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Versehentliche Offenlegung: Ein Sasha McCandless Justizthriller, #2
Versehentliche Offenlegung: Ein Sasha McCandless Justizthriller, #2
Versehentliche Offenlegung: Ein Sasha McCandless Justizthriller, #2
eBook380 Seiten4 Stunden

Versehentliche Offenlegung: Ein Sasha McCandless Justizthriller, #2

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Über dieses E-Book

Die kleine quirlige Sasha McCandless kehrt in der gefeierten Fortsetzung von Irreparabler Schaden zurück.  

 

Eigentlich sollte es nur ein routinemäßiges Feststellungsverfahren sein. Pech gehabt!  

 

Als Sasha wegen eines Antrags auf Beweismittelvorlage ins ländliche Clear Brook County reist, ernennt sie der Richter zur Pflichtverteidigerin eines wütenden älteren Herrn, der kurz vor einer Anhörung zur Feststellung seiner Geschäftsfähigkeit steht. Dann wird sie von einer Gruppe Umweltaktivisten überfallen, die sie fälschlicherweise für eine Führungskraft der Öl- und Gasindustrie halten. Sie erfährt schnell, dass die Meinung zum Thema Fracking der Marcellus-Formation in der Gemeinde stark gespalten ist und Fremden gegenüber misstrauisch ist. 

 

Sie wünscht sich nichts Sehnlicheres, als ihren Auftrag zu erledigen, damit sie diesen Ort für immer verlassen kann.  Plötzlich wird der einzige Richter der Stadt ermordet und man lässt sie nicht gehen. 

 

Während sie vor dem Hintergrund von Kleinstadtgeheimnissen, Hinterzimmergeschäften und Korruption auf der Suche nach dem Mörder ist, droht die Stadt völlig aus den Fugen zu geraten.

 

SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum3. Juli 2022
ISBN9798201828769
Versehentliche Offenlegung: Ein Sasha McCandless Justizthriller, #2

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    Buchvorschau

    Versehentliche Offenlegung - Melissa F. Miller

    1

    Firetown, Pennsylvania

    Der heutige Tag

    Montag, 4.30 Uhr.

    Jed Craybill starrte an die Decke und wartete. Hohe orangefarbene Flammen ragten in den Himmel und spiegelten sich in seinem Schlafzimmerfenster wider. Die Gasfackeln zischten so laut wie ein Flugzeug. Mit jedem Zisch zitterten die Dielen und sein Bett ruckelte zurück, bis das Kopfteil an der Wand hinter ihm anstieß.

    Er hatte diese Nacht schon seit Monaten kommen sehen: Nach der Fertigstellung eines Bohrlochs begann stets das kontrollierte Abfackeln von Oberflächengas. Das Feuer würde tagelang, nächtelang brennen, vielleicht sogar länger als eine Woche. Gleichzeitig erfüllte der Geruch von Methan den Himmel wie eine tief hängende Wolke und drang durch seine Wände.

    Das Gasunternehmen war seit dem Herbst damit beschäftigt, ein Bohrloch am Rande des Nachbargrundstücks auszuheben. Zunächst war es das unaufhörliche Gebrumme der Kettensägen, die die alten Walnussbäume fällten. Dann die Holzhackmaschinen. Als Nächstes kamen die Bulldozer und mit ihnen die riesigen Scheinwerfer, sodass sie die ganze Nacht durcharbeiten, um die Erde zu bewegen und einzuebnen. Lastwagen rumpelten die Straße entlang, Getriebe wurden eingelegt, Türen knallten, laute Stimmen, die sich etwas zuriefen, und das rund um die Uhr. Alle arbeiteten auf den heutigen Tag hin.

    Er war nur froh, dass es Marla nicht mehr erlebt hatte. Sie hatte immer einen leichten Schlaf gehabt. Bei dem leisesten Geräusch, sogar vom Wind in den Bäumen, wachte sie auf. Gegen Ende war die einzige Erholung, die sie hatte, ein tiefer Schlaf.

    Er war das genaue Gegenteil. Selbst die Fackeln mit ihren Geräuschen, dem Licht und Gestank konnten ihn nicht wecken, sobald er eingeschlafen war. Aber er hatte größere Probleme als diese idiotischen Nachbarn, die es zugelassen hatten, ihr Gelände von dem Gasunternehmen umpflügen zu lassen und er konnte seinen Geist einfach nicht zur Ruhe bringen.

    Er lag da und wartete darauf, dass die schwache Aprilsonne über den Bergen aufging und den Himmel in eine blassrosa Farbe verhüllte. Dann duschte er, zog sich an, um seine Mission anzutreten.

    2

    Gerichtsgebäude Clear Brook County

    Springport, Pennsylvania

    Montagmorgen


    Richter Paulson starrte von der Bank auf den Anwalt herab, der Sasha McCandless’s Antrag zur Offenlegung von Beweisen zurückwies.

    »Das Gericht wird ein solches Verhalten nicht länger dulden, Mr Showalter. Ihr Mandant wird bis zum Ende dieser Woche die elektronische Nachricht vorlegen, und zwar in digitalem Format oder er wird wegen Missbrauchs der Beweispflicht mit einer Geldstrafe belegt. Ist das klar?«

    Drew Showalter nickte, blickte dem Richter aber nicht in die Augen. »Kristallklar, Euer Ehren.«

    Der Richter wandte sich an Sasha. »Noch etwas, Ms McCandless?«

    Sie warf einen Blick auf ihren Notizblock. Sie hatte alle Punkte durchgearbeitet und sie gewonnen. Aber sie sah keinen Grund, eine solche Gelegenheit auszulassen. Sie stellte sich mit ihren gesamten eins einundfünfzig vor ihn und sagte: »Euer Ehren, VitaMight bittet das hohe Gericht, ihr die Anwaltshonorare und Spesen für die Vorbereitung und Vorbringung dieses Antrags zuzusprechen.«

    Vielleicht könnte sie den gewerblichen Vermieter von VitaMight dazu bringen, die Spesen für ihre Vorbereitungsarbeit zu übernehmen, ganz zu schweigen von den über sieben Stunden Hin- und Rückfahrt, die er ihr für die Reise nach Nord-Pennsylvania zahlen müsste, um den Antrag zu stellen. VitaMight wäre beeindruckt.

    Judge Paulson war es weniger.

    »Nun werden wir mal nicht gierig, Ms McCandless. Abgelehnt. Hiermit ist die Sache erledigt, Frau Anwältin.«

    Er machte aber dennoch keine Anstalten, die Bank zu verlassen.

    Showalter zog den Kopf ein, klemmte sich seinen einzigen Aktenordner unter den Arm, eilte an Sasha vorbei und murmelte, er würde ihr die Dateien zukommen lassen.

    Sasha lächelte, genoss ihren Sieg, während sie ihre Schnellhefter und die Notizblöcke wieder in ihre Ledertasche packte.

    Sie hielt inne und dachte darüber nach, dass Showalters Plädoyer nicht so lächerlich schlecht gewesen wäre, wenn er seiner Vorbereitung mehr Bedeutung beigemessen hätte, anstatt Wert auf wenig Papierkram zu legen. Seine Behauptung, dass sein Mandant, ein Investmentfonds für Gewerbeimmobilien mit verschiedenen Holdings, nicht in der Lage sei, seine E-Mails zu durchsuchen, war eine ziemlich pathetische Verteidigung. Nahezu genauso pathetisch wie die abrupte Entscheidung seines Mandanten, VitaMights langfristigen Mietvertrag für ein Vertriebszentrum zu kündigen.

    Und dieser unchristliche Gedanke wurde ihr zum Verhängnis, wie sie später feststellte.

    Wenn Sie nicht so lange am Anwaltstisch stehengeblieben wäre und ihre Unterlagen einfach nur in die Tasche zurückgesteckt und den Gerichtssaal ein paar Minuten früher verlassen hätte, wäre sie nicht diesem rotgesichtigen, alten Mann begegnet, der durch die große Eichentür schlurfte. Aber sie hatte die Gelegenheit verpasst.

    Als er durch die Absperrung ging, welche die Zuschauergalerie vom Gerichtssaal trennt, hatte sie das Pech, direkt in der Sichtlinie von Richter Paul zu stehen.

    »Harry, du alter Bastard! Was soll das da?« Der ältere Herr durchquerte den Gerichtssaal und wedelte mit einer Handvoll Papieren in Richtung Richterbank.

    Der Deputy, der an der Wand neben der amerikanischen Flagge lehnte, machte eine halbherzige Bewegung zu seiner Pistole, aber der Richter winkte ihn zurück.

    »Mr Craybill! Treten Sie bitte zurück!« Richter Paulson beugte sich vor und warnte ihn, aber der alte Mann ließ sich nicht aufhalten.

    »Ich bin genauso wenig geschäftsunfähig wie du. Wer ist hierfür verantwortlich?«

    Richter Paulson sah Sasha an und deutete dem Mann an, zu schweigen.

    »Mr Craybill, haben Sie einen Anwalt?«

    »Was?«

    »Einen Rechtsanwalt, der Sie bei Ihrer Anhörung im Betreuungsverfahren vertritt, Jed.«

    »Das weißt du doch verdammt gut, dass ich mir keinen Anwalt leisten kann, du Nichtsnutz …«

    Richter Paulson ignorierte diese Beleidigung und sagte: »Ms McCandless, herzlichen Glückwunsch. Das Gericht ernennt Sie hiermit zum Rechtsbeistand des hier anwesenden Mr Craybill. Sie werden ihn bei seiner Anhörung zum Antrag des Countys vertreten, ihn als geschäftsunfähig erklären zu lassen und ihm einen rechtlichen Betreuer zu bestellen, der seine Angelegenheiten für ihn regelt.«

    Sie öffnete den Mund zum Protest und Craybill wirbelte herum, um sie anzustarren.

    Er drehte sich wieder zur Richterbank um und sagte: »Die da? Die ist doch noch nicht einmal alt genug, um Anwalt zu sein, schau sie dir verdammt noch mal an.«

    Sashas Wangen brannten, aber sie nahm die Gelegenheit beim Schopf und konterte.

    »Euer Ehren, es hört sich so an, als ob Mr Craybill nicht sehr von ihrer Ernennung begeistert ist. Und ganz ehrlich gesagt, Euer Ehren, ich habe keine Erfahrung in Altenrecht. Das, verbunden mit der Tatsache, dass mein Büro fast vier Autostunden von Pittsburgh entfernt ist, führt mich zu der bedauernswerten Ablehnung ihres freundlichen Angebots.«

    »Das ist kein Angebot, Ms McCandless. Es ist ein Befehl. Der alte Jed hier kriegt sich schon wieder ein. Er entschuldigt sich vielleicht sogar dafür, Sie beleidigt zu haben.« Der Richter starrte sie über seine Halbmondbrille an.

    Sie hielt gerade noch einen tiefen Seufzer zurück. »Ja, Euer Ehren.«

    Der Richter drehte sich zu dem alten Mann um und sagte: »Nun entschuldigen Sie sich bitte bei Ihrer neuen Anwältin, Jed.«

    Der Mann brummelte etwas, das eine Entschuldigung hätte sein können, obwohl Sasha überzeugt davon war, irgendwo darin ›Federgewicht‹ und ›Kind‹ vernommen zu haben.

    Mit sich zufrieden, streckte der ehrenwerte Harrison Paulson seine Beine aus und stand in seiner vollen Körpergröße von fast einem Meter fünfundneunzig auf. Er machte sich auf den Weg zu seinem Arbeitszimmer.

    »Euer Ehren«, sagte Sasha als er wegging, »wann muss ich wieder zur Anhörung zurück sein?«

    Sie hätte diese Antwort wohl auch von ihrem neuen Mandanten erhalten können, aber sie hoffte, dass ihr der Richter eine Vertagung gewähren würde, wenn die Anhörung in weniger als zwei Wochen wäre.

    Stattdessen schaute er auf die Uhr, drehte sich wieder zu ihr um und antwortete:

    »In etwa einer Stunde.« Er eilte durch die Tür und verschwand in seinem Arbeitszimmer, während sie versuchte, ihren Mund wieder zuzuklappen.

    Sashas neuer Mandant setzte sich auf den leeren Stuhl am Anwaltstisch und warf den Antrag, ihn als geschäftsunfähig erklären zu lassen, vor Sasha auf den Tisch, während sie immer noch auf den leeren Richterstuhl starrte.

    Eine Stunde? Wie sollte sie sich innerhalb von einer Stunde auf eine Anhörung im Betreuungsverfahren vorbereiten? Sasha war stolz auf ihre übliche Gelassenheit im Gerichtssaal. Aber ihr ruhiges Blut kam daher, weil sie sich immer unglaublich gut vorbereitete. Bei den üblichen Fällen, die sie bearbeitete, gehörte der Sieg dem Anwalt der Partei, der sich am besten vorbereitet hatte. Also bestand ihre Rolle darin, ihren Fall so lange vorzubereiten, bis sie sicher war, dass sie jedes unvorhersehbare Problem behandeln, jede mögliche Frage des Richters beantworten und über jeglichen Zweifel des Arguments ihres Mandanten erhaben sein konnte und noch mehr. Eine Stunde war kaum Zeit genug, um den Antrag mit den Ausführungen zu lesen und zu verarbeiten. Sie sah auf die Uhr. Neunundfünfzig Minuten.

    Sie setzte sich auf den leeren Stuhl und überflog den Einführungsabschnitt des Antrags, um die Gesetzesbestimmungen zu finden, unter denen das County agierte und tippte die Vorladung in ihren Blackberry ein. Sie überflog das Gesetz, las so schnell sie konnte, um das Wesentliche aufzufassen, ohne sich in den Details zu verlieren. Nachdem sie die Anforderungen verstanden hatte, die das County erfüllen müsste, um Craybill als geschäftsunfähig erklären zu lassen und einen Betreuer für ihn zu bestellen, schaltete sie ihr Handy aus und betrachtete den Mann neben ihr.

    »Kommen Sie, gehen wir etwas essen und Sie erzählen mir dabei, was los ist«, sagte sie, sammelte ihre Papiere und verließ den Gerichtssaal. Sie hatte Pittsburgh noch vor fünf Uhr morgens verlassen und nichts weiter im Magen als schwarzen Kaffee.

    Craybill begutachtete sie. »Wir haben keine Naturkostläden in der Stadt.«

    »Wie wäre es mit einem Imbiss, der den ganzen Tag über Frühstück serviert?«

    Er schaffte es zu einem winzigen Grinsen, als ob es ihm schwerfiel, zu lächeln.

    »Ja, wir haben einen Imbiss.«

    Er folgte ihr aus dem Gerichtssaal.

    3

    Der Imbiss war auf der anderen Seite des Platzes gegenüber dem Gerichtsgebäude. Craybill führte sie zu einer Nische mit einer abgenutzten Kunstlederbank an der Fensterfront des Gebäudes.

    Durch das verschmierte Glas beobachtete sie die späte Morgensonne in der Justitia, die auf dem Uhrenturm des Gerichtsgebäudes thronte, glitzerte. Sie schielte auf die Zeiger der Uhr.

    »Wir müssen in fünfundvierzig Minuten wieder im Gerichtssaal sein. Hat dieses Lokal eine schnelle Bedienung?«

    Er zuckte mit den Achseln und schaute sich um. »Sehen Sie hier einen Haufen Leute?«

    Sie waren die einzigen Kunden.

    Eine Kellnerin erschien mit dem Stift schreibbereit über dem Bestellblock. Auf dem Namensschild an ihrem weißen Hemd stand ›Marie‹. Sie murmelte ein Hallo und sagte:

    »Was darfs sein?»

    Sasha blickte sich auf dem Tisch um. Serviettenspender, Salz- und Pfefferstreuer und ein Plastikturm mit Zuckertütchen standen nebeneinander unter dem Fensterbrett. Keine Speisekarte.

    »Haben Sie keine Menüs?«

    Marie seufzte und begann mit einer Erklärung, die ihr nicht zu gefallen schien.

    »Nein, Liebes tut mir leid, haben wir nicht. Bob‘s Diner wechselt gerade den Besitzer. Das Café on the Square lässt wunderschöne Speisekarten drucken, um unsere neue, lokale, frische Küche hervorzuheben.«

    Craybill ließ ein trockenes Lachen heraus. Ein Blick von Marie und er verstummte.

    »Äh, okay«, sagte Sasha stürzte sich auf ein Frühstück, von dem sie vermutete, dass es in jedem Restaurant in Amerika serviert wurde. »Ich nehme ein Feta-Spinat-Omelett mit Vollkorntoast. Eine Scheibe Bacon.«

    Marie kritzelte alles auf den Block. Sasha fühlte sich, als ob sie gerade ein Examen mit Auszeichnung bestanden hätte.

    »Getränk?«

    »Kaffee. Und ein Glas Wasser.«

    Marie hörte auf zu schreiben. »Das Wasser hier wollen Sie bestimmt nicht haben, Schätzchen.«

    »Ach nein?«

    »Nein, bestimmt nicht. Unser Wasser hier ist braun und schmeckt nach Scheiße.«

    Craybill schluckte ein weiteres Lachen unter.

    »Oh. Dann will ich es nicht.«, stimmte Sasha zu. »Aber wird denn der Kaffee nicht auch mit diesem Wasser gemacht?«

    »Klar. Der schmeckt auch nach Scheiße, aber er muss ja sowieso braun sein. Wollen Sie?«

    Sie hatte kaum die Wahl. Wenn sie nicht ein wenig mehr Koffein in ihren Kreislauf bekäme, hätte sie innerhalb von einer Stunde Migräne.

    »Ja, okay.«

    Craybill gluckste bei ihrer Entscheidung und sagte dann zur Kellnerin: »Ich nehme Porridge. Sag diesem Säufer in eurer Küche, er soll ihn mit Milch zubereiten, sofort. Hast du mich verstanden? Und einen Orangensaft. Einen großen. Meine Anwältin zahlt.«

    Marie nickte ihre Zustimmung. »Dieses kleine Etwas da ist deine Anwältin, Jed? Wen verklagst du?«

    »Niemanden, Marie. Nur ein Missverständnis, aber wir müssen um elf Uhr vor Richter Paulson erscheinen, also sieh zu, dass wir unser Essen schnell auf dem Tisch haben, hörst du?«

    Marie steckte ihren Bestellblock in die Schürzentasche, schob den Stift hinters Ohr und ging in die Küche, ohne irgendwelche Versprechungen zu machen.

    »Was ist mit dem Wasser los?«, fragte Sasha ihren Mandanten.

    »Was?«

    »Das Wasser. Warum hat ein Ort wie Clear Brook County braunes, faulschmeckendes Wasser?«

    Craybill runzelte die Stirn. »Wollen wir jetzt übers Wasser oder über diesen beschissenen Antrag reden?«

    »Sicher, okay.«

    Sie wollte wirklich etwas über das Wasser erfahren. Als sie klein war, fuhren ihr Vater und ihre Brüder jedes Frühjahr zum Angeln an einen See außerhalb der Stadt, während Sasha und ihre Mutter in Pittsburgh zum Ballett gingen. Ihre Brüder kamen dann mit Kühltaschen voller Forellen und Fotos eines blauen glitzernden Wassers nach Hause. Aber ihr Mandant hatte recht, sie hatten keine Zeit zu verlieren. Sie musste diese Klage mit ihm durchgehen, – hauptsächlich, um selbst beurteilen zu können, ob er ihrer Meinung geschäftsunfähig war, wie es das Amt für Altershilfe in ihren Unterlagen behauptete. Sasha holte ihren Notizblock heraus und überflog ihre Notizen zu den Anforderungen, die erfüllt werden müssen, eine Person als geschäftsunfähig erklären zu lassen.

    »Verstehen Sie, um was es bei diesem Antrag geht?«

    Craybill nickte: »Ja, diese Rattenbastarde bei der Altenbetreuung im Sozialamt wollen mich in ein Heim stecken.« Zur Betonung klopfte er mit den Fingerknöcheln auf die Formica-Tischplatte.

    Sasha zuckte mit den Schultern. Er lag nicht weit daneben.

    »Nun, im Antrag steht, dass Sie allein leben und keine Erben haben. Stimmt das?«

    »Ja«, nickte er, als ihm Marie einen großen Hartplastikbecher Orangensaft vor die Nase stellte. Eine Untertasse mit einer gesprungenen weißen dampfenden Kaffeetasse folgte.

    Marie sah Sasha an. »Sie werden ihn bestimmt nicht so schwarz trinken wollen, Herzchen.« Sie stellte ein Milchkännchen neben die Kaffeetasse. »Ich komme gleich mit dem Essen wieder.«

    Craybill nahm einen großen Schluck Saft. Sasha betrachtete den Kaffee; zumindest sah es wie Kaffee aus. Sie nahm die Tasse hoch und schnupperte vorsichtig daran. Es roch wie Kaffee. Sie gab einen Schuss Kaffeesahne in die Tasse, nur für den Fall.

    »Also keine Kinder, Nichten, Neffen, niemand?«, fragte sie.

    »Richtig« bestätigte er. »Meine Frau Marla ist letztes Jahr gestorben. Wir hatten keine Kinder. Mein Bruder Abe, Gott sei seiner Seele gnädig, war, na ja, er war schwul. Marla hatte eine Schwester, aber sie redeten nicht miteinander, wegen Abe. Ich weiß nicht, ob sie noch lebt oder ob sie Kinder hatte, aber was mich anbelangt, bedeutet sie mir nichts. Nein, es gab nur mich und Marla.«

    Er schaute an ihr vorbei aus dem Fenster und lächelte vor sich hin. Sasha machte sich Notizen.

    »Wie heißt sie?«

    »Wer?« Er drehte sich abrupt zu ihr um, als ob er sie erschreckt hätte.

    Sie versuchte, die Ungeduld aus ihrer Stimme herauszuhalten. »Marlas Schwester.«

    »Das habe ich Ihnen gerade gesagt. Sie bedeutet mir nichts. Wenn sie überhaupt noch am Leben ist. Sie war nur eine kleinliche, engstirnige Hexe.«

    Sasha atmete langsam aus. »Hören Sie, ich verstehe durchaus, warum Sie und Ihre Frau jeglichen Kontakt mit ihrer Schwester abgebrochen haben, weil sie ein Problem mit der sexuellen Neigung Ihres Bruders hatte. Aber das County ist verpflichtet, alle bekannten erwachsenen mutmaßlichen Erben aufzulisten, und sie wurde nicht aufgeführt. Hat Marla ihre Schwester enterbt?«

    »Ja. Das ist in dieser Umgebung mehr oder weniger ein offenes Geheimnis.«

    »Ich vermute, dass Sie auch nicht in Ihrem Testament bedacht wird?«

    »Da vermuten Sie richtig.«

    »Gut, dann brauche ich ihren Namen nicht, aber es könnte nützlich sein, zu wissen, dass sie noch existiert.«

    Sie blickte ihn ruhig an, um ihn zu überzeugen, ihm den Namen seiner Schwägerin mitzuteilen.

    Er starrte zurück.

    Sie nahm einen Schluck Kaffee. Er war heiß und schmeckte wie Spülwasser, so wie der Kaffee in jedem Imbiss, aber die Kaffeesahne verdeckte alles andere.

    Er stieß erneut mit der Hand gegen den Tisch. »Rebecca. Rebecca Plover.«

    Sie schrieb ihn auf.

    »Prima. Danke.«

    Marie kam zurück mit einer Schale Porridge in der einen und dem Omelett, der Toastscheibe und dem Bacon in der anderen. Sasha wartete, bis das Geklapper der Teller auf dem Tisch aufhörte und bat um etwas pikante Soße.

    Marie holte eine kleine Flasche aus ihrer Schürzentasche, reichte sie ihr und knallte die Rechnung umgedreht auf den Tisch.

    »Zahlen Sie, wann immer Sie wollen, aber ich möchte nicht, dass Sie zu spät zum Gericht kommen.«

    Sasha blickte ihr hinterher, während Craybill in seinem Porridge herumstocherte.

    Sie sah wieder auf die Uhr. Fünfundzwanzig Minuten, um ihren Mandanten zu befragen, zu essen und eine Art Argumentation vorzubereiten.

    Ihr Magen knurrte. Es gab Anwälte, die nur auf diese Weise praktizierten. Sie gehörte nicht dazu.

    Bis noch vor ein paar Monaten hatte sie bei Prescott & Talbott gearbeitet, eine der größten, ältesten und renommiertesten Anwaltskanzleien in diesem Bundesstaat. Sie verfügt über Erfahrung in komplexen Rechtsstreitigkeiten. Unternehmen, die sich gegenseitig wegen Vertragsbruch verklagten. Firmen, die von Teilhabern oder Kunden verklagt wurden. Große, unschöne, komplizierte Fälle, die jahrelang vor Gericht verhandelt wurden. Darin war sie gut. Darin war sie großartig.

    Im Gegensatz dazu hatte sie keine Idee, wie man eine angeblich geschäftsunfähige Person bei einer Anhörung vor dem Familiengericht verteidigt. Um ehrlich zu sein, ginge sie jetzt lieber in die Küche, um Frühstücksbestellungen vorzubereiten. Was etwas heißen will, wenn man bedenkt, dass sie noch nicht einmal wusste, wie man ein Rührei zubereitet.

    »Tu so, als ob du es kannst, dann kannst du es«, pflegte ihr verstorbener Mentor Noah Peterson immer zu sagen. Sein Tod war einer der Hauptgründe, warum sie die Kanzlei verlassen hatte, und nun saß sie an einem schmutzigen Tisch in einem verkommenen Imbiss, vier Stunden von ihrem Wohnort entfernt.

    Sie schüttelte den Kopf. Keine Zeit für so etwas. Sie verdrängte die Gedanken an Noah, Prescott & Talbott.

    Craybill beobachtete sie, wobei ihm ein Klecks geronnener Haferflocken an der Unterlippe klebte.

    Sie tupfte ihre Unterlippe mit der Papierserviette ab, jedoch kapierte er diesen Wink mit dem Zaunpfahl nicht.

    »Sie haben da etwas, äh, Haferflocken«, sagte sie und deutete auf ihren Mund.

    Er kniff die Augen zusammen und wischte sich den Mund ab.

    »Na und? Haferflocken an meinen Lippen? Macht mich das zu einem sabbernden Idioten?«

    Sie widerstand dem Drang, sich die Schläfen zu massieren und setzte ein strahlendes Lächeln auf.

    »Natürlich nicht. Machen wir weiter. Im Antrag steht, dass das Amt für Altershilfe einen anonymen Bericht erhalten hat, dass Sie nicht in der Lage wären, für sich selbst zu sorgen. Irgendeine Ahnung, um was es hier geht?«

    Er verzog das Gesicht. Sie wartete, während er die vergangenen Monate Revue passieren ließ. Es war jetzt Anfang April, also war der Bericht drei Monate alt.

    »Tja, Mist«, sagte er schließlich, »ich bin hingefallen. Weiß nicht mehr genau, wann. Es lag Schnee auf dem Boden. Ich habe Holz für den Kamin gehackt und …«

    Sie unterbrach ihn. »Sie hacken Ihr eigenes Feuerholz?«

    »Ja.«

    Sie prüfte seine Anschrift auf dem Antrag. Rural Route 2, Firetown.

    »Sie leben nicht hier in der Stadt?«

    »Nein. Ich habe ein Haus in Firetown.«

    Er sprach es in Kurzform aus – Firetin.

    Es hörte sich weitab vom Schuss an.

    »Sie leben allein da draußen?«

    »Ja, seit Marlas Tod.«

    »Also Sie sind hingefallen …«, forderte sie ihn auf.

    »Äh-äh. Ich wurde abgelenkt, weil ich einen Lastwagen, einen Wassertransporter, beobachtet habe, wie er in einem Affenzahn die Straße zu meinem Haus heruntergedonnert kam. Egal, ich nehme an, dass ich auf einer Eisplatte ausgerutscht bin. Ich habe mir die Hüfte verletzt und das Handgelenk verdreht.«

    Sie notierte alles, so schnell sie konnte, in ihrem eigenen stenografischen Stil. Sie hatte sich diesen Stil in der juristischen Fakultät angeeignet und er diente ihr jetzt auch in der Praxis.

    »Also haben Sie medizinische Hilfe aufgesucht?«

    Er zuckte mit den Schultern. »Nicht wirklich. Ich habe es bei Doc Spangler erwähnt, als ich sie an der Tankstelle getroffen habe. Sie hat sich das während des Tankens kurz angeschaut und meinte, es wäre wahrscheinlich verstaucht. Dann habe ich eine Zeit lang eine elastische Binde drumgewickelt und ein paar Tage lang ein Schmerzmittel genommen und das wars auch schon.«

    »Ist Doktor Spangler Ihr Hausarzt?«

    Sie tupfte die letzten Eierkrümel auf dem Teller mit dem Toastbrot auf, während er erklärte.

    »Sie ist der einzige Arzt in der Stadt. Das macht sie wohl zu meinem Arzt. Aber das letzte Mal, als ich sie tatsächlich konsultiert habe, das ist schon, ich weiß nicht mehr genau … vier bis fünf Jahre her. Ich bin so gesund wie ein Pferd. Aber sie hat sich um Marla gekümmert.«

    Sasha warf einen Blick auf ihre Notizen. Sie wettete, dass sich diese Ärztin verpflichtet gefühlt hatte, diesen Sturz im Rahmen der staatlichen Vorschriften dem Amt für Altershilfe zu melden. Altershilfe. Was für eine Bezeichnung, dachte sie. Es hörte sich an, als ob sie dir beim Altern helfen würden.

    Sie schaute wieder auf den Uhrenturm. Fünfzehn Minuten bis zur Showtime und sie hatte keinen blassen Schimmer, wer ihr Mandant war, was er wollte oder ob er völlig durchgeknallt ist.

    »Okay, das Gesetz schreibt vor, dass der Anwalt des Amtes für Altershilfe Richter Paulson erklärt, warum sie glauben, dass Sie nicht in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen. Das Amt hat die Beweispflicht. Nun haben sie aber eine globale Betreuungsvollmacht beantragt, die ihnen das Recht gäbe, über Ihre Finanzen, Ihre Gesundheit und alles andere zu entscheiden. Das Gesetz bevorzugt eine eingeschränkte Betreuung, was bedeutet, dass der Richter einen Betreuer ernennen kann, der Ihnen bei bestimmten Angelegenheiten hilft, zum Beispiel Geldangelegenheiten, wenn er überzeugt davon ist, dass Sie Unterstützung benötigen, aber Sie werden nicht als geschäftsunfähig erklärt. Können Sie mir folgen?«

    Sie blickte ihm in die Augen, suchte nach Verständnis, sah aber nur Wut. Sehr viel Wut.

    »Hören Sie zu Mädchen. Ich will keine Hilfe. Ich will, dass man mich in Ruhe lässt. Ich will in meinem gottverdammten Haus sterben, wenn die Zeit gekommen ist. Können Sie mir folgen?«

    Sasha nickte. Sie hatte plötzlich Mitleid mit diesem alten Mann, aber sie konnte nichts versprechen.

    »Ich will sehen, was ich tun kann, Mr Craybill.«

    Sie legte einen zwanzig Dollar-Schein auf die Rechnung und begann einzupacken.

    »Lassen Sie uns gehen.«

    Fünf Minuten vor Beginn der Anhörung setzten sich Sasha und Jed an denselben Anwaltstisch, den sie eine Stunde zuvor verlassen hatten.

    Technisch gesehen hätte sich Sasha an den Tisch der Verteidigung setzen können, da sie keine klagende Partei vertrat. Der Antragsteller – die Partei mit der Beweislast – setzte sich üblicherweise an den Tisch in der Nähe der Geschworenenbank. Dies war eine der Formalitäten, die man jungen Anwälten nicht erzählte, bis zum Tage, an dem sie unwissend in die Falle tappten und diese Regel verletzten.

    Aber Jed hatte sich bereits gesetzt, bevor Sie nur die geringste Gelegenheit hatte, ihm die Sitzordnung zu erklären und nachdem, was sie so gesehen hatte, schien es in Springport eher locker vorzugehen. Ganz zu schweigen davon, dass der Verstoß gegen das Protokoll dem gegnerischen Anwalt unter die Haut gehen könnte. Immer ein Pluspunkt.

    Die Tür des Gerichtssaales flog auf und überflutete den Raum mit Licht und dem Geschnatter der Leute auf dem Korridor. Ein schlanker, braungebrannter Mann mit perfekt gestutztem Bart schlüpfte durch die Tür. Er trug einen marineblauen Anzug und eine rotblau gestreifte Krawatte. Seine Drahtgestellbrille erinnerte sie an einen Professor, wobei Sasha vermutete, dass dies beabsichtigt war.

    Er hielt neben dem Tisch an. Er blickte von Jed zu Sasha und wieder zurück.

    »Mr Craybill«, sagte er und nickte dem alten Herrn zu.

    Jed ignorierte die Begrüßung.

    Sasha stand auf und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich bin Sasha McCandless, die vom Gericht bestellte Pflichtverteidigerin von Mr Craybill.«

    Er antwortete ihr mit einem festen Händedruck.

    »Marty Braeburn«, sagte er. Dann gab er ihr ein Stirnrunzeln. »Ich wusste gar nicht, dass Richter Paulson Anwälte ernennt.«

    Sasha lächelte. »Ich wurde heute Morgen dazu ernannt.«

    »Aha«, sagte Braeburn nickend. »Wo sagten Sie noch, dass Sie praktizieren?«

    »Ich habe in dieser Hinsicht nichts gesagt. Meine Kanzlei ist in Pittsburgh. Ich stand heute Morgen vor dem Richter wegen eines Antrag zur Vorlage von Beweismitteln.«

    »Pittsburgh«, wiederholte Braeburn deutlich und hörbar zu sich selbst.

    Er schaute

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