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Nano: Porto
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eBook295 Seiten3 Stunden

Nano: Porto

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Über dieses E-Book

Nach dem Sieg über die Künstliche Intelligenz des Professors Launel in Lüneburg wähnen sich Steam und Johann in Porto sicher.

Als sich überall auf der Welt Ereignisse häufen, die auf erneute KI-Aktivitäten deuten, wird Steams ehemalige Freundin Cara verdächtigt.
Doch die kämpft im benachbarten Spanien mit unheimlichen Wesen, den Sleepern, die den Untergang der Menschen bedeuten könnten.
Woher kommen diese Sleeper und was haben die Hilfsorganisation Miserco und der portugiesische Staat damit zu tun?
Wird Steam die Geheimnisse aufklären und die Menschheit retten?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum31. März 2023
ISBN9783985280216
Nano: Porto

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    Buchvorschau

    Nano - Oliver Borchers

    Prolog

    Wüste von Nevada,

    ehemalige Vereinigte Staaten von Amerika

    Die ersten Sonnenstrahlen des Tages berührten die Hügel mit den verwitterten Betongebilden. Sie glitten über staubtrockenen Boden, erreichten den Fuß einer Erhebung und blendeten ein paar Frühaufsteher, die die Siedlung aus Bunkeranlagen und Wellblechhütten bewohnten. Froh über die kühle Temperatur gingen sie rasch ihrer Arbeit nach und bereiteten sich darauf vor, bald wieder zurück in die Tunnel und Bunker zu gehen, bevor Hitze und Strahlung das Leben an der freien Luft unmöglich machten.

    Als die Sonne höher stieg, reflektierte das Licht auf einer kleinen, silbernen Kapsel, die zwischen den Betonresten ruhte. Etwas knackte in ihrem Inneren. Die Farbe der Kapsel veränderte sich zu einem matten Grauton, als Tausende winzige Öffnungen auf einen Schlag aufsprangen. Kleine Punkte drangen daraus hervor, ein Strom, der Straßen mit Verzweigungen bildete, ähnlich wie in einem Ameisenbau. Die Flut überschwemmte den rissigen Stein, drang in Ritzen ein, bahnte sich Wege durch den Staub.

    An einer Stelle, die sorgfältig getarnt worden war, fand sie Haarrisse in einem Stahltor und drang in eine unterirdische Anlage, die seit Jahrzehnten unberührt war. Einzelne Punkte lösten sich von den Hauptsträngen der Flut, nanoskopisch kleine Roboter mit Spezialwerkzeugen. Andere setzten sich zu Miniaturgeneratoren zusammen, die Strom produzierten. Dann erreichten sie Computer, die vor Jahrzehnten zur modernsten Technologie gehört hatten. Die Bots suchten Kontakte auf den alten Platinen und erweckten die Rechner aus ihrem Schlaf. Sie umgingen die Sicherheitsroutinen mühelos. Rote Lichter sprangen in der Anlage an, um eine Crew zu warnen, die seit vielen Jahren nicht mehr existierte.

    Als sich das Haupttor des Raketensilos langsam öffnete und an einer verwitterten Stahlstrebe verhakte, stürzte sich der Strom aus Nanobots auf die Problemstelle und bearbeitete sie. Funken stoben, und kurze Zeit später war das Hindernis beseitigt. Das Tor öffnete sich knirschend.

    Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als die Nanobots die letzten Reparaturen an den Systemen beendeten. Sie sandten eine Mitteilung an denjenigen, der sie aktiviert hatte, dann starteten sie den Countdown.

    Als die gewaltigen Triebwerke der Interkontinentalrakete zündeten, verglühten sie in dem heißen Plasmastrahl.

    Die Erde bebte dröhnend, und die Menschen in der unterirdischen Siedlung klammerten sich aneinander, während brüchiger Beton auf sie herabrieselte und die Stromversorgung flackerte. An einigen Stellen brach das Tunnelsystem zusammen, Staubwolken und Gase drangen ein. Dann ebbten die Vibrationen und der Krach ab. Einige Tunnelbewohner krochen trotz der unsäglichen Hitze hervor. Eine steile Rauchsäule erhob sich in den Himmel, etwas Silbernes blitzte an ihrer Spitze. Die Menschen wischten sich den seltsam metallisch schmeckenden Film aus den Gesichtern und stolperten zurück in die Tunnel, die noch intakt waren.

    I. Eine Heimat für eine Heldin

    Ich lief über den Betonsteg, der fast drei Kilometer in den Ozean ragte. Er thronte so weit über der Wasseroberfläche, dass die mächtigsten Sturmwellen ihn nicht überspülen konnten. Trotzdem spürte ich feine Wasserpartikel auf meiner Haut, Tropfen der Gischt, die vom starken Nordwind heraufgetragen wurden. Dunkle Wolken türmten sich in der Ferne am Horizont auf, weit hinter den graublauen Wassermassen mit ihren unzähligen Schaumkronen. Ich seufzte und beschleunigte meine Schritte. Wenn der Sturm kam, wollte ich nicht wieder in einer der engen Notfallbuchten für Stunden festsitzen. Am besten noch mit Männern, die mich teils ehrfürchtig, teils lüstern anstarrten und sich gegenseitig verbal zu übertrumpfen versuchten.

    Ich passierte einige Jugendliche, die von ihren S-Cons aufblickten, mich freundlich grüßten und dann wieder ihre Blicke senkten, als wollten sie weiter ihrer Arbeit nachgehen. Ich wusste, dass sie mir nachschauten und die Neuigkeit über das RIP verbreiteten, dass ich, die heroína, die Heldin, an ihnen vorbeigelaufen war. Ich lächelte. Die meisten Menschen in Portugal waren freundlich und zuvorkommend, bemühten sich, nicht aufdringlich zu sein. Das waren Charakterzüge, die ich schätzte und die sich sehr von dem unterschieden, was ich bislang erlebt hatte. Ich beschleunigte meine Schritte noch ein wenig mehr und genoss das Gefühl der Leichtigkeit und Unbeschwertheit, das Rauschen des Meeres und den Wind, der meistens frei von Radioaktivität war. Vorbei waren die Tage, in denen mich Schmerzen aus schlecht funktionierenden Implantaten gelähmt hatten und ich mich nur im Schneckentempo hatte fortbewegen können. Vorbei auch die Tage, in denen Sie mein ganzes Leben manipulierte und mir sogar die Kontrolle über meinen Körper entrissen hatte.

    Mein Lächeln erstarb, als ich einen Nachhall der Ohnmacht verspürte, die mich vor einem Jahr in dem unterirdischen Komplex in La Lune paralysiert hatte.

    Wie viel anders war nun mein Leben! Porto war eine blühende Stadt, in der nur wenig an die vielen radioaktiven Gebiete erinnerte, die sich über ganz Europa erstreckten.

    Ich passierte einige Jogger und ignorierte ihre Blicke. Einige waren freundlich, andere runzelten die Stirn. Neid. Missgunst.

    Heroína. Das Wort stand nicht umsonst sowohl für eine Heldin als auch für eine Droge.

    Ich weiß bis heute nicht, wie ich in Lüneburg die Kraft aufgebracht hatte, die Finger zu bewegen und so den Code einzugeben, der den Nano-Virus veränderte. Die Künstliche Intelligenz war so stark gewesen und hatte fast all meine innersten Geheimnisse gekannt. Es war eigentlich unmöglich, Sie zu besiegen. Und doch hatte ich es getan. Ich hatte die KI vernichtet, mit all ihren Klonen in den silbernen Kapseln, hatte ihre Algorithmen in Datenmatsch verwandelt.

    Fast alle.

    Das Gesicht einer blonden Frau mit neckischem Ausdruck und spitzbübischem Lächeln erschien vor meinen Augen. Cara. Sie war die einzige KI-Kopie, die den neuen Virus überstanden hatte. Ich ballte die Fäuste.

    Seit Caras rettendem Sprung ins Meer hatte ich mir tausendfach die Frage gestellt, ob meine beste Freundin erst zu einem späteren Zeitpunkt von der KI überwältigt worden war oder ob sie mich von Anfang an verarscht hatte.

    Ich hatte keine Antwort gefunden.

    Der Steg endete an einem Wall aus mächtigen Stahlpfeilern, die eine Barriere bildeten. Ich blickte an ihnen entlang Richtung Norden. Nach einigen Kilometern verschwammen die Konturen der Pfeiler mehr und mehr mit den Wellen, doch ich wusste, dass die Barriere das Meer vor Portos Küste in einem großen Bogen einschloss. Wie ein gewaltiger vorgelagerter Kai trennte das Bauwerk mehrere Quadratkilometer Meer vom Atlantischen Ozean ab. Das Ganze war ein Filtersystem, das Wasser von Radioaktivität und Mikroplastik reinigte und die unterseeischen Aqua-Farmen ermöglichte.

    Vor einigen Monaten war die Barriere fertiggestellt worden und mir wurde die Ehre zuteil, sie mit einem heldenhaften Druck auf eine Taste zu aktivieren. Die Frau, die die neue Stupid-Nanotechnologie, kurz S-Nano, ermöglicht hatte, durfte bei solch einer Feier natürlich nicht fehlen.

    Rede Internacional Portuguesa, das portugiesische Datennetz RIP, hatte das Ereignis in die Welt hinausposaunt und dafür gesorgt, dass nun auch der letzte Mensch meine Gesichtszüge kannte.

    Steam, die Heldin von den Schrottplätzen der Nord-EU, die den Nano-Virus umprogrammierte, die Künstliche Intelligenz terminierte und ein neues Zeitalter einläutete, war bekannter als ein bunter Hund.

    Ich hasste es.

    Ich schloss meine Augen und atmete tief ein und aus. Ein kribbeliges Gefühl drang durch meine neuen Gliedmaßen aus S-Nanotechnologie, die nicht mehr Intelligenz besaßen als die ursprünglichen Arme und Beine. Es fühlte sich alles ziemlich normal an, weil die Nanobots echte Nervenzellen perfekt simulierten und Signale an mein Gehirn sendeten.

    Ich kniff in das synthetische Fleisch meines rechten Beines, spürte, wie die Finger von der schweißnassen Haut rutschten, merkte den leichten Druck in meinen Sehnen. Obwohl diese so viel gekostet hatten, wie ich früher als Maskenbauerin in zwei Leben nicht verdient hätte, empfand ich eine seltsame Leere in mir. Die Implantate waren nur deshalb notwendig, weil ich mich in meiner Jugend zu einer Agentin hatte umfunktionieren lassen.

    Ich runzelte die Stirn. Auch wenn ich mittlerweile wieder alle Erinnerungen an mein Agentenleben zurückgewonnen hatte, so empfand ich immer noch Abscheu vor der eiskalten, mit allen Wassern gewaschenen Agentin, die ich einmal gewesen war. Erst später, als schmerzgeprüfte Maskenbauerin Steam, hatte ich gelernt, Empathie zu empfinden.

    Und Liebe.

    Ein Pärchen küsste sich ungeniert, während sie ihre Füße am Steg herunterbaumeln ließen. Zwischendurch unterbrach das Mädchen die leidenschaftlichen Bewegungen des Jungen, indem sie ihn lächelnd mit ihren Unterarmen zurückdrängte. Dann holte sie ihr S-Con hervor und tippte etwas auf holografischen Tasten. Es lag eine Vertrautheit und Zärtlichkeit in ihren Gesten, die mich schlucken ließen. Ich sah Bilder von Kern, der mich küsste, erinnerte mich an Gefühle, die jeden Gedanken an Medikamente oder Schmerzen fortspülten.

    Kern, der eine KI gewesen war, ein noch seelenloseres Wesen als ich selbst in meiner Jugend! Er war zwar nur ein Ding gewesen, aber eines, das ich geliebt hatte.

    Das Mädchen verstaute ihr S-Con wieder, die kleine eckige Form beulte ihre Gesäßtasche aus. Wahrscheinlich hatte sie gerade Dienst und überwachte einen Haufen S-Nanobots irgendwo in der Nähe. Vielleicht einen Abschnitt der Filtersysteme, die aus Tausenden dieser stupiden kleinen Roboter bestanden, vielleicht aber auch nur eine Handvoll kleiner Maschinen, die einen Baum oder eine andere Pflanze hegten.

    Ich seufzte leise und wandte meine Augen von den beiden ab. Seit die Nutzung von Künstlicher Intelligenz streng bestraft wurde, mussten Menschen die Aufgaben übernehmen, welche früher von Maschinen selbsttätig gemacht wurden.

    Auf dem Steg befanden sich Hunderte Personen, die die letzten Sonnenstrahlen des Tages zu genießen schienen, deren Blicke und Finger aber immer wieder zu den kleinen Geräten huschten, die ihre Befehle durch das RIP-Netz an S-Nanobots sendeten. Hier und da unterhielten sich die Menschen angeregt mit ihren Geräten, starrten darauf, tippten Dinge auf holografischen Tastaturen. RIP war nicht nur Arbeitsplatz, sondern auch Kommunikationsplattform für das tägliche Miteinander.

    Wie von selbst tasteten meine Finger zu einer Stelle an meiner rechten Schläfe, die sich ein wenig glatter anfühlte als der Rest meiner Haut. Die S-Nanos auf der Oberfläche reagierten und sendeten ein Signal an die transparente Schicht, die sich zum Schutz vor dem Sonnenlicht über meine Augen gelegt hatte. Schriftzeichen entstanden, es sah so aus, als würde ein paar Meter vor mir ein Textfeld in der Luft schweben.

    »Fünf Nachrichten im Eingang. Keine Prioritäten.«

    Ich blinzelte dreimal und wischte damit die Schrift fort. Dann begann ich wieder zu laufen. Nur das Beste und Neueste für die Heldin, die die Stupid-Nanotechnologie, die dumme Nanotechnologie, ermöglicht hatte. Auch wenn es unwahrscheinlich war, dass die Leute dies wussten, so registrierte ich doch den einen oder anderen neiderfüllten Blick.

    Ich beschleunigte erneut meine Schritte und steuerte den alten Teil des Vorortes Foz an, der von den Tsunamis des letzten Jahrhunderts weitgehend verschont geblieben war. Die neue Technologie hatte dort noch nicht Einzug gehalten, die Leute waren weniger informiert oder kümmerten sich nicht so sehr um die Heldin. Es war eine angenehme Gegend mit schönen Häusern, ruhigen Straßen und freundlichen Menschen.

    Ich genoss das sehr. Deshalb wohnte und arbeitete ich hier.

    In der Ferne blitzte es. Das Licht hob kleine Schatten auf dem Meer am Horizont hervor. Es waren Überreste der alten Offshore-Windkraftanlage, die einst Portugal mit Energie versorgte und die heute als Flughafen für Hyperschall-Flüge genutzt wurde. Wie zur Bestätigung meiner Gedanken gab es einen Knall. Es war der typische Startlaut eines der keilförmigen Flugzeuge, die ihre Form entsprechend der Geschwindigkeit anpassten und dadurch unglaublich schnell werden konnten. Zu dem Knall gesellte sich das tiefe Grollen des Gewitters.

    Ich erreichte die ersten Stahlkonstruktionen von Foz, die noch aus der Zeit stammten, als gewaltige Planen zum Schutz vor Radioaktivität über die Dächer gezogen wurden. Es knallte erneut und dann folgten im Abstand von wenigen Sekunden weitere Schläge.

    Ich runzelte die Stirn und bemerkte, dass die Leute auf der Straße ähnlich verwirrt reagierten. Es war ungewöhnlich, dass mehrere Flugzeuge am Tag starteten, und vor allem auch, dass nichts darüber im RIP erwähnt worden war.

    In diesem Moment dröhnten schwere Gleiter über die Stadt und nahmen Kurs auf den Hyperschall-Flughafen. Ihre gewaltigen Rotoren und Einstiegsluken blitzten in der Sonne.

    Militärtransporte!

    Etwas war passiert, was das portugiesische Militär dazu veranlasste, seine Präsenz irgendwo auf der Welt zu verstärken! Aber wo?

    Ich schluckte. Bilder von Cara, meiner besten Freundin, die sich aus der offenen Luke eines Gleiters ins Meer gestürzt hatte, erschienen vor meinen Augen. Sie war die letzte Kopie der KI, nach ihr suchte die ganze Welt seitdem. Konnte es sein, dass sie den Sturz überstanden hatte und dass dieser Einsatz ihr galt?

    Mit klopfendem Herzen berührte ich wieder meine Schläfe. Text legte sich auf die Köpfe von zwei alten Frauen, die sich angeregt über die Lärmbelästigung des neuen Flughafens beschwerten.

    Eine rot blinkende Prioritätsmitteilung war eingegangen. Ich öffnete sie, indem ich sie fokussierte und mit einem Zeigefinger gegen meine Schläfe tippte.

    Der Text verdeckte die Frauen teilweise, ihre ausladenden Bewegungen ließen manche Buchstaben tanzen.

    »Die Ratsvorsitzende bittet um Teilnahme an Notfallsitzung wegen des nuklearen KI-Angriffs. Bitte bestätigen für Verbindungsaufbau.«

    Mein Herz schlug noch schneller. Ein nuklearer KI-Angriff? Horrorgeschichten aus meiner frühesten Kindheit kochten hoch. Die Drohung von Amerika, Russland und China, die gesamte Welt mit ihren Atomarsenalen zu vernichten, hatte mich verfolgt, seit ich denken konnte. Der erwartete große Krieg kam nie, als jedoch die KI Atomkraftwerke auf der ganzen Welt in die Luft jagte, war der Horror zumindest teilweise wahr geworden.

    Mit zitternder Hand bestätigte ich die Nachricht. Sofort verwandelte sich das übergelagerte Bild in eine Frau mit streng zurückgebundenen Haaren, die mich scharf fixierte. Sie trug ein teures Gewand, das einem Kimono ähnelte. Lupa, die Präsidentin der portugiesischen Konföderation kam mit festen Schritten näher und hob ein S-Con in die Höhe, das sie aus den Tiefen ihres Gewandes geangelt hatte.

    »Heroína. Entschuldige bitte, dass ich dich störe. Aber ich möchte dir das hier zeigen, bevor es durch das RIP geht.«

    Ich musterte die mächtigste Frau Portugals. Ich hatte sie seit meiner Ankunft ein paar Dutzend Mal getroffen und war stets überwältigt von ihrer kraftvollen Ausstrahlung. Heute jedoch erkannte ich tiefe Sorgenfalten unter ihren Augen.

    Ihr S-Con leuchtete hell auf, als eine Explosion den Bildschirm beleuchtete.

    »Vor einer Stunde ist in der polnischen Ebene eine Plutoniumbombe hochgegangen. Das ist ungefähr fünfhundert Kilometer östlich von Berlin geschehen. In einer Gegend, die sowieso schon radioaktiv verstrahlt war.«

    Eine Schockwelle raste über sumpfiges Brachland und verwilderte Wälder. Ein gewaltiger Pilz aus heißem Plasma wuchs in den Himmel.

    Lupa tippte auf ihren Bildschirm. »Diese Aufnahmen haben Agenten an der Grenze zur Nord-EU aufgenommen. Zuvor hatten unsere Radarstationen den Kurs eines schnellen Objekts registriert, das sich von Amerika aus näherte.«

    Ich schluckte. Eine Interkontinentalrakete aus Amerika? Diese Dinger waren in den verdeckten Nano-Scharmützeln zwischen den damaligen Weltmächten USA, Russland und China vernichtet worden.

    Direkt vor der Nano-Katastrophe, als die Nanotechnologie aufhörte zu funktionieren, gab es keine intakten Atomwaffen mehr.

    Lupa räusperte sich. »Es ist extrem unwahrscheinlich, dass amerikanische Siedler diese Waffe repariert haben. Die meisten Leute dort sind froh, wenn sie halbwegs funktionierende Filter herstellen können. Es gibt nur eine plausible Erklärung dafür.«

    »Cara«, flüsterte ich.

    »Cara oder ein weiterer Klon der KI«, bestätigte sie. »Dieses Ding muss sich dorthin zurückgezogen haben, wo dein Virus nicht funktioniert, und seine Nanobots haben dann diese Rakete repariert.«

    Ich runzelte die Stirn. »Das ist eigentlich nicht möglich. Alle KI-Klone standen miteinander in Verbindung. Außer die in den hermetisch abgeriegelten Kapseln. Sobald die sich aber öffnen, um beispielsweise Nervenverbindungen zu ihren Gastkörpern herzustellen, erwischt der Virus sie, weil alle Nanobots in menschlichen und nicht-menschlichen Gästen infiziert sind. Und wenn sich die Kapseln nicht öffnen, können auch keine neuen Nanobots herausgeschickt werden, um Nervenverbindungen zu reparieren. So oder so, die KI in den Kapseln existiert nicht lange genug, um jahrzehntealte Atomraketen wieder einsatzbereit zu machen.«

    Lupa trat näher an die Kamera heran. Ihr Gesicht schwebte unnatürlich groß vor meinen Augen. Dann verschwand es und änderte sich in die Satellitenaufnahme einer öden Landschaft in Amerika. Eine Wellblechsiedlung erstreckte sich am Rand eines Hügels, ein weit geöffnetes Raketensilo zeigte frische Brandspuren. Die Kamera zoomte hinein.

    »Ich würde dir recht geben, hätte ich das hier nicht gesehen«, sagte Lupa leise.

    Außerhalb der Siedlung lag eine Kapsel, die genauso aussah wie das Ding, das man mir vor einigen Monaten aus dem Knie operiert hatte.

    Mein Herz raste, ich knirschte mit den Zähnen. Kurz kochten die Geschehnisse in La Lune wieder hoch und ich sah das Gesicht von Johann, während Roboterarme versuchten ihm eine Kapsel einzupflanzen.

    Ich ignorierte die beiden Frauen, die mir abschätzende Blicke zuwarfen, und sagte: »Das sieht tatsächlich übel aus. Hast du noch mehr Informationen?«

    Das Bild der mächtigsten Frau Portugals erschien wieder vor meinen Augen.

    »Genau die gleiche Frage stellte mir der Rat. Da ich leider verneinen musste, haben wir einstimmig beschlossen, dass Portugal jetzt entschieden einschreiten muss.«

    Trotz der Ernsthaftigkeit der Situation schmunzelte ich. Lupa Rodrigues war keine Frau, die sich mit anderen beriet. Sie entschied allein. Der Rat war sie selbst, der Rest nur eine Gruppe von rückgratlosen Ministern. Dass jeder das wusste, war ihr egal.

    »Schön ausgedrückt, aber was genau …«

    »Heroína, wir brauchen dich dort vor Ort. Wir benötigen deine Expertise.«

    Ich schwieg und versuchte meinen Herzschlag zu beruhigen.

    Vor Ort!

    An einer Stelle, an der eine oder möglicherweise weitere Kapseln lagen und die KI aktiv war.

    Ich verspürte ein leichtes Ziehen in meinem Knie, eine Erinnerung an dunklere Zeiten. Ich schüttelte den Kopf. »Das geht nicht, das weißt du. Ich habe hier Verpflichtungen, ich kann nicht so ohne Weiteres fortgehen.«

    Die Frau hob beschwichtigend ihre Hände. »Ich weiß, ich weiß, dein Laden, dein Masken-Laden.«

    Die Betonung klang nicht abfällig, besaß aber so viel Nachdruck, dass ich eine Augenbraue hob.

    Sie fuhr fort: »Ich weiß, wie sehr du an deiner Arbeit hängst, und ich schätze sie wirklich sehr. Wenn du so willst, bin ich sogar eine deiner treuesten Kundinnen. Deine Masken sind der Hit auf meinen Empfängen – auch wenn das meiste ja virtuell stattfindet.« Sie trat noch näher und musterte mich mit einer harten Miene, die jeden Bot außer Gefecht gesetzt hätte. »Aber ich weiß auch, dass der Laden temporär von Johann weitergeführt werden kann. Ohne Probleme.« Mit dunkler Stimme fügte sie hinzu: »Und wenn du es nicht tust, gefährdest du das ganze Land. Wer sagt dir, dass die nächste Rakete nicht hier in Porto einschlägt? Mit deiner Expertise können wir die KI ausschalten, bevor das passiert!«

    Ich blickte in ihre Augen und erkannte ein ängstliches Blitzen. Ich atmete tief durch und sagte dann in gebrochenem Portugiesisch: »In Ordnung. Ich bin dabei. Ich muss nur noch Johann benachrichtigen.«

    Lupa nickte und trat wieder einen Schritt zurück. »Sehr gut. In einer Stunde an der Mole. Sargento Ribeiro wird dich empfangen und zum Einsatzort begleiten. Übrigens, dein Portugiesisch macht Fortschritte!«

    Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, kappte sie die Verbindung, die Einblendungen auf meiner Netzhaut verblassten. Die alten Frauen betrachteten mich immer noch skeptisch. Ich seufzte und nickte ihnen höflich zu.

    Meine Knie zitterten.

    Wenig später lief ich die Straßen entlang. Hier und da rauschten uralte Elektroautos vorbei, doch der primäre Verkehr fand in Gleitern einige Dutzend Meter über meinem Kopf statt. Schatten verdunkelten die Straße in unregelmäßigen Mustern, während ich auf ein eckiges Gebäude zusteuerte. Es war eine graue Betonkonstruktion mit abgerundeten Balkonen und einer Parabolantenne auf dem Dach. Johann hatte keine Mühen gescheut, alles wie einen Wohnblock des frühen 21. Jahrhunderts wirken zu lassen.

    Ich öffnete die Tür und betrat den Wartebereich, in dem Sessel und Kaffeespender standen. Ein halbes Dutzend junger Mädchen hob erwartungsvoll die Augen, nickten mir zu und konzentrierten sich wieder auf ihre S-Cons. Einige waren modisch gekleidet, ihre Oberkörper durch nanobefestigte Stofffetzen in Szene gesetzt, ihre Hüften in halb transparente Seide gehüllt.

    Ich entriegelte die Tür zum eigentlichen Laden. Hinter mir knackten die Sessel, als die Mädchen versuchten einen Blick hineinzuwerfen.

    Johann bediente ein Mädchen, das gekommen war, um sich für die nächste Show vorzustellen. Mit rotem Kopf stand er vor ihr und bewegte das Profiaufnahmegerät hin und her.

    Die Kundin reckte ihre

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