Coloman
Von Ralf Lothar Knop
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Buchvorschau
Coloman - Ralf Lothar Knop
Vatermord
Ralf Lothar Knop
Coloman
Roman
Für meinen Vater, der mir mein Leben gegeben und genommen hat.
They give birth astride of a grave,
the light gleams an instant,
then it’s night once more.
Samuel Beckett
Jeder Mensch sucht sich seine Eltern selbst aus.
Wenn dieser Satz, den sein Vater ihm immer wieder um die Ohren gehauen hat, stimmen würde, warum hat er dann seinen eigenen Vater erschlagen, warum liegt sein Vater jetzt vor ihm in seinem eigenen Blut? Und warum versucht er zu vergessen, dass er sein Vater war?
Sein Vater hatte auf jede Frage eine Antwort, und doch blieben so viele Fragen unbeantwortet, weil alle seine Antworten für die Ewigkeit waren. Jeder Mensch sucht sich seine Eltern selbst aus. Als ob das auch nur ein einziges seiner Probleme gelöst hätte oder ihm wenigstens den Weg gezeigt hätte.
Der Weg ist das Ziel.
Auch diese Weisheit haute sein Vater ihm fast täglich um die Ohren. Der Weg ist das Ziel, als ob er auch nur einen einzigen Tag davon hätte leben können. Es gibt so viele Wege und kein einziger schien der richtige für ihn zu sein. Wer sagte ihm denn nur, welchen Weg er gehen soll? Wer? Wer? Wer?
Verreckt ist er wie ein Hund. Verreckt, weil er ihn nicht mehr ertragen konnte mit all seiner Weisheit und all seiner Erbärmlichkeit. Hatte er tatsächlich noch gesagt: „Ich liebe dich? Aber warum hatte er das denn niemals zu seinen Lebzeiten gesagt? „Drück beim Gehen die Knie durch
, das war der größte Liebesbeweis, an den er sich erinnern konnte. Er musste sich getäuscht haben, es muss ihm doch bewusst geworden sein, dass es sein Sohn war, der ihn da erschlug, sein eigener Sohn.
Stets hatte er versucht, allen einzureden, dass er nur an die anderen denke, obwohl es für ihn doch nichts Wichtigeres gab als ihn selbst.
Nimm dich nicht so wichtig.
Das sagte ausgerechnet er, der immer und überall im Mittelpunkt stehen musste und der auch nicht die geringste Kritik an seiner eigenen Person duldete, ohne dem anderen das Gefühl zu vermitteln, dass er soeben ein schweres Vergehen begangen hatte.
Oh ja, das konnte er. Reden konnte er. Er war ein Meister der Rhetorik. Viele Menschen hörten ihm gerne zu, weil er es verstand, für alles so treffende und vor allem beeindruckende Ausdrücke zu finden, ohne dass er lange nachdachte. Es gab nur wenige, denen seine argumentativen Taschenspielertricks auffielen, die merkten, wenn er sie argumentativ übers Ohr gehauen hatte, weil er die Sprache wie eine Klaviatur beherrschte und weil er mit der Sprache und den Menschen nur spielte.
Und nun lag er da und sagte kein einziges Wort. Die Sprache ist ihm im Halse verreckt. Er hat sein Ziel erreicht.
Der Weg war zu Ende.
Der Anfang
Von Anfang an hat Coloman jeden Druck, den andere Menschen auf ihn ausübten, abgelehnt. Es war Heiligabend, als er zum ersten Mal zur Gegenwehr ansetzte. Als seine Mutter versuchte, ihn mit einem enormen Druck in diese Welt zu pressen, hat er seine Nabelschnur mit seiner Faust so fest gegen den Hals gedrückt, dass er keinen Sauerstoff mehr bekam. Als die Hebamme merkte, dass sich sein Herzschlag verringerte, hat sie seine Mutter aufgefordert, den Druck zu erhöhen, sodass sein Widerstand schließlich zusammenbrach. Immerhin hatte er es geschafft, vollkommen blau in diese Welt zu treten, aber die Hebamme verführte ihn mit einer sanften Massage dazu, diese Welt einzuatmen.
Nachdem es ihm Heiligabend nicht gelungen war, seinen Auftritt in dieser Welt zu verhindern, unternahm er schon am Neujahrsmorgen einen weiteren Versuch, diese Welt wieder zu verlassen, indem er sich schwere Verbrennungen zuzog. Auf der endlosen Fahrt ins Krankenhaus gab er trotz ungeheurer Schmerzen nur ein ganz leises Wimmern von sich, denn er wollte auf keinen Fall irgendein Mitleid.
Auch in seinem späteren Leben hat er immer wieder große Schmerzen ertragen, ohne zu klagen, immer wieder hat er sich wie ein verletztes Tier verkrochen. Oft wollte er sich in seinem Vater verkriechen, aber der wollte nicht von ihm berührt werden, denn für seinen Vater war nichts so unerträglich wie eine Berührung, sodass auch Coloman schließlich jedem sagte: „Halte dich aus meinem Leben raus."
Im Krankenhaus führte man ihm eine Infusionsnadel in seinen Kopf und wieder konnte er sich nicht dagegen wehren, dass man ihm etwas einflößte, um ihn am Leben zu halten. Bis heute hat er nicht verstanden, warum Menschen immer wieder glauben, sie müssten etwas in ihn hineinstopfen, damit er ein richtiger Mensch wird, also damit er so wird, wie die anderen ihn haben wollen.
Jeden Abend kam sein Vater ins Krankenhaus, setzte sich neben sein Wärmebett und streichelte ihn ganz sanft. Warum hat er das später nie wieder gemacht? Warum glaubte auch er, dass sein Sohn ein Objekt sei, das man formen müsse?
Drück die Knie durch beim Gehen!
Das mache ich doch.
Nein, das machst du nicht.
Sogar die Art, wie er zu gehen hatte, wollte sein Vater ihm vorschreiben: „Es kommt auf die Gangart in deinem Leben an, nur mit der richtigen Gangart kannst du erfolgreich sein!" Aber er wollte ja gar nicht erfolgreich sein, er wollte einfach nur leben, sein Leben leben, sein eigenes Leben, das doch nur ihm gehörte und nicht seinem Vater. Warum hat sein Vater also immer wieder versucht, es ihm wegzunehmen?
Es gab überhaupt nur ein einziges Geschenk von seinem Vater, an das Coloman sich erinnern konnte; während eines Urlaubs hatte sein Vater einmal mit ihm Fußball gespielt, das hatte ihn so glücklich gemacht, dass er sich noch jahrelang daran erinnert hat und es ihm jedes Mal ein wohliges warmes Gefühl vermittelte.
In demselben Urlaub geschah außerdem etwas, wodurch sein Vater ihm plötzlich so menschlich erschien. Als sein Vater nämlich auf einem Parkplatz gegen ein Verkehrsschild gefahren war, musste Coloman vor Freude lachen und für einen kurzen Augenblick empfand er so etwas wie Liebe für seinen Vater.
Auf der anderen Seite gab es jedoch so unendlich viele Erinnerungen an die Bestrafungen für irgendwelche Vergehen, die Coloman begangen hatte. Jedes Mal legte er Coloman über seinen Schoß und schlug mit der flachen Hand auf seinen Hintern. Natürlich merkte Coloman sehr schnell, dass sein Vater so lange schlug, bis Coloman zu weinen anfing. Nun hätte Coloman sich das zu Nutzen machen können, indem er sofort anfing zu weinen, aber dies ließ sein Stolz einfach nicht zu.
Es entwickelte sich ein regelrechter Machtkampf zwischen Coloman und seinem Vater: jedes Mal nahm Coloman sich vor, auf keinen Fall zu weinen, denn sein Vater hatte ihm schließlich gesagt, dass Männer nicht weinen dürfen. Das hatte zur Folge, dass sein Vater immer heftiger und immer länger zuschlug, bis Coloman diesen Machtkampf mal wieder verlor und in Tränen ausbrach. Es waren nicht die Schmerzen, die Coloman noch tagelang beschäftigten, sondern das Gefühl, mal wieder versagt zu haben.
Seinem Vater wäre es niemals in den Sinn gekommen, Coloman aufs Gymnasium zu schicken, vielmehr war es Coloman, der seinem Vater mitteilte, dass er sich für die Aufnahmeprüfung am Gymnasium angemeldet hatte, worauf sein Vater erwiderte: „Wenn du zu dumm fürs Gymnasium bist, musst du eben mit Schüppe und Hacke arbeiten!"
Auch für die gelegentlichen schlechten Leistungen in der Schule hatte sein Vater einen Satz parat, den Coloman in seinem späteren Leben immer wieder von ihm zu hören bekam: „Du stinkst vor Faulheit!" Deshalb hörte Coloman schließlich auf, seinen Vater über irgendetwas zu informieren, er liebte ihn nicht und sein Vater liebte ihn auch nicht. Aber es war Coloman gar nicht wichtig, ob sein Vater ihn liebte, er wollte von ihm nur ein einziges Wort der Anerkennung. Dafür hat er sein Leben lang gekämpft und als er seine Niederlagen nicht mehr ertragen konnte, gab es nur noch einen einzigen Ausweg.
Der Prozess
Nachdem Coloman bei der Polizei angerufen hatte, dauerte es etwa eine viertel Stunde, bis die Beamten an der Tür klingelten. In dieser Zeit saß er besinnungslos auf einem Stuhl und starrte die Leiche seines Vaters an. Manchmal kam es ihm vor, als würde sein Vater wieder atmen, doch jedes Mal hatte er sich nur getäuscht.
Allmählich überfiel ihn eine Traurigkeit, nicht etwa, weil sein Vater tot war, sondern weil sich in ihm die Erkenntnis ausbreitete, dass es nie wieder eine Chance geben würde, von seinem Vater ein Lob, eine Anerkennung zu bekommen. Coloman hatte das Gefühl, dass sein Vater selbst im Tode noch grinste, so als wollte er sagen: „Du hast es wieder mal nicht geschafft, du bist einfach zu dumm."
Die Polizeibeamten nahmen ihn mit auf die Wache, wo sie ein Protokoll zu seinem Geständnis anfertigten. Nur sehr selten gab es einen Fall, der nicht nur klar und eindeutig war, sondern wo auch der Tatverdächtige bereitwillig ausführlich alle Einzelheiten seiner Tat darstellte.
Da Coloman es ablehnte, einen eigenen Verteidiger zu benennen, wurde er in der Untersuchungshaft von einem Pflichtverteidiger besucht, dem er aber immer wieder nur sagte, dass er der Polizei bereits alles erzählt habe. Sein Verteidiger schlug vor, ein psychologisches Gutachten anfertigen zu lassen, aber auch das lehnte Coloman ab. Bevor sein Verteidiger ihn wieder verließ, bat er Coloman nur noch, im Prozess außer zu seiner Person keine weiteren Aussagen zu machen.
Bis zum ersten Verhandlungstag seines Strafprozesses verging fast ein halbes Jahr, in dem Coloman nur zu sehr wenigen Menschen Kontakt hatte, niemand besuchte ihn in der Justizvollzugsanstalt. Wer hätte ihn auch besuchen sollen, Freunde hatte er keine und den Kontakt zu Verwandten hatte er schon vor langer Zeit abgebrochen. Die zweite Ehefrau seines Vaters, seine Mutter war schon vor vielen Jahren gestorben, hatte natürlich auch kein Interesse daran, ihren Stiefsohn, den Mörder ihres Ehemannes, zu besuchen. Die meiste Zeit lag Coloman in seiner Zelle auf der Pritsche und starrte an die Decke, sein Kopf war vollkommen leer und auch seine Gefühle hätte er nicht beschreiben können.
An einem trüben Nachmittag, es kam kaum noch Tageslicht durch das winzige Zellenfenster, hatte Coloman eine Vision:
Ich bin endlich frei, meinen Gedanken sind keinerlei Grenzen in dieser Welt gesetzt, also kann ich auch vollkommen mühelos mit meinen Gedanken durch die Wand neben meiner Pritsche dringen und in der Zelle neben meiner umhergehen.
Tatsächlich gelang ihm dies und er schaute sich in Ruhe in seiner Nachbarzelle um. Diese Zelle war genauso wie seine eigenen aufgeteilt, auf der Pritsche lag ein etwa fünfzig Jahre alter Mann, sein Gesicht war aufgedunsen, die Augen fast zugeschwollen. Überhaupt schien er körperlich in einer sehr schlechten Verfassung zu sein, was durch seine heruntergekommene Kleidung noch unterstrichen wurde, außerdem war sehr deutlich zu erkennen, dass er sich eingenässt hatte. Der Mann lag fast regungslos auf seine Pritsche, allerdings zitterte er am ganzen Körper.
Auf dem an der gegenüberliegenden Wand stehenden Tisch waren Essensreste verteilt und die Toilette, die in einer Ecke hinter einer halbhohen Mauer stand, war vollkommen mit Kot verschmiert. Voller Mitleid betrachtete Coloman seinen Zellennachbarn, bevor er wieder in seine eigene Zelle zurückkehrte.
Wenn ich in Gedanken durch eine Wand in meine Nebenzelle gehen kann, dann muss es auch möglich sein, meinen Vater in seinem Haus zu besuchen.
Tatsächlich stand Coloman nun vor dem Haus seines Vaters, er ging die steile Auffahrt hinauf zur Haustür, doch er konnte sie nicht öffnen. Deshalb ging er um das Haus herum, betrachtete eine Weile das große Grundstück mit seinen vielen Obstbäumen und ging dann zur Terrassentür, doch auch hier konnte er nicht in das Haus gelangen.
Schließlich versuchte er auch noch, mit seinen Gedanken durch die Wand des Hauses zu seinem Vater zu gelangen, doch auch dies gelang ihm nicht. Als er versuchte, wenigstens durch das große Wohnzimmerfenster einen kurzen Blick in das Haus zu werfen, musste er feststellen, dass dieses Fenster vollkommen undurchsichtig war, sodass er schließlich aufgab und in seine Zelle zurückkehrte.
Am nächsten Abend fragte Coloman sich erneut, warum er