Erkranken schadet Ihrer Gesundheit
Von Bernd Hontschik
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Über dieses E-Book
In das Gesundheitswesen hat unsere Gesellschaft bislang einen Teil ihres Reichtums investiert, zum Wohle aller. Nun wird das Gesundheitswesen zur Quelle neuen Reichtums für Investoren. Die neuen Ziele werden nicht innerhalb der Medizin erarbeitet, sondern werden in Konzernen geplant und von Politikern in die Tat umgesetzt. Die Medizin wird dabei zu einer Ware, die nur noch als Quelle von Profit interessant ist. Mit seiner 40jährigen Berufserfahrung als Chirurg, immer begleitet von wissenschaftlicher und publizistischer Tätigkeit, gelingt Bernd Hontschik ein spannender, manchmal erschütternder Blick auf Medizin und Gesundheitswesen. Jedes Kapitel dieses Buches ist ein flammender Appell aus immer neuen Blickwinkeln, zur eigentlichen Bestimmung der Medizin zurückzukehren.
Bernd Hontschik
Dr. med. Bernd Hontschik, geb. 1952, war bis 1991 Oberarzt an der Chirurgischen Klinik des Krankenhauses Frankfurt-Höchst und bis 2015 in eigener chirurgischer Praxis tätig. Er ist Autor des Bestsellers "Körper, Seele, Mensch" und Herausgeber der Reihe "medizinHuman" im Suhrkamp Verlag. Er schreibt Kolumnen in der Frankfurter Rundschau, ist Mitglied bei der Uexküll-Akademie (AIM), bei mezis und bei der IPPNW und im wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift "Chirurgische Praxis".
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Buchvorschau
Erkranken schadet Ihrer Gesundheit - Bernd Hontschik
Alles oder nichts
Um Weihnachten und Neujahr herum kann man sich vor den vielen guten Wünschen kaum retten: Gesundheit, Glück und Erfolg – die Formulierungen variieren, aber der Inhalt ist immer gleich. Die Gesundheit ist auf Rang eins bei den guten Wünschen fürs neue Jahr, gefolgt von Glück und Erfolg. Aber was ist das eigentlich, die Gesundheit?
Ist man gesund, wenn man nicht krank ist? Ist man gesund, wenn man nicht weiß, dass man krank ist? Es gibt Tausende von Krankheiten, aber gibt es nur eine Gesundheit? Bedeutet Gesundheit für jeden Menschen vielleicht etwas anderes? Gesundheit ist körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden, das ist zumindest die Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO. Gesundheit sei uns verborgen, sie sei »das Schweigen der Organe«, sagte der Philosoph Hans-Georg Gadamer. Karl Kraus dagegen nimmt’s leicht: »Gesund ist man erst, wenn man wieder tun darf, was einem schadet.« Für Aldous Huxley war schon vor knapp hundert Jahren »die Medizin so weit fortgeschritten, dass man kaum noch Gesunde findet« – was für eine Weitsicht! Ein ganz anderer Aspekt findet sich in den »Maximen und Reflexionen« von Johann Wolfgang von Goethe: »Ein gesunder Mensch ohne Geld ist halb krank.«
Am häufigsten wird aber Arthur Schopenhauer zitiert. Nicht der Ausspruch: »Der einzige Mann, der nicht ohne Frauen leben kann, ist der Frauenarzt« des notorischen Frauenhassers ist am bekanntesten geworden, sondern er hat angeblich auch das Wortspiel: »Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts« in die Welt gesetzt. Hat er aber gar nicht! Das hat Schopenhauer nie gesagt, nirgends in seinen Schriften ist dieser bescheuerte Satz zu finden. Dennoch wird er immer wieder und überall mit diesem unmöglichen Spruch zitiert.
Stellen Sie sich vor, Sie wären krank und es käme jemand daher und sagt zu Ihnen: »Ohne Gesundheit ist alles nichts.« Was jetzt, wo doch alles nichts ist? Ein dummer, hirnlos dahingesagter Spruch und eine Ohrfeige für jeden, der krank ist.
Nachdem Schopenhauer in Frankfurt am Main zehn Jahre lang zumeist zur Untermiete gewohnt hatte, bezog er im Jahr 1843 im Alter von 55 Jahren eine Wohnung an der Schönen Aussicht, wo selbst das nichtssagende Fischerplätzchen am Mainufer bis heute auf seine Umbenennung in Arthur-Schopenhauer-Platz wartet. Dort hat der Philosoph bis zu seinem Tod 1860 gewohnt, und dort hat er etwas ganz anderes gesagt, nämlich »dass wahrlich ein gesunder Bettler glücklicher ist als ein kranker König«. Das leuchtet ein.
Womit wir wieder auf Goethe, auf Arm und Reich und somit auf das Geld zurückkommen müssen. Der verfälschte und vielfach missbrauchte Spruch von Schopenhauer, dass »ohne Gesundheit alles nichts« sei, muss stattdessen – mit Goethes Hilfe – lauten: »Geld ist nicht alles, aber ohne Geld ist alles nichts.«
Risiken und Nebenwirkungen
Im Mai 2016 wurde im angesehenen British Medical Journal über eine US-amerikanische Untersuchung berichtet, die mich sofort elektrisierte. Ich war mir sicher, dass diese Untersuchungsergebnisse gewaltige Reaktionen in medizinischen Fachblättern, aber auch in der breiten Öffentlichkeit hervorrufen würden. Schon der Titel der Veröffentlichung verschlug mir die Sprache: »Fehler in der Medizin – die dritthäufigste Todesursache in den USA«. Ich wartete ab. Aber nichts folgte, nichts geschah, keine aufgeregten Sondersendungen, keine einzige Talkshow.
Was ist eigentlich eine Todesursache? Die Todesursachenstatistik entsteht durch die Auswertung der ärztlichen Eintragungen auf den Totenscheinen. Damit ist das erste Problem verbunden: Wenn man etwa durch eine Krebserkrankung so stark geschwächt ist, dass man stürzt, sich die Knochen bricht und operiert werden muss, kann man in Folge der Bettlägerigkeit an einer Lungenentzündung erkranken und sterben. Was ist in diesem Fall die Todesursache?
Das zweite Problem entsteht dadurch, dass die Definition von Todesursachen vom eigenen Standpunkt abhängt, also in keiner Weise objektiv ist. Wenn man Statistik aus Sicht der Ernährungswissenschaft betreibt, dann ist es die Fettsucht, die auf Platz eins der Todesursachen stehen müsste. Die Folgeerkrankungen der extremen Übergewichtigkeit sind Herz-Kreislauf-Schäden, Stoffwechselstörungen oder sogar auch Krebs, heißt es. Wenn man streng katholisch ausgerichtete Veröffentlichungen zur Hand nimmt, dann wird als häufigste Todesursache und mit großem Abstand die Abtreibung an erster Stelle genannt. Wenn man die Kriminalstatistik und Todesursachenstatistik zusammenführt, dann gehört – zumindest in den USA – der Mord zu den zehn häufigsten Todesursachen. Verkehrsunfälle sind jedes Jahr die Ursache für Tausende von Toten. Bei den Anschlägen auf die Twin Towers in New York im Jahr 2001 kamen fast 3 000 Menschen ums Leben. Danach mieden viele Menschen für eine gewisse Zeit das Flugzeug und reisten vermehrt mit dem Auto. Dadurch stieg in den USA die Zahl der tödlichen Verkehrsunfälle um ca. 1 600. Todesursache Autounfall oder Todesursache Terrorangst?
Es ist mit den Statistiken über Todesursachen also viel komplizierter, als es auf den ersten Blick erscheint. Wenn man die wirklichen Ursachen beiseitelässt, so sind es Herzinfarkt, Schlaganfall, Krebs, Leber- und Lungenkrankheiten, Infektionen und Unfälle, die in unserem Land für etwa achtzig Prozent aller Todesfälle verantwortlich gemacht werden können. Wenn man sich damit aber nicht zufriedengeben will und weiterforscht, dann tauchen plötzlich die medizinischen Fehler als Todesursachen an dritter Stelle auf, obwohl sie kein einziges Mal auf den ärztlichen Eintragungen der Totenscheine vermerkt worden sind. Wenn man zur Kenntnis nimmt, dass Menschen, die in Armut leben, eine mindestens zehn Jahre geringere Lebenserwartung haben als ökonomisch sorgenfreie Menschen, ist dann Armut die Todesursache?
Und da all diese erschütternden Ergebnisse wissenschaftlich erwiesen sind, kann es niemand ernsthaft von der Hand weisen, dass sich in der Medizin dringend etwas ändern muss.
Etappensieg
Großzügigkeit, Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe sind nicht die ersten drei Assoziationen, die mir einfallen, wenn ich an die Pharmaindustrie denke. Dennoch: Der US-amerikanische Konzern Pfizer stellte der Hilfsorganisation »Ärzte ohne Grenzen« vor kurzem eine Million Impfdosen gegen die von Pneumokokken verursachte Lungenentzündung kostenlos zur Verfügung.
Die Pneumokokken-Pneumonie verursacht weltweit eine Million Todesfälle bei Kindern unter fünf Jahren, mehr als jede andere Infektionskrankheit. Aber nur 37 Prozent aller Kinder weltweit sind geimpft, denn der Impfstoff, den außer Pfizer auch Glaxo Smith Kline herstellt, ist sehr teuer. Nur ein Drittel aller Länder dieser Welt kann ihn sich leisten.
Nun ist der Konzern Pfizer bislang nicht gerade bekannt gewesen für selbstlose Gesten gegenüber Kindern in Entwicklungsländern. Pfizer musste sich 2007 wegen eines Medikamententests vor Gericht verantworten, der an 200 Kindern in der Provinz Kano in Nigeria durchgeführt worden war. Der Konzern hatte sein Zelt dort direkt neben dem von »Ärzte ohne Grenzen« aufgebaut. Die Eltern konnten den humanitären Einsatz nicht von dem Medikamententest mit dem bis dato unerprobten Antibiotikum Trovan unterscheiden. Elf Kinder seien daran gestorben, viele lebenslang behindert. Und Pfizer ist 2016 wegen Wettbewerbsverstößen zur Zahlung von knapp 100 Millionen Euro verurteilt worden, weil man in Großbritannien »überhöhte und ungerechte« Preise verlangt hatte.
Zurück zu dem Geschenk von einer Million Pneumokokken-Impfungen: Auf diese großartige Spende folgte eine ebenso großartige Reaktion von »Ärzte ohne Grenzen«, über die man überall zunächst sprachlos war. Die Hilfsorganisation wies die Spende nämlich zurück und erklärte, dass der Pneumokokken-Impfstoff Prevenar völlig überteuert verkauft würde, sodass eine Impfung bei Kindern in Entwicklungsländern unmöglich sei.
»Ärzte ohne Grenzen« forderte Pfizer auf, statt solch willkürlicher Barmherzigkeitsanfälle endlich den Preis des Impfstoffes auf höchstens fünf Euro für die vier erforderlichen Impfdosen zu senken. Der New Yorker Konzern war empört über diese Zurückweisung. Doch bei der Hilfsorganisation blieb man unbeirrt: Man werde keine noch so hohe, aber eben doch begrenzte Zahl von gespendeten Impfungen annehmen, um mit diesem kurzfristigen Nutzen die notwendige Verbesserung für alle zu verhindern. Pfizer hatte 2015 mit diesem Impfstoff immerhin einen Umsatz von über sechs Milliarden US-Dollar erwirtschaftet, was etwa einem Siebtel des Gesamtumsatzes des Konzerns entsprach. 2001 hatte die vollständige Impfung eines Kindes in den Entwicklungsländern laut »Ärzte ohne Grenzen« noch weniger als einen Dollar gekostet, 2014 dagegen über 45 Dollar, und die Hälfte davon wird allein für die Pneumokokken-Impfung verbraucht. Pfizer hat diesen Impfstoff mit einem Schutzwall von Patenten umgeben und damit alle Prozesse gegen preiswertere Nachahmerpräparate gewonnen.
Mit einer nur scheinbar guten Nachricht hat diese Kolumne begonnen, mit einer wirklich guten Nachricht endet sie jetzt: Nachdem 2015 in Genf bei der UN-Weltgesundheitsversammlung 193 Länder eine Resolution für transparente und bezahlbare Impfstoffpreise verabschiedet hatten, nachdem »Ärzte ohne Grenzen« bis April 2016 über 400 000 Unterschriften in der Kampagne »A Fair Shot – Bezahlbarer Impfstoff für jedes Kind« gesammelt und an Glaxo und Pfizer übergeben hatte, nachdem Glaxo Smith Kline dann eine deutliche Impfstoff-Preissenkung angekündigt hatte, zog Pfizer vor einem Monat endlich nach und nahm ebenfalls eine massive Preissenkung für humanitäre Organisationen vor. Ein kleiner Schritt in die richtige Richtung, ein großer Schritt für Kinder in Entwicklungsländern!
Roboter im OP
Als ich jüngst in einer Zeitung las, dass ein großes Frankfurter Krankenhaus in Zukunft Roboter bei Operationen einsetzen wird, bin ich zunächst zutiefst erschrocken. Die Erinnerung holte mich ein, die Erinnerung an den Robodoc. Technische Neuerungen haben in der Chirurgie schon immer unglaubliche Fortschritte möglich gemacht. So hat beispielsweise die Miniaturisierung in Verbindung mit hochauflösenden digitalen Videokameras und Bildschirmen zu den revolutionären Operationsmethoden der minimalinvasiven Eingriffe geführt. Mit dieser Methode konnten die Operationszeiten deutlich verkürzt, die postoperativen Schmerzen und Beschwerden erheblich verringert und die Zeit bis zur Gesundung zum Teil auf weniger als die Hälfte reduziert werden.
Trotzdem erschrecke ich. Ich erinnere mich sofort daran, dass der Roboter schon einmal einen triumphalen Einzug in den Operationssaal gehalten hat: Vor fünfunddreißig Jahren wurde der Robodoc, ein umgebauter Fließbandcomputer aus der amerikanischen Autoindustrie, bei der Implantation künstlicher Hüftgelenke eingesetzt. In Frankfurt war die Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik an der Spitze dieser revolutionären Neuerung. Niedergelassene und Krankenhauschirurg*innen wurden zu Fortbildungen mit opulenten Buffets eingeladen, bei denen die Individualität und Passgenauigkeit der Hüftprothesen angepriesen wurden, die mit dem Robodoc gefräst und eingesetzt worden waren. Presse, Funk und Fernsehen trugen die große Begeisterung mit. Etwas neidisch und ungläubig beobachteten wir, wie die BG-Unfallklinik mit ihren drei Robodocs, von denen jeder mehr als eine halbe Million Euro gekostet hatte, eine geradezu magnetische Sogwirkung auf die Hüftgelenkskranken der Region und auch darüber hinaus ausübte. Den Patient*innen war der Rolls-Royce der Hüftgelenksprothesen versprochen worden.
Aber die langfristigen