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Schaitan: Wie ich meinen Sohn an einen kriminellen Clan verlor
Schaitan: Wie ich meinen Sohn an einen kriminellen Clan verlor
Schaitan: Wie ich meinen Sohn an einen kriminellen Clan verlor
eBook221 Seiten3 Stunden

Schaitan: Wie ich meinen Sohn an einen kriminellen Clan verlor

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Über dieses E-Book

Hanna ist 16, als sie von Hassan, einem Deutsch-Marokkaner, schwanger wird. Als ihr Sohn Jamal auf die Welt kommt, heiratet sie in die arabische Großfamilie ein. Was klingt wie ein Märchen aus 1001 Nacht, entwickelt sich rasant zu einem Alptraum. Immer tiefer gerät Hanna in einen Strudel aus Gewalt, Kriminalität, Missbrauch und Todesdrohungen. Ihr Sohn Jamal wird zum Spielball des Clans: er wird geschlagen und manipuliert. Mutig versucht Hanna ihn zu schützen, doch Polizei und Justiz versagen kläglich und irgendwann steht sie vor der Entscheidung ihres Lebens: mein Sohn oder ich?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum10. März 2022
ISBN9783980677295
Schaitan: Wie ich meinen Sohn an einen kriminellen Clan verlor
Autor

Hanna G.

Hanna G. wurde 1984 in Lingen geboren. Sie hat zwei Brüder. Nach ihrem Realschulabschluss lernt sie einen marokkanischen Mann kennen und bekommt ein Kind von ihm. Da ist sie 17 Jahre alt. Mit 18 macht sie das Abitur am Abendgymnasium und studiert Sonderpädagogik. Heute ist sie zum zweiten Mal verheiratet und lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen im Rheinland.

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    Buchvorschau

    Schaitan - Hanna G.

    Diese Geschichte beruht auf wahren Begebenheiten. Um alle Beteiligten zu schützen, wurden Personen- und Ortsnamen sowie Zeitangaben verändert. Die kursiv gedruckten Passagen sind sprachlich veränderte, inhaltlich jedoch korrekte Auszüge aus Gerichtsprotokollen und Anwaltsschreiben. Auch hier wurden alle Namen verändert.

    Für Jasmin

    Alles, was du liebst, geht wahrscheinlich verloren,

    aber am Ende wird die Liebe auf eine andere Art

    zurückkehren.

    (Franz Kafka)

    Inhaltsverzeichnis

    PROLOG

    ERSTER TEIL

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    ZWEITER TEIL

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    Kapitel 13

    Kapitel 14

    Kapitel 15

    Kapitel 16

    Kapitel 17

    Kapitel 18

    DRITTER TEIL

    Kapitel 19

    Kapitel 20

    Kapitel 21

    EPILOG

    DANKSAGUNG

    ANHANG

    PROLOG

    Ich stehe am Fenster und sehe in den Garten hinaus. Die Welt ist graugrün, es regnet. Ein typischer Februartag. Ich sehe einem Regentropfen zu, wie er langsam die Scheibe hinunterrinnt und schneller wird, als er sich mit einem weiteren Tropfen verbindet. Ich beobachte unsere Nachbarin, die alte Frau Gellert, wie sie die Mülltonne vom Gehweg in die Garage schiebt. Unsere steht noch an der Straße. Unter den Johannisbeersträuchern entdecke ich einen roten Farbkleks – eines der Bobbycars der Zwillinge. Automatisch suche ich mit den Augen das andere. So ist das mit Zwillingen: Alles gibt es zwei Mal. Ich blicke kurz auf die Uhr über dem Küchenbord, noch eine Stunde, dann hole ich sie aus der Kita ab. Eigentlich habe ich noch zu tun: Wäsche waschen, den Geschirrspüler ausräumen, das Essen vorbereiten – all die täglichen Arbeiten, die bei einer vierköpfigen Familie anfallen. Doch an manchen Tagen bin ich wie gelähmt, weil mich dann alles wieder einholt. Jamal. Ich blicke auf die gerahmten Kinderfotos neben dem Buffet. Sein Milchzahnlachen auf meinem Lieblingsbild, Jamal guckt direkt in die Kamera. Alle sagen immer, wie ähnlich er mir sieht, und es stimmt: die gleichen braunen, leicht mandelförmigen Augen, die gleiche Nase, der gleiche geschwungene Mund. Viele hielten ihn für meinen Bruder. Ich war so jung, als ich ihn bekam. Was er wohl macht, mein verlorener Sohn? Wo wohnt er? Nimmt er Drogen? Dealt er? Oder sitzt er im Gefängnis?

    Ich gehe auf die Terrasse und rauche eine Zigarette. Die Regentropfen prasseln auf die Wellplatten der Überdachung. Ich versuche, die Gedanken an meine Vergangenheit wegzuwischen wie Spinnweben in einem Keller, aber es gelingt mir nicht. Es ist fast drei Jahre her, dass ich seine Stimme zuletzt gehört habe. Ich muss mich damit abfinden, dass ich ihn nie mehr wiedersehe. Ich habe jetzt ein neues Leben. Eine neue Familie. Ich drücke die Zigarette aus und gehe in den Garten, hole das Bobbycar unter dem Strauch hervor und stelle es in den Schuppen.

    ERSTER TEIL

    1

    Meine ersten Lebensjahre verbrachte ich in einer westfälischen Kleinstadt. Wir lebten in einer Wohngemeinschaft zusammen mit zwei anderen Kindern und deren Eltern. Mein älterer Bruder Benjamin und ich verfügten über ein großes Spielzimmer und ein Schlafzimmer. Außerdem gehörten ein Hund und zwei Katzen zu unserer Familie. An diese Zeit habe ich nicht mehr viele Erinnerungen. Es gibt einige unscharfe Eindrücke von dem alten Haus, der Nachbarin mit Kittelschürze und Eulenbrille, außerdem das verwischte Gesicht von Dr. Pohl, einem Arzt, der auf der anderen Seite wohnte und einen gelben Passat fuhr. Andere Bilder sind merkwürdig klar und detailreich, als hätte mein Bewusstsein Wert darauf gelegt, dass ich mich für immer an sie erinnere, obwohl sie keinerlei tiefere Bedeutung haben: das Lichtraster, das die Morgensonne auf dem beigen Teppichboden des Spielzimmers zeichnete, während ich mit Bauklötzen spielte. Die merkwürdige Steintreppe im Hausflur, in deren weißen Stufen viele kleine dunkle Steine eingeschlossen waren wie Schokoladenstückchen in einem Kuchenteig. Der Geruch von verbranntem Laub und Holz, wenn die Nachbarn im Herbst ihre Gärten aufräumten.

    Ich hatte mich mit einem Mädchen aus der Nachbarschaft angefreundet, sie hieß Wiebke. Beinahe täglich gingen wir zusammen zu einer Druckerei am Ende der Straße. Da gab es riesige Container mit Pappe und Papierabfällen. Wir kletterten hinein, um dort zu spielen, obwohl wir natürlich wussten, dass es verboten war. Ich mochte den Geruch des Papiers und die glatten, weißen und bunten Schnipsel. Wenn die Hintertür der großen Halle geöffnet wurde, mussten wir leise sein, falls ein Mitarbeiter der Druckerei einen Abfallkorb ausschüttete. Einmal wurden wir erwischt, wir waren nicht schnell genug in Deckung gegangen. Der Arbeiter entdeckte uns und schrie uns an. Als er unsere erschrockenen Kindergesichter sah, beruhigte er sich aber sofort wieder, sagte, die Container seien zu gefährlich für kleine Mädchen, schenkte uns zwei dicke Papierblöcke mit einem fehlerhaften Aufdruck und schickte uns nach Hause. Daraufhin blieben wir der Druckerei eine Weile fern, aber irgendwann waren wir doch wieder da. Es gab einen Container, in den vor allem große Teile aus Pappe entsorgt wurden. Davon nahmen wir uns manchmal so viele Stücke mit, wie wir tragen konnten, und bauten uns damit kleine Hütten im Wald, holten dann unsere Lieblingspuppen und spielten „Familie".

    Wir hatten ein großes Bedürfnis nach Geborgenheit, so blieb es nicht bei den Papphütten: Wir wollten einen unterirdischen Bunker bauen. So einen hatte Wiebke einmal im Fernsehen gesehen. Ich war sofort Feuer und Flamme und nichts auf dieser Welt hätte mich von diesem Plan abbringen können. Meine Mutter beschrieb mich einmal so: „Hanna war ein sehr eigenwilliges Kind. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, zog sie es durch. Bekam sie ihren Willen nicht, brüllte sie so laut, dass die Nachbarn dachten, ich würde das Kind umbringen ..." Ich wollte diesen Bunker! Wiebkes Mutter bestellte einen Nutzgarten am Dorfrand. Heute stehen dort Häuser in einem Neubaugebiet, aber damals waren da nur Wiesen und Felder. Der Garten von Wiebkes Familie war sauber eingezäunt. Hinter den gepflegten Beeten gab es einen ebenso gepflegten Zierrasen, den Wiebkes Vater im Sommer jedes Wochenende mähte. Das tat er singend und in Badehose. Dabei hatte er Kopfhörer auf und den Walkman in den Bund der Badehose gesteckt.

    Eines Nachmittags begannen wir heimlich mit den Arbeiten zu unserem Bunker und stachen mitten in den Zierrasen ein etwa zwei mal vier Meter großes Viereck aus. Wir hatten Spaten aus dem Geräteschuppen geholt und uns richtig ins Zeug gelegt. Zunächst trugen wir die Grasnarbe ab. Dann gruben wir. Als das Loch etwa dreißig Zentimeter tief war, setzte die Baubehörde in Gestalt von Wiebkes Mutter der Buddelei ein Ende. Mit Panik in den Augen half sie uns, die Bunkeranlage in spe wieder zuzuschütten und mit der Grasnarbe eine Art Puzzlespiel zu starten. Wir bekamen es ganz gut hin. Wiebkes Vater merkte jedenfalls nichts, als er nach Hause kam.

    Ich war etwa vier Jahre alt, als meine Mutter krank wurde. Sie hatte Wahnvorstellungen. Einmal rief sie die Feuerwehr, weil sie fest davon überzeugt war, dass das Rathaus brennen würde. Ich habe das als Kind nicht verstanden. Mein Vater versuchte es mir zu erklären: „Wenn jemandem ein Bein fehlt, hat er eine Krücke. Deiner Mutter fehlt das Bein im Kopf. Ihre Krücke sind die Medikamente. Nahm sie diese regelmäßig, ging es meiner Mutter eine Weile gut, und weil sie dachte, dass es ihr jetzt wieder gut gehe, brauche sie ihre Medizin nicht mehr. Doch dann kam ein neuer Schub. Sie stand beispielsweise am Fenster und sagte: „Es regnet draußen. Dabei war strahlender Sonnenschein. Ich dachte, sie will ein Spiel mit mir spielen, und sagte: „Ja, ja, das ist ein richtiges Gewitter! Aber Mama blieb ernst, schüttelte den Kopf und sagte: „Immer dieser Regen. Immer nur Regen. Erst viel später verstand ich, worunter meine Mutter litt: paranoide Schizophrenie.

    Meine Mutter stammt aus einer Arbeiterfamilie. Sie besuchte das Gymnasium, mit Siebzehn zog sie in ein selbstverwaltetes Jugendzentrum und betreute dort mit einem jungen Mann Anfang der 70er Jahre die Kindergruppe. Das Jugendzentrum wurde ein Jahr später durch einen Beschluss der Stadtverwaltung geschlossen, was meine Mutter dazu veranlasste, sich mit dem politischen System auseinanderzusetzen. Die 1969 angetretene sozialliberale Koalition hatte das Versprechen Willy Brandts, „mehr Demokratie zu wagen und tiefgreifende soziale und demokratische Reformen anzustoßen, nicht einlösen können. Der sogenannte Radikalenerlass, der mit einer millionenfachen Überprüfung von Bewerbern für den öffentlichen Dienst verbunden war, führte zu Ängsten bei politisch engagierten Jugendlichen. Die Frauenbewegung versuchte mit der Parole „Mein Bauch gehört mir! die ersatzlose Streichung des Paragrafen 218 aus dem Strafgesetzbuch zu erreichen, der Abtreibungen grundsätzlich unter Strafe stellte. Meine Mutter wurde radikal links, heiratete mit 18 ihren Mitbetreuer aus der Kindergruppe, trennte sich ein Jahr später wieder, schaffte das Abitur und begann, auf Lehramt zu studieren. Die Fotos aus dieser Zeit zeigen eine schöne, schlanke Frau mit langen Haaren, Schlaghosen und einer großen Sonnenbrille.

    Ihr Bruder wohnte in einer Wohngemeinschaft mit meinem Vater, da haben sich die beiden dann kennengelernt. Sie teilten beide dieselben politischen Ansichten, wenn auch mit unterschiedlichen Gewichtungen. Mein Vater stellte eher das politische System als solches in Frage, interessierte sich für die Friedens- und Umweltpolitik, meine Mutter engagierte sich in der Frauenbewegung. Sie organisierten Demos, gerieten mit der Polizei und dem Verfassungsschutz aneinander. Während ihres Referendariats bekam meine Mutter zwei Kinder, erst meinen älteren Bruder Benjamin, dann mich. Sie zog zu meinem Vater in dessen WG, in der ich meine ersten Lebensjahre verbrachte. Die Krankheit meiner Mutter blieb zunächst unbemerkt. Sie spürte, dass sie sich veränderte, konnte es aber nicht benennen. Sie sagte Dinge, die nicht stimmten. So glaubte sie, dass mein Vater ihr die Kinder wegnehmen wolle. Einmal blieb sie sechs Tage und Nächte lang wach. In der siebten Nacht begann sie, in einer Straße der Innenstadt die Seitenspiegel von parkenden Autos abzureißen. Am frühen Morgen kam sie in die WG und randalierte dort, bis das Ordnungsamt eintraf, gefolgt von der Polizei.

    Als meine Mutter in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde, erhielt das Jugendamt die Vormundschaft. Da meine Eltern nicht verheiratet waren, hatte mein Vater kein Sorgerecht. Das war damals noch so. Außerdem veränderte er sich damals beruflich - nach einer abgeschlossenen Elektrikerlehre war er nun im dritten Lehrjahr zum Kälteanlagenbauer. Er hätte überhaupt keine Zeit für uns gehabt. Also brachte er Benjamin und mich zu unseren Großeltern. Die waren jedoch schnell überfordert mit uns. Danach wohnten wir eine Weile bei unserem Onkel und unserer Tante, doch die mussten beide arbeiten und konnten uns ebenfalls nicht langfristig versorgen. Es blieb nur eine Lösung: Mein Bruder und ich kamen in eine Pflegefamilie.

    Meine Tante Ursel fuhr uns in ihrem alten Ford Escort zu der Adresse. Die Straße lag am Stadtrand und grenzte an einen Wald. Ursel öffnete das wacklige Törchen eines Jägerzauns und lief den langen Pfad durch den Garten, mein Bruder und ich im Gänsemarsch hinterher. Ich sah zuerst nur auf die quadratischen Platten und achtete darauf, nicht daneben zu treten. Ich wollte, dass am Ende des Weges ein Schloss stand. Mit einer Zugbrücke vorne dran und einem mächtigen Burgfried, eingerahmt von schlanken Türmen mit Zinnen. Kurz vor der Haustür kam das Fußende einer Leiter in mein Blickfeld. Ich schaute auf einen verwachsenen alten Kirschbaum, dessen Früchte bereits geerntet waren. Das Haus daneben war aus Holz, die weißen Bretter sahen verwaschen aus. Während wir vor der Haustür warteten, beobachtete ich das flirrende Lichtspiel, das die Strauchrosen auf der Holzwand erzeugten. Ein kleiner, zusammengedrückt wirkender Mann ohne Hals öffnete die Tür und grinste uns verschmitzt an. Er erinnerte mich an eine Figur aus meinem Märchenbuch. Rumpelstilzchen? Das Männchen grüßte und bat uns mit einer Geste in den Flur, wo Tante Ursel unsere Reisetaschen abstellte. Im Wohnzimmer warteten seine Frau und zwei Kinder, die aussahen wie auf einem alten Foto: steif und seltsam verblichen. Mir fiel ihre merkwürdige Kleidung auf, die abgetragen und bäuerlich aussah. So wie in einem Film aus den fünfziger Jahren. In einer Ecke waren auf einem kleinen Bord ein Kruzifix, mehrere Kerzen und ein Buch arrangiert. Herr Gusel, so hieß unser zukünftiger Pflegevater, holte einen Zettel aus einer Schublade und erklärte meiner Tante einige Dinge, von denen ich nichts verstand. Seine bleiche Frau fragte meinen Bruder und mich, ob wir gerne Apfelsaft trinken würden, sie hätte welchen aus eigener Herstellung. Wir nickten und sie verschwand aus dem Zimmer, um kurz darauf mit Gläsern und einem Tonkrug zurückzukommen. Sie schenkte jedem von uns ein halbes Glas von dem bräunlichen Saft ein, schüttete dann noch etwas Wasser aus einer Blechkanne, die auf dem Ofen gestanden hatte, dazu. „Sonst ist der Saft zu kalt und zu süß," erklärte sie und lächelte mit dünnen Lippen. Ich nippte an meinem Glas. Die Schorle schmeckte lauwarm und fad.

    Die Pflegeeltern mochten uns nicht. Wir wurden wegen Kleinigkeiten geschlagen, meistens bekamen wir Ohrfeigen, manchmal auch Schläge auf den Hintern. Auch ihre beiden eigenen Kinder wurden gezüchtigt. Benjamin war selbst erst sechs Jahre alt, trotzdem versuchte er, mich vor Herrn Gusel zu beschützen. Wir nannten ihn unter uns nur „Grusel". Die ganze Familie gehörte zu einer Art Sekte. Jeden Abend mussten wir vor dem Hausaltar knien und beten. Ich hatte das noch nie gemacht, meine Eltern glaubten ja nicht an Gott. Aber mir gefiel es irgendwie. Ich betete, dass Mama uns bald wieder heimholen würde. Auf dem Dachboden gab es ein altes Sofa mit Holzfüßen. Dahinter versteckten sich Benjamin und ich, wenn wir Angst vor den Pflegeeltern hatten. Oft saßen wir stundenlang hinter diesem Sofa und spielten mit den wenigen Sachen, die wir mitgebracht hatten. Mit dem Spielzeug unserer Pflegegeschwister durften wir nicht spielen. Nach einer Woche hatte ich zum ersten Mal den Verdacht, dass Grusel uns hinterherschnüffelte. Ich hätte es nicht beweisen können, aber ich spürte, wenn er in unserem Zimmer gewesen war. Er war Frührentner, vermutlich weil er diesen Buckel hatte, und war die ganze Zeit zu Hause. Er kontrollierte alles. Wenn wir vom Kindergarten kamen, mussten wir unsere Jacken an einen bestimmten Haken im Flur hängen und die Hände waschen. Abends machte er seine Runde, überprüfte die Tür des Schuppens, das Garagentor, das Gartentor, lugte noch einmal in den Briefkasten, dann verschloss er die Haustür. Immer um 19 Uhr, nach dem Abendbrot und dem Gebet. Eine Stunde später mussten wir in unseren Betten liegen.

    Eine Zeit lang saß ich jeden Tag an der Straße vor dem Haus und wartete darauf, dass mich meine Mutter abholte. Ich wollte, dass sie kam und mich in den Arm nahm. Dass sie mich streichelte und sagte: „Jetzt bin ich bei dir, alles wird gut." Aber sie kam nicht. Das heißt, einmal kam sie zu Besuch, doch dann war sie wieder weg. Das war fast noch schlimmer, als wenn sie gar nicht gekommen wäre. Jahre später erfuhr ich von meiner Mutter, dass sie gemerkt hatte, wie unwohl wir uns dort fühlten. und dass es ihr heute noch das Herz zerreißt, wenn sie daran denkt. Aber damals war sie noch in Behandlung und hätte uns nicht mitnehmen dürfen. Also saß ich weiter vor dem Haus und wartete. Ich habe noch ein Bild im Kopf, das ich mit dieser Sehnsucht nach meiner Mutter verbinde: neben der Einfahrt stand eine Sandsteinmauer des Nachbargartens. Die bestand aus grob gehauenen roten Blöcken, auf denen sich manchmal Eidechsen sonnten. Davor wuchsen im Frühjahr einige Löwenzahn. Die gelben Blüten vor dem roten Sandstein haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Und die Eidechsen, die blitzschnell in den Ritzen der Mauer verschwanden, wenn ich mich näherte.

    2

    Der Löwenzahn war verblüht und hatte seine Kugel mit den kleinen Fallschirmen gebildet, als wir wieder nach Hause zurückdurften, weil es unserer Mutter besser ging. Zum Abschied sagte keiner der Gusels etwas zu uns. Wir liefen aus dem Haus und schon waren ihre Gesichter verblasst. Die Sonne schien wie ein Versprechen auf glücklichere Tage. Meine Mutter hatte unsere Reisetaschen genommen und redete noch einige Sätze mit den Pflegeeltern. Ich stand bereits mit Benjamin im Garten, neben dem alten Kirschbaum. Auf einem der Zweige landete ein Rotkehlchen. Es war pummelig, sein roter Latz leuchtete, es zwitscherte und äugte umher. Ich war zu klein und kann mich nicht wirklich erinnern, was ich damals fühlte. Ich hatte auch keinerlei Vorstellung,

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