werde sich erfüllen? Werden gar sieben pompöse Engelsposaunen das biblische Armageddon einleiten?

    Etwas Gewaltiges stand bevor. Lange genug hatte er sich der herrschenden Umbruchstimmung schon entziehen können, doch er war zu aufrichtig, die Zeichen der Zeit zu ignorieren. Die Zukunft gehörte ihm. Er gehörte einer neuen Generation an, dem elitären Zirkel, der dem jungen Jahrtausend den frischen Atem der Jugend einhauchen durfte. Um den Planeten mitten ins neue Zeitalter zu stürzen, fehlte bloß noch, dass jemand die Lichtgeschwindigkeit überwinden und Krieg mit Außerirdischen anfangen würde.

    Seit über hundert Jahren währte bereits die Blütezeit der menschlichen Experimentierfreudigkeit, die jugendliche Rebellion im Lebenslauf der Menschheit. Sie hatte die Pubertät unseres Planeten eingeläutet. Mit Hilfe der Menschen testete die Erde ihre Grenzen aus. Durch sie genoss die Welt ihre Narrenfreiheit und entdeckte neugierig ihren Körper.

    Wo Menschen eifrig groben Unfug trieben, sprossen saftige, eitrige Pickel aus dem Gesicht des blauen Planeten. Die Menschheit drückte den aufkeimenden Zerstörungstrieb unserer verdorbenen Erde frei aus. Sie vollzog ihren Willen zur übelsten Selbstverstümmelung jenseits von peinlichen Tattoos und entzündeten Brustwarzenpiercings. Mutter Erde wütete erbarmungslos. Sie tobte sich mit Nuklearwaffen, Völkermorden, Pandemien und Umweltverschmutzung aus. Sie pubertierte und nahm sich die Zeit, mal richtig auf die Kacke zu hauen. Sie war heiß.

    Bartos halb geöffnete Augen blinzelten schlaftrunken in der Sonne. Sonne. Der Wetterbericht hatte für jenen Sommermorgen ungetrübten Sonnenschein nach einer von heftigen Regenschauern durchzogenen Nacht vorausgesagt. Sonne. Die Quelle allen Lebens. Lange hatte sie nicht mehr geschienen. Er hatte vergessen, welche Kraft sie besaß.

    Es wurde Zeit, sich den Problemen des jungen Jahrtausends zu stellen. Hungersnöte, Seuchen, Klimaerwärmung, Menschenrechtsverletzungen, Ausbeutung, Krieg, Terrorismus, Völkerwanderungen - alles nahm immer bedrohlichere Züge an. Wie sollte er zu einer lebenswerten Zukunft für die Menschheit beitragen? Stellte es sich nicht schon als schwierig genug dar, seine eigene Zukunft lebenswert zu gestalten?

    Während der Schulzeit hatte Barto in seinem Elfenbeinturm gehaust, ohne die Bürde großer Verantwortung auf seinen Schultern zu spüren. Er hatte lediglich dafür Sorge tragen müssen, dass die Noten okay blieben, um sich in der Zwischenzeit mit Sex, Drugs and Rock'n'Roll das Leben zu versüßen. Er hatte für den Moment gelebt. Für die Gegenwart. Doch jetzt hatte er eine Vergangenheit. Die Vergangenheit eines Schülers. Was hatte er gelernt? Was wusste er? Der Weg ist das Ziel. Aber welcher? Etwa der steinige?

    Gegenwart wurde zur Vergangenheit und Zukunft zur Gegenwart, während die gleißende Sonne eines mörderischen Sommers Barto endgültig aus seiner Schlaftrunkenheit riss und zu vollem Bewusstsein wachrüttelte. Mit betrunkenem Kopf hatte er in der vorigen Nacht versäumt den Rollladen herunterzulassen. Sein Fenster hatte er noch in weiser Voraussicht geschlossen. Zum einen wegen der für die Nacht prophezeiten sintflutartigen Regenfälle und zum anderen wegen des ganztäglichen Baulärms in der aufgerissenen Straße unter seinem einzigen Fenster. Eine leichte, frische Brise aus der mobilen Klimaanlage vor seinem Nachttisch hatte seinen nackten Körper schließlich sanft in den Schlaf gestreichelt.

    Jetzt, gut sechs Stunden später folterten ihn die sengende Hitze der Morgensonne sowie ein bedrohlicher Mangel an Sauerstoff und Wasser. Er schmorte als eine arme Seele in der Hölle des heißesten Tages, den dieses Land jemals zu spüren bekam. Es schien ihm, als habe die Sonne eine Hälfte des Sauerstoffs seines Zimmers in Ozon verbrannt, während sein eigener Stoffwechsel den Rest in Kohlendioxid und Kohlenmonoxid verwandelt habe. Seine verquollenen Augen leuchteten groß auf. Das erste Zeichen erfolgreicher Gehirnaktivität.

    Aus dem Schatten seines Nachttischs zog er eine versiegelte Flasche Mineralwasser, die ihm Linderung versprach. Er öffnete sie mit einem Zischen und stürzte, ohne abzusetzen, mehrere tiefe Schlücke in sich hinein. Das frische Wasser weckte wieder seine Lebensgeister, während die Kohlensäure unverzüglich seine Kehle verätzte. Doch es konnte ihm nicht stark genug sprudeln. Jedes noch so kurzlebige Gasbläschen, das in seinem Mund kribbelte, erschien ihm wie eine Perle puren, lebensspendenden Sauerstoffs.

    Barto setzte die Flasche ab und legte laut rülpsend eine Verschnaufpause in der prallen Sonne ein. Schnell stellte er fest, dass die Sonnenbestrahlung weit jenseits des Erträglichen lag. Ohne Umschweife siedelte er seinen verschwitzten Leib in die Schattenzone seines Bettes um. Mit einem rettenden Griff aus seinem Bett heraus drehte er seine mobile Klimaanlage hoch und orkanartig wurde ihm die abgestandene Luft seiner kleinen Einzimmerwohnung tiefgekühlt und frisch recycelt ins Gesicht geblasen.

    Jetzt konnte er sich wieder in die ersehnte Unbeweglichkeit zurückfallen lassen. Von Kopf bis Fuß überzog ihn ein schmieriger Schweißfilm, der sein ultramarinblaues Spannbettlaken klamm an seinem Körper kleben ließ, ihn aber nicht weiter daran hinderte, sich gemütlich in seine beiden riesigen, mokkafarbenen Schlafkissen zu lümmeln. Er genoss vielmehr die Verdunstungskälte, die ihm sein klebriger Schweiß im frostigen Blizzard der Klimaanlage bescherte. Halb sitzend, halb liegend beobachtete er den Staub, wie er im Sonnenschein durch seine neue, seine erste und, wer weiß, vielleicht auch einzige und letzte Studentenbude tanzte.

    Nach ihrem schmutzigen Tanz setzten sich viele der Staubteilchen auf Bartos verschlissener Akustikgitarre sowie einer handvoll zusammengewürfelter Umzugskartons und deren chaotisch ausgespienem Inhalt zur wohlverdienten Ruhe. Die staubige Mehrheit blieb allerdings tragischerweise im Filter der Klimaanlage hängen. Die offene Mineralwasserflasche ruhte locker in Bartos Hand und Barto zufrieden in seinen überdimensional kuscheligen Kissen, als sei Schwerkraft nichts weiter als die Erfindung eines Haufens weltfremder Physiker.

    Zum monotonen Surren der Klimaanlage gesellte sich die gedämpfte Sirene einer fernen Ambulanz, die irgendwo zwischen innerstädtischen Häuserschluchten zu einem tödlichen Verkehrsunfall junger Hobbyrennfahrer preschte. Die rivalisierenden Motorsport-Gangs ignorierten abfällig das allgemeine Fahrverbot. Seit dem Morgengrauen lieferten sie sich in protzigen, frisierten und klimatisierten Freizeitboliden spektakuläre Verfolgungsjagden durch die freien sonnigen und anfangs noch regennassen Straßen des Ruhrpotts. Nachdem die Polizei mit Geheul und Hubschrauberunterstützung schnell die Verfolgung aufgenommen hatte, klinkte sich nun als plärrendes Schlusslicht jener Krankenwagen ins Rennen ein.

    In dem Moment, als die Sirene verstummte, dachte Barto an einen beliebigen altersschwachen Greis, der vermutlich wieder irgendwo umgekippt war. Er vergaß den Gedanken. Er bemerkte, dass die Straßen- und Tiefbauarbeiter unter seinem Fenster erstaunlicherweise überhaupt keinen Krach produzierten. Mittagspause? Hitzefrei? Auch diese Gedanken verließen ihn.

    Die Wände seines Appartements lullten ihn ein in frisch getrocknetes, narkotisch leuchtendes Ligurisches Gelb und hielten ihm die Schicksale dieses brodelnden Hexenkessels noch sicher vom Leib. Einsam neben seinem Fenster hing ein großes gerahmtes Panorama-Poster, das seine kalifornische Lieblingsband bei einem Konzert unter der Sonne Rio de Janeiros zeigte. An der Wand gegenüber seinem Bett war in knapp zwei Meter Höhe ein zwei Meter langer, 15 cm schmaler, schwarzer Kasten angebracht. Auf Bartos Sprachbefehl oder per Knopfdruck wäre aus dem Kasten eine weiße Videoleinwand nach unten ausgefahren. Auf einem Meter Höhe wäre sie anschließend mit der Eisenleiste ihres unteren Endes an einer waagerechten, zwei Meter langen Elektromagnetleiste haften geblieben, um so stramm gespannt auf die Projektionen des 3-D-Beamers über Bartos Bett zu warten.

    Seine gelben Wände hinterließen einen ästhetisch so sauberen Eindruck, dass sich der chaotische Rest seiner Wohnung davon besser eine gute Scheibe hätte abschneiden sollen. Um vernünftig Ordnung zu schaffen, fehlte Barto als Erstes ein Schrank, in den er seinen ganzen Kram hätte ordentlich verstauen können. Er wusste, dass er an diesem Tag auch ohne Schrank auf Anhieb genug produktive Aufräumarbeit hätte leisten können. Allein die Planen und Zeitungen voll angetrockneter, gelber Farbe wegzuschmeißen, die zusammengeknüllt in der Ecke neben dem gelb beschmierten, größtenteils noch orangefarbenen Plastikeimer lagen, wäre ein guter Anfang gewesen. Das Einzige jedoch, was jetzt seine Zustimmung gewann, war liegen zu bleiben. Liegen bleiben und entspannen. Vielleicht nochmal einschlummern. Am liebsten ins Zauberreich der Träume entschweben, um unter Umständen als edler Krieger gegen ekelerregende Trolle zu kämpfen.

    Barto schob die Wasserflasche auf den Nachttisch und sein bescheidener Wunsch nach erholsamem Wohlbefinden schien sich für eine Weile problemlos zu erfüllen. So lange, bis er merkte, wie verdammt dringend er pissen musste. Es kam erschwerend hinzu, dass seine Morgenlatte ihn garantiert daran hindern werde, seinem Harndrang freien Lauf zu lassen. Ihm wurde bewusst, dass Aufstehen ein viel kleineres Übel bedeutete als an Urin-Nieren-Rückstau zu sterben. Mit aller Kraft stellte er sich hin und torkelte benommen an diversen Hindernissen vorbei ins Badezimmer. Ihm drohte schwarz vor Augen zu werden. Gerade rechtzeitig schaffte er noch sich am Waschbecken abzustützen.

    Als sein Blut wieder in den Kopf gepumpt wurde und er durch den Spiegel in seine schmalen Augenschlitze schaute, erschütterten zwei tiefe ohrenbetäubende Glockenschläge sein Trommelfell und verstärkten seine just eingesetzten pulsierenden Kopfschmerzen. Es folgte das lang gezogene Zusammenspiel von Schlagzeug, E-Gitarren und Bass aus den Tagen Metallicas, als Cliff Burton noch die Saiten zupfte. Barto hatte seine Hi-Fi-Anlage darauf programmiert, aus zwei bombastischen Boxen For Whom The Bell Tolls zu spielen, sobald jemand zwischen sechs Uhr morgens und zwölf Uhr mittags den Bewegungssensor im Badezimmer auslösen sollte. Nachdem er die Musik mit einer raschen Handbewegung etwas leiser gestellt hatte, richtete er sich auf und versuchte freihändig auf zwei Beinen zu stehen. Schnell bekam er weiche Knie und musste neuen Halt suchen. Mit ausgestreckten Armen fing er sich an den Wandfliesen rechts und links seines Spiegels ab. Während sich sein Kreislauf stabilisierte, hob er sein Haupt und schaute zwischen seiner zerwuschelten, dunkelblonden Mähne heraus in den Spiegel.

    „Die Zukunft hat begonnen", schoss ihm wieder durch den Kopf. Der Blick in den Spiegel glich eher dem Blick in die Kristallkugel einer Wahrsagerin. Er sah sich als alten müden Mann, dem allein der Tod etwas Neues bringen konnte. Dabei durchlebte er gerade erst sein 20. Lebensjahr. Nein, so kannte er sich nicht. In ihm steckte Drive. Er versprühte Esprit. Sie nannten ihn El Barto. Ein Anarcho nach bestem Gewissen. Ein Kleinstadtrebell mit Cojones und Idealen. Und doch nur ein weiterer Fremder in der großen Stadt.

    „Durchs Gesicht waschen, Duschen, 'ne gute Portion Cornflakes mit Milch, ein Energydrink und du bist der Prototyp des Teenstars, versuchte er sich einzureden, während martialischer Gesang aus den Lautsprechern tönte. „So what?, murmelte Barto und fragte sich, warum er das so lange nicht mehr gehört hatte. Er erinnerte sich, dass er selten vor zwölf Uhr seinen Arsch aus dem Bett bewegte.

    Ihm wurde bewusst, dass zu langes Schlafen und launische Unentschlossenheit die beiden einzigen Gründe gegen eine frühzeitige Einschreibung blieben. Die Uhr zeigte 10:28 Uhr und er stand mehr oder weniger aufrecht und aufgeweckt auf seinen Füßen, was er als notwendige und hinreichende Bedingung ansah, sich genau an diesem Tag zu immatrikulieren. Für Geschichte. Oder Biologie. Oder beides auf Lehramt. Oder Musik kombiniert mit Sport - auf Lehramt?! Hatte er die Schule wirklich nur verlassen, um wieder zu ihr zurückzukehren? Er fühlte sich massiv unter Druck gesetzt, eine sehr wohl überlegte und endgültige Entscheidung zu treffen.

    Vor zwei Wochen hatte sich die Welt noch in bester Ordnung befunden. Anfang August war er von Flensburg nach Dortmund gezogen und mit Schmetterlingen im Bauch hatte er sich auf Anjas Ankunft im September gefreut. Sein künftiger Studiengang hatte bei der Wahl seines Studienortes eine untergeordnete Rolle gespielt. In Anjas Nähe zu bleiben hatte er oberste Priorität eingeräumt. Sowohl die Technische Universität als auch die Dortmunder Fachhochschule sowie die Ruhr-Uni in Bochum unterbreiteten ihm ein stolzes, breit gefächertes Angebot, aus dem er frei wählen konnte, ohne sich vorher für irgendetwas bewerben zu müssen. Ein Leben in einer anderen Stadt als Dortmund hatte er gar nicht erst erwogen. Anja zog es nach Dortmund, also folgte er. Sie war seine große Liebe.

    Doch seit Barto in Dortmund wohnte, flatterten die Schmetterlinge in seinem Bauch immer zaghafter. Die ersten zwei Wochen in der fremden Stadt hatte er viel mit Nachdenken verbracht. Es ging um seine Zukunft, um einen Beruf, den er tagein, tagaus fast 50 Jahre lang bereit sein sollte zu ertragen. Er liebte Anja. Er liebte sie in einer schnelllebigen Zeit, an einem Wendepunkt in ihrem und in seinem Leben. Alle Möglichkeiten standen offen. Anja könnte zu einer süßen Jugenderinnerung verblassen oder gar zu einer unausstehlichen Zicke mutieren. Sein Studium und sein Beruf würden auf alle Fälle bleiben. Hatte sie ihm letztlich nicht nur die rosarote Brille, sondern dazu noch ein rosarotes Paar Scheuklappen aufgesetzt? Die Zweifel regten sich nun zu spät, weil er sich bereits vor Monaten entschieden hatte, für Anja und für Dortmund.

    Die nächste Entscheidung drängte ihn und er fällte sie. So entschloss er sich, aus dem Stegreif heraus der TU Dortmund eine Chance zu geben. Eine letzte weise Entscheidung über die endgültige Wahl seines Studiengangs stand noch aus. Vor allen Dingen wollte er zügig und ohne Umwege studieren, um seine Verschuldung möglichst gering zu halten. Barto verschob seine Überlegungen kurzerhand auf später, wandte sich mit seinem erschlafften Penis zwischen den Fingern dem Klo zu und begann erleichtert zu pinkeln, während gewaltige Glockenschläge ihre Akzente in der Metal-Hymne setzten.

    2. Tremonia

    Die kantigen schwarzen Buchstaben des Schriftzugs Dull In The Skull in dem blauen Oval auf der Brust seines karminroten T-Shirts gingen Barto stolz voran auf seinem Spaziergang durch die brütende Hitze der Dortmunder Innenstadt. Wie angekündigt hatten nächtliche Regenfälle die Stadt sauber gespült und die erdrückende Schwüle fortgetrieben. Der frische Atem der Pflanzen und die überquellende Emscher bezeugten als Einzige diesen Wolkenbruch, der in den letzten drei Stunden Dunkelheit, in denen Barto tief und fest geschlummert hatte, die sieben Weltmeere hatte niederprasseln lassen. Ausufernde Pfützen, spontane Seen und unbeirrbare Sturzbäche und Rinnsale hatte es dabei reichlich gegeben. Doch kaum hatte sich die Sonne aus dem roten Bereich gehievt, waren sie schon bald rückstandslos versickert und verdampft.

    Barto trug das erwähnte karminrote T-Shirt, eine beigefarbige kurze Hose, lederne Sandalen und schwarze Kopfhörer, die ihn mit der Bob-Marley-Datei aus seiner Hosentasche berieselten und ihm halfen seine schulterlangen Haare aus dem Gesicht zu halten. Auf seinem Rücken beherbergte er in einem kleinen schwarzen Rucksack sein Abiturzeugnis und eine Flasche Sonnenspray. Beim triumphierenden Blick zum wolkenlosen Himmel schützte ihn vor der UV-Strahlung noch eine dezente Sonnenbrille, die fest auf seiner breiten, schmierig glänzenden Nase saß. Lediglich das lose, grobmaschige Geflecht weißer Kondensstreifen weit entfernter Flugzeuge legte sich an jenem Sommertag über den klaren, blauen Himmel. Mit Lichtschutzfaktor 50 auf seiner Seite hatte Barto im Kampf gegen den Hautkrebs erneut einen Tag für sich gewonnen. Sein eiserner Schwur, sich unter keinen Umständen jemals wieder einen Sonnenbrand einzuhandeln, hatte sich die Jahre über unauslöschlich in sein Bewusstsein gebrannt.

    So erfreute ihn dieser Sommer mit einer Sonne, die ausschließlich Gutes vollbringen konnte. Dazu ein Soundtrack, der den akustischen Dreck dieser Welt einfach ausblendete und durch süßen, harmonischen Wohlklang ersetzte. So entging ihm aber auch das vergnügte Zwitschern der städtischen Singvögel, die zu neuem Leben erweckt von den Dächern und Baumwipfeln herab ihre Begeisterung über das ungetrübte Wetter in die Welt hinausträllerten. Barto freute sich auf diesen Tag. Er freute sich darauf, in die Emscher zu springen, um sich im Schatten des Westfalenstadions durch die Bolmke treiben zu lassen.

    Abgesehen von der alarmierenden Luftverschmutzung durch Stickoxide ächzte das Revier seit Monaten unter extremer Hitze, dem beißenden Rauch regionaler und überregionaler Brände sowie den beiden Sommerklassikern UV-Strahlung und Ozon. Zuletzt hatten dichter Nebel, Smog und eine unerträgliche Schwüle unter einer geschlossenen Wolkenglocke die Großstadtbewohner bis aufs Blut geplagt. Derart ungemütliche Bedingungen für einen Aufenthalt im Freien hatten im gesamten Ruhrgebiet die Bürgersteige und Fußgängerzonen leer gefegt. Seit Wochen durften wegen des verhängten Fahrverbots höchstens Sondereinsatzwagen sowie Elektro- und Wasserstoffautos ihre einsamen Runden durch die lebensfeindlichen Straßen ziehen. Der kochende Pott hatte wie eine gespenstische Ansammlung im Dunst versinkender Geisterstädte gewirkt.

    Heute dagegen wimmelte es auf allen freien Flächen. Ob in den Straßen, Parks, Wiesen, Freibädern, an den Flüssen und Seen oder in der aufblühenden Außengastronomie, überall tummelten sich Sonnenanbeter, um ihre Sucht nach natürlichem Licht zu stillen. Als er am hohen Metallgitterzaun eines Basketballplatzes vorbeitrottete, amüsierte ihn die Naivität einer Gruppe unerschütterlicher Teenager. Schwitzend und schnaufend pausierten sie im Schatten, um ihre Getränkereserven zu plündern und dem drohenden Kreislaufkollaps zu entgehen. Nach etwas Passspiel und zwei unspektakulären Rebounds am Anfang des Spiels war der überschwängliche Spieltrieb, der ihnen zu Hause noch in den Gliedern gesteckt hatte, in der Hitze restlos verpufft. Heute erlebte Barto nicht nur den heißesten, sondern auch einen der seltenen Tage dieses Spätsommers, an denen Wolken und Smog dem Sonnenschein ungehindert Durchlass gewährten.

    Als er auf dem Ostenhellweg die belebte Dortmunder Konsummeile betrat, erblickte er, wohin er nur schaute, knackig zarte weibliche Körper, die mit sowohl kurzen engen als auch luftig weiten Textilien spärlich bedeckt in der Sonne glitzerten und vor seinen Augen verführerisch ihre Körper bewegten. Barto badete in einem Lavastrom sexueller Reize. Die makellos gebauten Ladies und Señoritas, die ihn wie heiße, feuchte Wellen umspülten, reduzierten ihn sofort auf den Urinstinkt der Fortpflanzung. Der Moment, in dem Bartos Durst seinen Sexualtrieb vom Thron schubste, ließ nicht lange auf sich warten. Als Barto seine Aufmerksamkeit auf das Getränkeangebot der Fußgängerzone lenken musste, wurde er sich der Uhrzeit, des S-Bahn-Fahrplans und der Tatsache bewusst, dass ihm die geringste Ahnung fehlte, wie viel Zeit er noch für den weiteren Fußweg einplanen musste. Eile packte ihn und er lief gehetzten Schrittes weiter, in der Hoffnung, spätestens am Bahnhof seinen Durst stillen zu können.

    Am Ende der Katharinenstraße erreichte Barto mit einem bequemen Zeitpolster im Nacken, aber erschöpft und triefend vor Schweiß, die lange breite Treppe, die zum Hauptbahnhof hinunterführte. Er verlangsamte zum Stillstand, beendete den Redemption Song und verstaute seine Kopfhörer im Rucksack. Während sein Blick am Deutschen Fußballmuseum vorbei über den Vorplatz und den Haupteingang des Bahnhofs schweifte, hielt er geplagt Ausschau nach der erstbesten Möglichkeit, irgendetwas zu trinken. Die Fast-Food-Ketten konnte er allesamt nicht leiden und die Warteschlange beim Dönermann erschien ihm viel zu lang.

    Seine Augen suchten weiter und fokussierten das „Hot Pot", einen kleinen unscheinbaren Coffee-Shop, der direkt neben der Wache der Bundespolizei lag und als einziger Coffee-Shop in der Gegend seine Räumlichkeiten von der Deutschen Bahn mietete. So genoss der Laden seine profitable Monopolstellung im Hauptbahnhof und den seriösten Ruf nördlich der Innenstadt. Auf seinem Weg die Treppe hinab begann Barto zunehmend Gefallen an der Idee zu finden, sich von ein wenig gutem THC kurz vor der Einschreibung geistesblitzartig bei der Wahl seines Studiums inspirieren zu lassen. Der Ärger über seine Dummheit, nichts zu trinken eingepackt zu haben, versank gleichzeitig in den Schoß der Vergessenheit.

    Mit seinem Handy bestätigte Barto die Rechnung von 29,96 € und wartete darauf, dass auf dem Display der Kasse „Zahlung erfolgt" erscheine.

    „Dein Konto ist nicht gedeckt", teilte ihm der langhaarige, fettbäuchige Dealer mit, während er sich zu voller gebieterischer Größe aufrichtete.

    Beim Versuch, 3 g Gras, eine vorgedrehte Tüte und zwei gierig ausgetrunkene Gläser Apfelschorle zu bezahlen, bereute Barto bitter, dass er seine Finanzplanung bisher so sträflich vernachlässigt hatte. Zwischen den beiden Männern herrschte einen Moment lang versteinertes Schweigen. Lediglich das Stimmengewirr der wenigen Gäste, das Surren der Deckenventilatoren und hypnotischer Trip-Hop drangen an ihr Ohr. Eine Rauchwolke zog hinter Bartos Rücken vorbei auf dem Weg zum Ladenschaufenster, um noch etwas vom Sonnenschein zu erhaschen. Das lichtdurchflutete Schaufenster bildete die einzige Lichtquelle, die den Verkaufsraum erhellte, so dass der hintere Bereich eher schummrig ausfiel. Als der Dealer mit einer flüchtigen Handbewegung die lästige Fliege von den Schweißperlen auf seiner hohen Stirn verscheuchte, hatte Barto sich wieder gesammelt. „Ich bitte meine Mutter um Geld. Die schickt mir auf jeden Fall was!", schlug er vor und wählte mit seinem Handy die Nummer seiner Mutter.

    Den dicken Hünen hinter der Kasse, der mit langem schwarzen Haar und vollem Rauschebart versuchte seine Geheimratsecken mehr als wett zu machen, schien das bisher nicht sonderlich zu beeindrucken. Er überwachte seinen Kunden nach außen hin geduldig, ohne sein Pokerface zu verziehen. Innerlich jedoch begann ihn dieser Motherfucker, diese Zecke, dieser Ostfriese, dem alles in den Arsch geschoben wurde, wahnsinnig zu nerven.

    „Leider die Mailbox, entschuldigte sich Barto, aber Plan B ließ nicht lange auf sich warten: „Ich ruf meinen Vater an.

    Der Dealer lehnte sich auf seine Stehhilfe zurück, um seine Haare erneut zum festen Zopf zu binden. Er hatte inzwischen eingesehen, dass die Arbeit für ihn heute Morgen wirklich keinen Stress bedeuten musste und er mit solchen Stonern schließlich seine Brötchen verdiente. Sein Tagesgeschäft lief ziemlich schleppend an. Bloß zwei Sitzgruppen waren besetzt. An einem Tisch lachten sich vier Oberstufenschüler zwischen ihren Fressattacken über

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