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Yag aus Ntho: Das Murmeln der Ewigkeit, Band I
Yag aus Ntho: Das Murmeln der Ewigkeit, Band I
Yag aus Ntho: Das Murmeln der Ewigkeit, Band I
eBook486 Seiten6 Stunden

Yag aus Ntho: Das Murmeln der Ewigkeit, Band I

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Über dieses E-Book

Der Bauernjunge Yag ist ein Liebhaber von Geschichten, die ihn an andere Orte tragen. Kein Wunder: Ntho, seine Heimat, ist ein winziges Dorf, isoliert durch die Herrschaft der Shel', Echsenmenschen aus der mächtigen Stadt Ushrilh. Gemeinsam mit seinen Freunden Yi und Di und dem alten Gärtner Tax begibt er sich in Spielen und Erzählungen an ferne Orte und träumt von der Rotgewandeten, einer Göttin, die am Nimmerfaden wohnt. Doch mit dem Verlust seiner Freunde wandelt sich auch das Antlitz seiner Heimat. Einen Ausweg aus dem Würgegriff von Ntho findet er in einem seltsamen Fremden, der im Verbotenen Wald lebt, sich 'Ulisses' nennen lässt und eine geheime Mission verfolgt.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum22. Juli 2020
ISBN9783752978773
Yag aus Ntho: Das Murmeln der Ewigkeit, Band I
Autor

Künstlername: Blaustein

Blaustein ist mit Büchern aufgewachsen - und dem Drang, selbst Geschichten zu kreieren. Ihn faszinierten große Erfinder wie Edison oder Knisters Professor Turbozahn - später studierte er Wirtschaft, Jura und schließlich Latein und Geschichte. So ist es kein Zufall, dass eine Begeisterung für Wissenschaft und Technik, Geschichte und die Feinheit menschlicher Sprache bei ihm zusammenfließen in den Bau facettenreicher Welten und Charaktere.

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    Buchvorschau

    Yag aus Ntho - Künstlername: Blaustein

    Das Murmeln der Ewigkeit, Band I: Yag aus Ntho

    Titel Seite

    Danksagung

    Impressum

    Wanderer im Kaukasus

    Kapitel 1: Der Splitter

    Glühwürmchen in der Wüste

    Kapitel 2: Kinderspiele

    Der Mann der tausend Häute

    Kapitel 3: An Bagis Schwelle

    Lurch

    Kapitel 4: „Fort das feuchte Tuch"

    Notizbuch-Eintrag des Deukaliers Mikabelidor I

    Kapitel 5: „Verborgene Türen"

    Die Wunderwaffe

    Kapitel 6: „Im Sturm"

    Notizbuch-Eintrag des Deukaliers Mikabelidor II

    Kapitel 7: „Alte Geister, neue Masken"

    Eine ungebetene Audienz

    Kapitel 8: „Der dreifache Neumond"

    Die Sonne abhängen

    Yag aus Ntho

    Das Murmeln der Ewigkeit, Band I

    von Blaustein

    Danksagung

    „Der Weg lebt" – sagt der alte Tax. Mein Weg des Schreibens endet nicht mit der Fertigstellung dieses Romans im Jahr 2020 – wichtiger jedoch: Er hat nicht erst 2012 begonnen, als ich begann, den ersten Entwurf dieses Romans zu Papier zu bringen.

    Ich kann aus meiner Familie, ob meinen lieben Eltern (eure Wertschätzung für Bücher und einen schönen Garten) oder Geschwistern, meinen Großmüttern und Großvätern und Onkeln und Tanten, niemandem nicht danken, denn sie haben diesen Weg und mich zu dem gemacht, als der ich diese 700.000 Zeichen geschrieben habe. Ihr sollt immer wissen, wie sehr ich euch liebe und wie wichtig es mir ist, euch stolz zu machen.

    In diesem Buch geht es um Unterricht – und ich komme nicht umhin, zwei Lehrerinnen zu danken, die mir auf ihre eigene Weise auf diesem Weg geholfen haben: Frau Hasenohr, meine Klassenlehrerin in der Grundschule, die mich meine ersten, kleinen Geschichten vor der Klasse vorlesen ließ, und Frau Wagener, die in der Oberstufe nicht nur meine Faszination für die Gesellschaftswissenschaften weckte, sondern mir Struktur beibrachte und in den vielen Jahren seit meinem Abitur eine Ansprechpartnerin geblieben ist.

    Ich schulde all den lieben Freunden Dank, die in ihrer wertvollen Freizeit meine frühen Entwürfe gelesen und mich in meinem Größenwahn unterstützt haben.

    Außerdem verdanke ich Melanie Hössel eine gesunde, kritische Reflexion meiner Handlungsstränge (ohne dich hätte ich das Buch wohl nicht in Kapitel eingeteilt!), Professor Michael Janda, dessen Institut für Indogermanistik immer eine Oase der Inspiration an der WWU Münster gewesen ist, verdanke ich einen unerschöpflichen Fundus an Mythologie, und ohne den verlegerischen Sachverstand von Thomas Kubo sähe dieses Buch wohl aus wie eine Erstsemester-Hausarbeit!

    Impressum

    Texte: © Copyright by Blaustein

    Umschlaggestaltung: © Copyright by Blaustein

    Verlag

    Blaustein

    c/o AutorenServices.de

    Birkenallee 24

    36037 Fulda

    blaustein.buecher@web.de

    Hersteller: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

    Wanderer im Kaukasus

    Anno 1009 post Christum natum

    Kairos schüttelte sich. Der Wind war eisig. Zwei Jahre waren ins Land gegangen, seit er seine Heimat zum letzten Mal gesehen hatte; vor gerade einmal zwei Monaten war er einem grausamen Tod im Barbarenland entronnen; Zwei Tage waren vergangen, seit die swanetischen Hirten ihn und seinen Begleiter verlassen hatten und zu ihren Leuten zurückgekehrt waren. Die Ehrfurcht – oder war es Mitleid? – war ihnen förmlich aus dem Gesicht gesprungen. Der junge Mann wusste jedoch selbst, wie verwegen die Reise war, die er mit seinem mehrere Jahrzehnte älteren Gefährten angetreten hatte: Den Strobilos –oder „Tausend Berg", wie sie ihn hier nannten – wollte dieser besteigen. Seit heute Morgen kämpften sie sich eben diesen Berg hinauf, und doch wollte der verschlossene Alte, der sich Kairos einst mit dem Namen Iagos vorstellt hatte, nicht damit herausrücken, was er hier, fernab jeder Menschenseele, zu finden gedachte. Immerhin beteuerte er bei jeder Rast, dass sie nie und nimmer einen der beiden Gipfel würden erklimmen müssen. Ein schwacher Trost: Sie befanden sich auf dem höchsten Berg des Kaukasus! Unwillig stemmte er sich gegen die Steigung des Pfades, den Iagos einschlug, und der eigentlich diesen Namen nicht verdiente; Das raue Herbstwetter hielt eisern dagegen. Der Himmel war wolkenverhangen und vor zwei Stunden hatte es nach Regen ausgesehen – es war beim allmächtigen Gott weder die Jahreszeit noch das Wetter, um zu zweit mit lächerlichen Kurzschwertern bewaffnet durch Barbarenland zu wandern! Doch Kairos schuldete dem Alten einen Gefallen, genau genommen sein Leben: Ohne ihn würde sein Schädel irgendwo auf einem Pfahl in der Steppe nördlich des Kaukasus stecken und wehmütig gen Süden starren.

    Kairos kam aus ärmlichen Verhältnissen, war ein anständiger armer Schlucker gewesen. Seine gute Mutter hatte ihm stets eingebläut: „Armut ist keine Ausrede für Unrecht und Reichtum kein Freischein!" Nur einmal, da hatte ihm ein hübsches Mädchen namens Epifania den Kopf verdreht: Der Duft ihrer glänzend schwarzen Locken machte ihn betrunken, wenn er nur an sie dachte, ihr helles, klares Lachen verschaffte ihm Träume von Engeln und der Gottesgebärerin – und ihre abgründigen großen braunen Augen ließen in ihm den Glauben an Hexerei aufflammen. Dieser Erscheinung wollte er etwas bieten. Vielleicht war Liebe ja eine bessere Ausrede für Diebstahl, vielleicht auch nicht. Genau einmal hatte Kairos seine Grundsätze missachtet und die Hände nach einer hübschen Perlenkette ausgestreckt. Und genau dieses eine Mal hatte man ihn erwischt.

    Anstelle von Auspeitschungen, Knüppelhieben oder gar Verstümmelungen jedoch erhielt der junge Mann eine Vorladung zum Strategos von Trapezunt! Ob er ein gläubiger Mann war, hatte der hochgewachsene byzantinische General ihn gefragt. Kairos bejahte dies eifrig, beteuerte unter frommen Tränen seine Reue und die Einmaligkeit seines Vergehens. Da erklärte ihm der Strategos mit mildem Lächeln, er werde ihm einen Auftrag erteilen, um seine Reue vor dem Allmächtigen zu bekunden: Kairos solle als Kundschafter im Königreich des umtriebigen Bagrat II. von Armeniakon Neuigkeiten sammeln über dessen Pläne, über dessen Unterstützung durch die Bevölkerung, und anschließend bei aller gebotenen Vorsicht auch Erkundungen in der Steppe nördlich des Kaukasus anstellen. Käme er zurück mit wertvollen Neuigkeiten, wäre nicht nur sein Verbrechen gesühnt – er würde sogar zum Akriten erhoben, einem Grenzsoldaten mit eigenem Stück Land! Dass der Glanz dieses Titels längst abblätterte, dass das versprochene Land mager und winzig noch obendrein war, das bekam er von wohlmeinenden Freunden zu hören, wann immer er es wagte, von seinem Auftrag zu erzählen. Doch Kairos hielt an seinem Plan fest, aus naiver Hoffnung auf etwas Glück vielleicht, oder einem unbestimmten Gefühl, dass der Allmächtige selbst ihn auf diesen Weg geschickt hatte. Rückblickend war er sich nicht mehr so sicher.

    Nun, Kairos brach vor zwei Jahren auf, bahnte sich, von Abasgia am Schwarzen Meer ausgehend, seinen Weg ins Landesinnere, häufte sorgfältig und gewissenhaft Informationen in seinem Kopf an. Allabendlich sagte er diese vorm Einschlafen auf – denn schreiben hatte er nie gelernt und seine rudimentären Lesekenntnisse brachten ihm damit auch nichts. Den verstohlenen Blicken junger Frauen widerstand er tapfer – eine kleine Ikone der Gottesgebärerin, eine Gabe des Strategos, war das einzige Weibsbild, welchem er in dieser Zeit bisweilen sein Herz öffnete. Er hatte aufregende Gerüchte aufgeschnappt von den Ambitionen des abchasischen Herrschers. Mit wachsender Aufregung musste Kairos seine kühnen Hoffnungen niederringen, je mehr wichtige Neuigkeiten er aufschnappte.

    Schließlich jedoch musste er miterleben, wie Bagrat II. sich zum König der Könige ernannte und nun Bagrat III. hieß. Was er bis dahin als geheime Neuigkeiten angehäuft hatte, wurde so auf einen Schlag offiziell und wäre bis zu seiner Rückkehr in Trapezunt längst altes Gewäsch.

    Kairos knurrte unwillig bei dem Gedanken daran. „Rasten? Iagos war stehen geblieben und brüllte gegen das Pfeifen des Windes an. Der junge Soldat schüttelte den Kopf. Vor dem Alten würde er sich keine Blöße geben. Das erwies sich jedoch als echte Herausforderung. Iagos legte eine stramme Marschgeschwindigkeit vor – und schien nicht aus der Puste zu kommen. Irgendetwas musste ihm schier unerschöpfliche Energie verleihen, die Iagos jeglichen Witterungen und Gefahren trotzen ließ. Darauf angesprochen, was das sei, hatte Iagos nur leise erwidert: „Morgenrot. Danach hatte er stundenlang geschwiegen – und Kairos betete inständig, dass der Alte die Strapazen dieser Reise nicht für einen letzten Sonnenaufgang in schwindelerregender Höhe auf sich nahm. Kairos hakte dennoch nicht nach, denn Ehrenschuld war Ehrenschuld.

    Frustriert über den Fehlschlag seines ersten Auftrages, bahnte sich der junge Mann seinen Weg in chasarisches Territorium, das Land zahlreicher barbarischer Stämme und marodierender Reiter. Doch schon als die Sonne zum zweiten Mal zur Mittagszeit über dem Kaukasus stand, fiel er – allem Ehrgeiz zum Trotz ein grüner Junge – einer Gruppe finster drein schauender Reiter in die Hände. Kairos verstand kein einziges Wort ihrer kehligen Sprache, sie verstanden ihn nicht – oder wollten ihn nicht verstehen. Stattdessen plünderten sie sein Gepäck und ließen ihn geknebelt am Rande ihres Zeltlagers liegen – unter freiem Himmel. Während die Barbaren sich zu rauen Gesängen und dem Klang fremdartiger Instrumente betranken, machte Kairos Bekanntschaft mit dem alten Iagos. Dessen Zelt war nur wenige Schritte weit von Kairos erbärmlichem Nachtlager entfernt. Der Flammenkegel des Lagerfeuers streckte sich zum finsteren Nachthimmel aus, als der Gefangene in einem kleinen Zelt ein blaues Licht bemerkte. Ein göttliches Zeichen, dachte er, und schrie und stöhnte so laut, wie er es durch seine speichelgetränkten Knebel nur vermochte. Sofort verschwand das Licht – und eine Gestalt verließ mit hektischen Schritten das kleine Zelt.

    Iagos hatte sich bei den Kriegern als Zauberer, Traumdeuter und Wahrsager verdingt, als Dolmetscher, Fährtenleser und Schatzsucher, erfuhr Kairos später. Just in dieser Nacht schien der Alte der rauen Gesellschaft der Barbaren jedoch überdrüssig geworden zu sein – oder in Kairos den rechtschaffenen, frommen Rhomäer erkannt zu haben, dessen Wert jeden Mann in diesem Lager zehnfach aufwog. Was es auch war: Eben noch in zerfetzten Lumpen frierend im Dreck liegend, fand sich Kairos einen Wimpernschlag später auf dem warmen, sattellosen Rücken eines Pferdes wieder, neben ihm reitend der Alte mit einem gewaltigen Rucksack. Bald schon erstickte der Hufdonner die Wutschreie aus dem Zeltlager. Das Schnauben der kräftigen Tiere erfüllte ganz die Dunkelheit, weder der Alte noch Kairos sprachen ein Wort.

    Erst, als sie zur Mittagszeit des neuen Tages ihren Gewaltritt beendeten, stellte Kairos fest, dass der Alte fließend Koine sprach, so sauber wie die Vornehmsten aus Konstantinopolis. Und doch sah Iagos weder wie ein Oströmer aus noch wie einer der Barbaren – zwar trug er einen ansehnlichen Bart, doch war sein ganzes Erscheinungsbild zu wild und ungepflegt, zu fremdartig die vielfach geflickten Kleidungsstücke und die Gegenstände, die an Schnüren von seinem Rucksack baumelten. Seine starken Wangenknochen und sein breiter Mund hoben ihn selbst von jenen berittenen Kriegern ab – die nun, wie Iagos mit schalkhaftem Blick bei ihrem ersten gemeinsamen Mahl erklärte, nicht mehr beritten waren. Von dem Alten erfuhr Kairos nun auch viel Wissenswertes über dieses Barbarenland, etwa, dass jene Krieger sich Kiptschaks nannten und auf der Suche nach Land für ihr Volk waren. Der junge Römer hatte sein Leben – und endlich „wertvolle Neuigkeiten", die ihm keiner mehr nehmen würde!

    Kairos hielt inne. Nicht zum ersten Mal auf ihrer Reise betrachtete der alte Iagos seine rätselhafte schwarze Scheibe. „Was sagt Euch das Astrolabium? Wie weit ist es noch?" fragte der Römer. Iagos schwieg sich über das wundersame Objekt aus, daher hatte Kairos es Astrolabium getauft – nach jenem metallischen Navigationsinstrument, das er einmal bei einem reichen Kaufmann gesehen hatte.

    „Ich bin dem Ziel zum Greifen nah, erklärte Iagos mit feierlicher Stimme. Kairos runzelte argwöhnisch die Stirn. Iagos fuhr fort: „Dort hinter dem Hügel befindet sich die Schwelle zu meiner weiteren Reise. Der Alte dreht durch. Kairos schluckte hastig ein hartes Stück Brot hinunter. „Ihr sagt ‚Ich‘, ‚meine Reise‘…, bemerkte er. Der Alte lächelte geheimnisvoll. Etwas unbeholfen breitete er die Arme aus und drückte den verdutzten Kairos an seine in vier Schichten Stoff verpackte Brust. „Ich danke dir für dein Geleit, junger Freund. Du magst es nicht glauben, aber du hast mir damit einen größeren Dienst erwiesen als ich dir. Ja, ich wäre lieber tot, als diesen Pfad nicht vollenden zu können, der vor mir liegt.

    Kairos löste sich aus der Umarmung und musterte seinen Begleiter irritiert. „Bei dem allmächtigen Vater-, beteuerte er, „hier trennen sich unsere Wege nicht! Eher sterbe ich nachträglich den Tod, vor dem ihr mir bewahrt habt, als Euch, meinen Retter, dem Erfrieren in der Wildnis auszuliefern! Ein unergründlicher Ausdruck huschte über das Gesicht des alten Iagos. „Du bist ein anständiger Kerl, befand er. „Dein Gesalbter, oder wer auch immer dafür zuständig ist, soll dir ewiges Leben schenken – nein, kein gütiger Gott würde solch ein Geschenk machen. Möge er dein sterbliches Leben vor Glück überquellen lassen! Iagos klopfte dem jungen Mann auf die Schulter. „Wenn du mich weiterhin begleiten willst, will ich es dir nicht verbieten! Aber lass mich kurz austreten – wir hätten vorhin an diesem kleinen Bächlein rasten sollen… Erleichtert ließ Kairos sich auf einem Felsbrocken nieder, kramte ein weiteres Stück Brot aus seinem Gepäck und wartete geduldig auf Iagos. Erst jetzt fiel ihm auf, welche Höhen sie bereits erklommen hatten: Im Westen erstreckten sich unter unverändert grauem Himmel die Täler und Berge des Kaukasus. Hier also hatte Ethon dem erbarmungswürdigen Prometheus die stets nachwachsende Leber aus der Brust gerissen – hierhin führte Iagos rätselhafte Scheibe sie. Kairos lachte in sich hinein. Wozu brauchte ihn der Alte überhaupt? Immerhin war er schon mit den Barbaren gut fertig geworden – da würde er doch sicher nicht vor den Geschichten zurückschrecken, die man sich über Gebirgsvölker wie die Swanen erzählte? Nein, dafür war der alte Iagos zu gerissen… Kairos sprang auf. Wo war das Gepäck seines Begleiters? „Austreten? rief Kairos ungläubig. Der junge Mann warf sich seinen Rucksack über und rannte bergauf, „Iagos! rufend, „Freund!

    Keuchend erreichte Kairos die Hochebene, die Iagos zweifellos gemeint hatte. „Freund! Sein letzter Ruf erstarb im Heulen des Windes. Dann erblickte er den Alten. Er stand auf einem Felsvorsprung und sah hinab in den tödlichen Abgrund. „Hodegetria… murmelte der Römer und trat vorsichtig an den Felsvorsprung heran.

    „Erinnerst du dich? sagte Iagos plötzlich. Hatte er ihn kommen gehört? „Du hast dich über deinen Namen beschwert. Wie unpassend er sei… Kairos zog eine leidvolle Grimasse. Sein Name bedeutete so viel wie „der entscheidende Moment. Wie oft in den vergangenen Jahren hatte er sein bisheriges Schicksal daran gemessen und es für einen grausamen Witz des gütigen Allmächtigen gehalten? „Zu gut, erwiderte er. Iagos dachte immer noch nicht daran, sich zu Kairos umzudrehen. „Für das, was deine Augen gleich sehen werden, ist in deinem Leben kein Platz, wenn du glücklich sein willst." Die Stimme des Zauberers, Wahrsagers und Traumdeuters, des Schatzsuchers, Fährtenlesers und Dolmetschers war auf unerklärliche Weise entrückt. Das Alter von zwölf Greisen schien aus ihr zu sprechen, die Last eines Berges, die Qualen jenes Titanen, dessen Leber jahrtausendelang den Raubvögeln Nahrung war; ebenso jedoch die Sorglosigkeit eines Kindes beim Spiel. Kairos lief ein Schauer über den Rücken.

    „Mein lieber Freund Kairos, fuhr Iagos fort. „Mein Kairos ist nun gekommen. Bete zu deinem Allmächtigen, dass ich ihn nicht verpasse! Du wirst es an den Felsen dort unten erkennen, wenn deine Gebete kein Gehör gefunden haben… Ich verlasse dich als Freund. Lebe wohl!

    Bevor der arme Kairos begriff, wie ihm geschah, war der Alte schon gesprungen. Stumm, fassungslos fiel er auf die Knie, robbte an den Abgrund, starrte hinab. Da rauschte sein Lebensretter in den sicheren Tod! Eine Träne rann über Kairos Wange und stürzte dem Alten hinterher. Der junge Mann aus Trapezunt wischte sich mit seinem Handschuh über das Gesicht. Als er wieder hinab schaute, war Iagos verschwunden. Nicht hingen seine zertrümmerten Gebeine von den Felsbrocken, nicht ragte sein Körper aus dem garstigen Gestrüpp dazwischen – verschwunden war er, mit Haut und Haar und seinem gewaltigen Rucksack.

    Zwei Stunden lang kauerte der arme Soldat an jenem Felsvorsprung, betete, rieb sich die Augen wund und rief den Namen seines Freundes. Doch seine Worte verhallten ungehört. Schließlich verdunkelte sich das Himmelsgrau, Eiseskälte kroch aus den Felsen in seine Knie. Niedergeschmettert trat Kairos die Heimreise an. Wohlbehalten erreichte er später Trapezunt, erstattete dem verblüfften Strategos Bericht, wurde mit einem kargen, aber doch ausreichenden Stück Grenzland versehen, heiratete eine hübsche junge Frau und wurde ein glücklicher Vater. Im Strudel der dahinfließenden Zeit verblasste die Erinnerung an seine denkwürdige Reise zum Tausendberg. Manchmal gewann der Gedanke in ihm Oberhand, er habe das alles nur geträumt. Erst, als er selbst ergraut war und seinen Enkelkindern wild ausgeschmückte Geschichten über seine Abenteuer als Kundschafter erzählte, kehrte Farbe zurück in die Bilder von damals – die Flucht unterm Sternenhimmel des Barbarenlandes, ihr Aufenthalt bei den Stämmen des Kaukasus, schließlich ihre letzte gemeinsame Reise. Immer häufiger kam es dann vor, dass Kairos, sooft er sein Landgut verließ und bei seiner Familie in Trapezunt einkehrte, am Ufer des Schwarzen Meeres stand und nur das Wasser betrachtete. Dann nahm er einen Stein, der ihm geeignet schien, wartete auf den entscheidenden Moment – und warf ihn in das schimmernde Blau. Er sah zu, wie der Stein die dunkle Wand durchbrach und in die Tiefe sank. Manchmal, selten, fragte er sich, hinter welcher Wand sein seltsamer Freund wohl verschwunden sein mochte – denn ein Engel des Allmächtigen war er gewiss nicht gewesen. Dann ging Kairos, der Römer, glücklich heim. Alles in allem hatte er im Leben doch eine Menge Glück gehabt.

    Kapitel 1: Der Splitter

    Der Vorabend des Roten Festes war angebrochen und eine nie gekannte Unruhe hatte mich ergriffen. Alles nur wegen eines dummen Bechers, sagte ich zu mir selbst, doch es hatte keinen Zweck: Der Djekani, der heute Mittag in Stücke gesprungen war, war eben nicht irgendein Becher, sondern mein eigener, nur für mich von Hand geschnitzter Holzbecher, die Gabe für jeden jungen Nek, der das sechzehnte Lebensjahr erreichte. Mit dem Djekani übernahmen die jungen Männer meines Dorfes gleichzeitig die Dienstpflichten eines erwachsenen Mannes; Diese Ehre war mir vor einem halben Jahr zuteil geworden.

    „Yag aus Ntho - so stand es geschnitzt in das dunkle Holz meines Djekani, einen Fingerbreit unter dem Becherrand. Taglex, unser Zimmerer und das jüngste Mitglied des Ältestenrats, hatte ihn angefertigt, wie für die meisten anderen Burschen. Doch nicht nur mein Name zierte die Oberfläche meines Bechers. Wie es Brauch war in Ntho, zeigte er auch mich in meiner Festtagskleidung. Fünf grobe braune Streifen deuteten mein dunkelblondes, wild wachsendes Haar an. Meine Augen war zwei schwarze Pünktchen in einem runden, heiteren Gesicht. So stand ich da, über die Umzäunung unseres Dorfes gelehnt – „und möge dir dein jugendliches Abbild auch im Greisenalter noch Freude bereiten! So hatte unser Dorfältester es feierlich vor den Göttern erbeten, „Möge er dir jede Stärkung bereithalten, die du brauchst, um deiner Familie und der Gemeinschaft zu dienen! Und wie Mutter und Vater mit feuchten Augen an meinem Festtag hinter mir gestanden hatten, so umgab mich meine kleine Familie auch auf dem Djekani: Links war eine Frau in einem schlichten Kleid zu erkennen, mit einer schmucklosen Schleife an der rechten Hüfte zusammengebunden, wie es sich für eine verheiratete Frau gehörte. Mutter sah aus wie jede andere Frau auf Abbildungen dieser Art, doch ich wusste, dass sie es war. Bei Vater hatte Taglex immerhin die Körperfülle berücksichtigt: Zu meiner Rechten stand er, die linke Hand auf meiner Schulter, in der Rechten hatte er einmal eine Pfeife getragen, doch die war schon nach einer Woche abgebrochen. Ich hatte keine Geschwister. Mutter und Vater hatten mich erst spät bekommen. Manche Familien Nthos waren sehr kinderreich, doch wann immer jemand mir Geschwisterlein wünschte, winkten meine Eltern ab. Sie erzählten dann von den schweren Gründungsjahren der Siedlung, von den fünf harten Wintern, die ihnen so viele Entbehrungen abgenötigt hatten: „Wir sind schon froh, dass wir nur einen gesunden Sohn haben, der noch dazu das Mannesalter erreicht hat, sagte Mutter dann mit einem bescheidenen Lächeln – und wenn Vater anwesend war, brachte er mit grimmiger Miene zum Ausdruck, dass die Sache damit erledigt war. Beide wurden für ihr Pflichtbewusstsein und ihren Fleiß geschätzt, Mutter für ihre Sorgfalt daheim, für ihre Hilfsbereitschaft in der Gemeinschaft und die Pflege unserer Bräuche, Vater für seine Gründlichkeit und Opferbereitschaft, nicht erst als tel‘edeth ush auf den Feldern unseres Dorfes: Bevor ihm die Aufgabe anvertraut worden war, junge Burschen auf dem nördlichen Weizenfeld herum zu scheuchen und die Pflege des Ackers zu überwachen, hatte er selbst lange Jahre auf dem Westfeld die tückischen Thinlha-Stauden geerntet. Er besaß noch immer seine alten Pflückerhandschuhe, die bis über den Ellbogen reichten und aus zwei Schichten Leder bestanden. Er zeigte er mir und jedem, der sich fand, stets allzu gern das Brandmal aus seinen frühesten Tagen, als der gelbliche Thinlha-Saft ihm unter den Handschuh gelaufen war. Er hatte sich seinen rechten Unterarm übel verbrannt, doch trotz großer Schmerzen nach nur einem Mond die Arbeit wieder aufgenommen. Noch heute war seine Haut an besagter Stelle weiß und haarlos wie ein ertrunkenes Tierjunges.

    Früher hatte ich auf dem kleinen Gartenhügel zwischen dem Nordfeld und dem Dorf unter der alten Salzweide gelegen und ihm dabei zugeschaut, wie er mit Geduld und Unerbittlichkeit über sein Feld herrschte, genau wie seine Frau daheim – in dieser Hinsicht waren Mutter und Vater wohl aus demselben Holz geschnitzt. Auf dem Djekani prangte unser Häuschen im Rücken meiner Eltern. Es besaß nur zwei Zimmer: Man betrat unser Heim durch die Küche, wo Ofen und Esstisch und Mutters großer Küchenschrank standen, und gelangte durch einen verschlissenen Vorhang in die Schlafstube, wo Mutter und Vater mir eine eigene Pritsche neben ihrem Bett aufgestellt hatten, als ich das achte Lebensjahr erreichte.

    Die Größenverhältnisse auf dem Becher waren nicht im geringsten wirklichkeitsgetreu: Während unser kleines Häuschen mit Mutter, Vater und mir die eine Hälfte des Djekani in Beschlag nahm, blieb für den Rest meiner Heimat die andere Hälfte: Hier, auf der Rückseite, war der Versammlungsplatz abgebildet – was nur an den umstehenden Gebäuden und den darauf stehenden Nek zu erkennen war: Hier standen an den gegenüberliegenden Rändern das alte Lagerhaus im Süden und das Junghaus auf der Nordseite des Platzes, gleich neben dem Dorfbrunnen, über dessen kleine Mauersteine mein Daumen gerne fuhr, während ich trank. Hier hatte ich viele Jahre meiner Kindheit mit den anderen Jungen und Mädchen von Ntho verbracht, betreut von den unverheirateten Frauen des Dorfes. Die Enkelinnen unseres Dorfältesten, Sleena und Deena, standen lächelnd vor dem Junghaus, beide mit einer Schleife vor dem Bauch. Deena war so alt wie ich, Sleena dagegen fünf Jahre älter. Sie betreute uns Jüngere schon, als sie selbst noch ein junges Mädchen war. Von ihr hatte ich die Zahlen unserer Herren aus der Nebelstadt gelernt:

    „Yi schreit der Daumen unterm Schuh,

    Lex der zweite kommt dazu,

    Lesch sind Sonne, Mond und Sterne,

    Dasch – vier Äpfel ess ich gerne,

    Eine Hand hat Finger Di,

    Dex Zehen haben Füße nie!

    An Desch Tagen Vater schuftet,

    Am Tag Tax das Festmahl duftet."

    Als kleiner Junge schon war ich in die hübsche Sleena mit ihren feinen blonden Zöpfen und dem stolzen Lächeln verliebt gewesen – und wenn ich ehrlich war, hatte ich nur irgendwann aufgehört, es jedem auf die Nase zu binden!

    Zwischen dem Lagerhaus und dem Junghaus prangten zwei ungleiche Bauten: Da war das würfelförmige, graue Haus der Aufseher aus der Nebelstadt zur Linken. Seit ich denken konnte, stand das Haus leer, und nur manchmal sah man den Dorfältesten hinaus huschen. Zur Rechten schließlich hatte Taglex kunstvoll das prächtige, stets herausgeputzte Haus des Dorfältesten Eisblut und dessen Frau Sameke in das Holz des Djekani getrieben. Hierhin lud er die anderen sieben Ältesten ein, um wichtige Entscheidungen zu besprechen und so viel Pfeife zu rauchen, dass man schon husten musste, wenn man im Freien an seinen Fensterläden vorbei lief. Ins Zentrum dieser Becherhälfte aber und inmitten der anderen Männer und Frauen, die auf dem Versammlungsplatz standen, hatte Taglex die acht Ältesten gestellt: In dicke Wolldecken eingewickelt ragten sie aus der Menge, doppelt so groß wie alle anderen, und hielten Tafeln und Schriftrollen in ihren Händen. Ihre Münder waren weit geöffnet, als ob sie ein Lied sängen. Aus den gleichförmig geschnitzten Männern und Frauen stach nur Doyi, der Schmied, mit seinem ältesten Kind Yagtagyi, hervor. Man erkannte ihn an seinem breiten Kreuz und dem Hammer über seiner Schulter. Auf der Westseite des Platzes konnte man Naßdi erkennen, den Thinlha-Bauern, mit seinem Sohn Daneschyi, und Naßdesch, den Schuster, mit seinem Sohn Daneschdi. Die Söhne hörten auf die Rufnamen Yi und Di und waren meine besten Freunde. Sie hingen gerne an den Händen ihrer Väter wie Kleinkinder, womit ich die beiden gerne aufzog. Wie alle Umstehenden auf dem Platz hielten sie eine freie Hand ans Ohr, um den Worten der Ältesten zu lauschen. Denn natürlich sangen diese nicht, sondern trugen Neuigkeiten aus dem fernen Ushrilh vor, der Nebelstadt, wie wir sie nannten, und erteilten Anweisungen.

    Das war ihre Aufgabe, denn so hatten es die Aufseher aus Ushrilh eingerichtet. Sie schickten uns Befehle und Neuigkeiten in ihrer Sprache, welche die Ältesten beherrschen mussten, um sie uns bei den morgendlichen Versammlungen zu übersetzen und zu erklären. Irgendwo draußen im Südwald, so hieß es, hausten vier von ihnen in einem grauen Kasten wie jenem in Ntho, um über uns zu wachen. Jedenfalls verschwand Eisblut dorthin, um ihre Nachrichten zu empfangen. Ich selbst hatte noch niemals einen leibhaftigen Aufseher gesehen. „Das willst du auch nicht, beteuerte Danex, der Wagenbursche, meinen Freunden und mir gegenüber, wenn wir ihn darauf ansprachen, „Sie sind ganz hässliche Wesen, keine Nek wie wir, sondern Echsen, so groß wie Nek und größer sogar, wenn sie sich voll aufrichten. Wo ihr Schuppenkleid weich ist, da tragen sie Panzer aus Eisen und anderen Stoffen, die sie schwarz und grün und bemalen, so wie die zwei Pyramiden, denen sie dienen. Das hässlichste sind aber ihre Fratzen: Ihre Mäuler sind lang und voller langer und scharfer Zähne und sie stinken wie zehn tote Fische! Wenn deine Nase dich nicht auf Abstand zu ihnen hält, dann tun es ihre Augen: gelb wie Eiter sind die und rund und groß wie Pflaumen. Wenn sie dich anstarren, dann stockt dir der Atem – da kannst du so tapfer sein, wie du willst!

    Meine Freunde und ich wussten nicht recht, ob man dem Wagenburschen Glauben schenken sollte. Er lebte in einem Schuppen in der Nähe des Südwaldes und war im Dorf nicht besonders beliebt. Doch immerhin durfte er als einziger unsere Grenzen überschreiten, um mit seinem Wagen Abgaben in die Nebelstadt im Süden zu bringen. Manchmal gelang es mir, und er ließ sich breitschlagen, von der großen Stadt zu erzählen. Wenn Neugierde und Misstrauen in mir miteinander rangen, siegte meist die Neugierde! Und Danex hatte als einziger von uns Jüngeren jene Doppelpyramide gesehen, die schwarze und die grüne, die den Innenboden meines Djekani zierte. Die zwei Pyramiden, um deren Spitze sich eine Schlange wand, waren das Wahrzeichen Ushrilhs und auf jedem Djekani an derselben Stelle zu finden. Wann immer wir unsere Becher leerten, erinnerten sie uns an unsere Herren.

    So hatte der alte Taglex es in das dunkelbraune Nussbaumholz getrieben und so hatte Eisblut mir an meinem Schanŭar, dem ‚Wasser-Tag‘, den Djekani überreicht und mich mit einer feierlichen Ansprache auf unsere Gemeinschaft eingeschworen:

    „Deine Eltern erreichten im Jahre 658 nach dem Teßirxål von Ushrilh mit mir und den übrigen Ausgewählten diesen Ort, der heute unser aller Heimat ist. Wir waren damals nur 64 Nek, und hier, am Südufer des Grünbachs, gab es nur grüne Wiese. Alles, was wir besaßen, waren die Vorräte, Werkzeuge und Fähigkeiten, die wir aus der Nebelstadt mitbekommen hatten. Die ersten drei Jahren schufteten wir am härtesten und die Götter waren uns gnädig. Sie schenkten uns milde Winter, sodass das Nordfeld, das ja heute dein Vater bestellt, schnell wieder gedieh und Früchte trug. Doch nicht nur Häuser und Halme wuchsen in die Höhe, sondern auch Freundschaften. Damals, als die Herren von Ushrilh uns an diesen Ort umsiedelten, ließ ein jeder von uns Freunde und Angehörige zurück. Doch wo alte Bänder durchgetrennt wurden, wurden neue geknüpft – und so dankten wir Mutter Erde und Vater Himmel für diesen Lohn unserer Mühen.

    Nicht jeder mühte sich freilich: Manch einer, ob nun aus Verbitterung oder schierer Faulheit, sah nicht ein, einen Beitrag für seine neue Gemeinschaft zu leisten, und ließ sich lieber die Sonne auf den Bauch scheinen. Viele von uns waren schließlich noch sehr jung und unerfahren! Manch junges Mädchen flocht sich lieber Blumen ins Haar als warme Kleider zu schneidern, und so manch junger Mann bestaunte lieber die Haartrachten der jungen Mädchen, als mitzuhelfen, die Trümmersteine vom Nordufer abzutragen!

    Dann aber kamen die fünf Jahre, die deine Eltern und alle, die sie erlebten, wohl niemals vergessen werden: Ganze fünf Monde blieb der Boden jedes Jahr gefroren und das Lächeln des Sommers verließ uns, bevor es wirklich begonnen hatte. Winde bliesen wie scharfe Klingen, während manche Häuser noch immer ohne Dach waren und einige noch in den Zelten hausten, in denen sie angereist waren! Es waren Jahre des Hungers und der Tränen. Auch der Frühling vermochte niemandem von uns Hoffnung zu schenken, denn alles, was er freigab, waren verfaulte Wurzeln im kalten Erdreich.

    Und so gingen mehr Spaten zu Bruch beim Schaufeln von Gräbern als beim Umgraben der Beete. Doch im Angesicht von Hunger und Tod blieb keiner mehr tatenlos: Jeder packte an. Die Männer schleppten unermüdlich Mauersteine aus der verlassenen Siedlung herbei, die jungen Frauen rissen sich ihre Hände auf beim Schneiden von Schilf – bis jeder Nek ein Haus besaß und jedes Haus ein Dach. Die Kinder, die in den ersten Jahren unserer neuen Gemeinschaft das Licht der Welt erblickten, gaben uns Mut und Entschlossenheit. Als das erste Lagerhaus fertig war, beschlossen wir folgerichtig, dort statt der kärglichen Vorräte unseren Nachwuchs vor der tödlichen Kälte zu schützen – und es ist bis heute der Hort für die Jüngsten geblieben."

    Ich war mitten im Winter geboren, und so blies auch an meinem Schanŭar ein eisiger Wind um die rote Filzdecke, die Eisblut zu feierlichen Anlässen trug. Seine Augen, die stets das ganze Dorf im Blick zu haben schienen, ruhten nur auf mir, während er im Kreise meiner Eltern, Freunde und aller Versammelten zu mir sprach. Seine Stimme konnte schneiden wie eine Rasierklinge, streicheln wie eine Feder, anstacheln wie ein Dutzend Trommeln und beruhigen wie das Rauschen des Meeres – doch seine dunkelblauen Augen unter den ernsten weißen Brauen taten stets alles auf einmal. Wie er sich seinen Rufnamen erworben hatte, dazu hatte jeder Nek seine eigene Vermutung – doch niemand nannte den Ältesten bei seinem offiziellen Namen Yi. Dem Brauch gemäß füllte er zuerst meinen Djekani, dann seinen und schließlich eines jeden Djekani, der anwesend war; das waren nicht viele: Di und sein Vater standen bei meinen Eltern, Yis Vater hatte seinen Sohn allein geschickt, weil es ihm zu kalt war. Doyi nahm pflichtbewusst wie immer teil, und auch seinen Sohn Yagtagyi hatte er mitgebracht, um diesem zu zeigen, was bald auf ihn zukommen würde. Die besten Freunde meines Vaters waren zugegen und die Enkelinnen des Dorfältesten hatten die Kinder aus dem Junghaus zusammengetrommelt, denn ein Schanŭar war für sie eine willkommene Abwechslung. Die Ältesten, Taglex eingeschlossen, kamen bibbernd aus Eisbluts Tafelstube hervor, als Eisblut mir seiner Rede begann. Mit etwas Verspätung und reichlich verlegen war auch Tax, der alte Gärtner, dazugestoßen. So war ich umgeben von nur einem kleinen Teil der Gemeinschaft, doch von allen, die mir wichtig waren, als der Dorfälteste seine Ansprache beendete:

    „So hielten wir es mit Vielem, was wir uns in der Not hatten einfallen lassen, denn nur mit Fleiß und Gemeinsinn hatten wir uns in diesen schweren Jahren behauptet gegen die Kälte; ja, auch dein Vater fand in Tagdex und Neschdex treue Freunde bis zum heutigen Tage, da wir dich aufnehmen in den Kreis der tüchtigen Männer von Ntho! Lasst uns anstoßen auf Yag aus Ntho!"

    Dies war die Geschichte, die mein Djekani über mich, den sechzehnjährigen Nek, und mein Dorf zu erzählen hatte. Vater nannte mich einen Traumtänzer. Manche der Burschen von den Feldern riefen mich ‚Blindfisch‘, weil sie mich noch vor zwei Jahren dabei ertappt hatten, wie ich ein altes Spiel aus Kindheitstagen spielte: Als der blinde Seher Tāto tappte ich mit geschlossenen Augen durch Ntho. Tāto war ein Held aus einer der vielen Geschichten des alten Gärtners Tax. Ich kannte sie ebenso gut auswendig wie die vielen Gassen, Hauswände und Winkel von Ntho – und so hatte ich ein Spiel daraus gemacht, mit der Mühelosigkeit des blinden Sehers durch das Dorf zu wandeln. Die derben Mutproben und Raufereien der Feldburschen hatten mich noch nie gereizt, und auch dem Pflichtbewusstsein der erwachsenen Nek und den festlichen Bräuchen zog ich Spiele und Geschichten vor – bis zu dem Tag, als Eisblut mir meinen eigenen Djekani überreichte. „Dein Wasser-Tag wird wahrlich ein Sprung ins eiskalte Wasser", hatte Vater bemerkt; Ich gestand mir nur ungern ein, dass er Recht behalten sollte.

    Die Heimat, wie mein Djekani sie zeigte, endete an der Umzäunung von Ntho. Die Grenzsteine, welche die Aufseher in Richtung Norden und Süden aufgestellt hatten, waren dagegen jeweils zwei Stunden vom Dorf entfernt. Außerhalb dieser Grenzen lag im Osten der verbotene Wald, und dahinter ragte wolkenverhangen das Graugebirge in den Himmel. Vom Süden her führte die weiße Straße der Aufseher über den Grünbach. Vorbei an der Mühle, dem Kehrsee und dem Berg Dosard lief sie weiter gen Norden – wohin, wusste ich nicht. Aus dem Graugebirge im Osten entsprang der Grünbach, umfloss unser Dorf im Nordwesten, bis er hinter den Ausläufern des Südwaldes schließlich ins Meer führte. Er speiste sich von den eisigen Gipfeln der Berge, sodass er im Sommer laut und munter gurgelte und schmatzte und schäumend ins Meer brauste, im Winter hingegen sich in sein Haus in den Bergen zurückzog. Dann kroch er als kümmerliches Rinnsal durch sein schlammiges, dunkelgrünes Flussbett dahin. Im Norden verlief er durch einen schmalen Waldstreifen, wo er die Trümmer des alten Ntho von Vaters Feld trennte. Zwischen Vaters Feld und dem Dorf lag nur noch der Gartenhügel des alten Tax, der hier Obst, Gemüse, Kräuter, Blumen und Setzlinge anbaute und den Kindern, die er leiden mochte, Geschichten erzählte.

    Für uns Jüngere, die die fünf Winter nicht miterlebt hatten, war die verlassene Siedlung im Norden ein hervorragender Spielplatz, und wenn der Grünbach uns passieren ließ und es schneite, trugen sich hier wilde Schneeballschlachten zu. Die Wassermühle am Fuße des Dosard gehörte eigentlich zu eben jener alten Siedlung, doch sie war von Eisblut und den anderen Gründern des neuen Ntho wieder instandgesetzt worden und wurde seither von Neschdi, dem Müller, bedient und gepflegt. Neschdi war ein hagerer und boshafter Nek, der, seit ich denken konnte, keinen Fuß in das Dorf gesetzt hatte.

    Als ich nun meinen Djekani erhielt und der erwachsene Yag das Kind Yag ermahnte, einen Beitrag zu leisten, etwas zu tun, was keiner tun wollte, da fielen mir die Legenden über Balk, den Müllersjungen

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