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Corona im Kontext: Zur Literaturgeschichte der Pandemie
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eBook157 Seiten1 Stunde

Corona im Kontext: Zur Literaturgeschichte der Pandemie

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Über dieses E-Book

Corona inspiriert weltweit eine ebenso intensive wie z. T. kontroverse literarische Produktion. Wie wird eine lange Tradition der Epi-/Pandemieliteratur im neuen gesellschaftlichen und medialen Kontext transformiert? Wie werden politische und wissenschaftliche Corona-Diskurse reflektiert? Diese Fragen werden anhand vielfältiger Beispiele aus verschiedenen Sprachen und Kulturen diskutiert.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum20. Dez. 2021
ISBN9783893084678
Corona im Kontext: Zur Literaturgeschichte der Pandemie

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    Buchvorschau

    Corona im Kontext - Martina Stemberger

    Intro

    „Es ist ja Corona nicht bloß ein Virus, sondern auch eine eigene Textgattung geworden […]: Scherzhaft schlägt Schuh (2021) vor, Corona gleich „als Textsorte in die Maturaprüfung aufzunehmen. Für eine literarhistorische Perspektive auf die sich als neues transversales Genre etablierende Corona-Literatur ist es aktuell zu früh; noch ist nicht einzuschätzen, wie die „post-pandemic fiction (Bohjalian 2020) sich entwickeln, ob „Sci-fi and Corona-Lit im Lauf der 2020er zu „a new genre of storytelling" zusammenfinden werden (Bloom 2020). Und doch ist es von Interesse, schon jetzt einen Blick auf diese Literatur zu richten, die die Corona-Krise in Echtzeit zu verarbeiten versucht. Die Spanische Grippe, die ein langes Pandemic Century (Honigsbaum 2020) eröffnet, wird im Kontrast zu Corona zeitversetzt literarisiert; nachträglich markiert die „vergessene Pandemie (Crosby 2003) eine künstlerische „rupture as violent as the parting of the Red Sea (Spinney 2018: 261). Ist im Corona-Kontext, wie Elizabeth Outka vermutet, mit einem ähnlichen „shake-up of form (zit. Vincent 2020) zu rechnen? Läutet, wie Beigbeder (2021: 13f.) in Anbetracht einer „comme le coronavirus mutierenden Literatur spekuliert, die Pandemie den Beginn einer innovativen „littérature du XXIe siècle" ein?

    In diesem Sinne bietet dieser Dialoge-Band ein unweigerlich nicht exhaustives, doch repräsentatives Panorama rezenter Corona-Literatur. Wie wird eine bis in die Antike zurückreichende Tradition der Epi-/Pandemieliteratur in einem neuen gesellschaftlichen und medialen Kontext transformiert? Wie werden politische und wissenschaftliche Corona-Diskurse, aber auch Verschwörungsnarrative reflektiert? Wie Krankheit und konkret Covid erzählen? Angesichts einer globalen und doch kulturspezifisch akzentuierten Krise werden diese Fragen anhand einer Vielfalt von Beispielen aus unterschiedlichen Sprachen und Genres diskutiert, vom parodistischen Lockdown-Tagebuch aus Frankreich bis zum deutschen Corona-Thriller, von US-Pandemielyrik bis zum russischen philosophischen Corona-Roman. Neben einem internationalen Bestseller wie Fang Fangs Wuhan Diary werden zahlreiche im deutschen Sprachraum noch kaum bekannte Texte präsentiert; über Europa, die USA und Kanada hinaus kommen Autor*innen u. a. aus Lateinamerika, China und Indien, Israel und dem Libanon zu Wort. Neben individuellen Werken werden literarische Kollektivprojekte – so eine Auswahl seit Frühjahr 2020 florierender Decameron-Variationen – vorgestellt.

    „Lesen gegen die Pest?" Die Pandemie als literarisches Ereignis

    Von Anfang an erscheint die Corona-Pandemie auch als literarisches Ereignis. „Lisez […], empfiehlt Emmanuel Macron in seiner von 35 Millionen französischen TV-Zuschauer*innen verfolgten Ansprache vom 16. März 2020. Ein weiteres Mal bewährt sich „Lezen tegen de pest (Jan Baetens, KUL) als Krisenbewältigungsstrategie, ist doch alles schon „dans les livres", so François-Henri Désérable (TC 46–50); Jacques Drillon schlägt eine Runde Applaus für „Alexandre Dumas, Charles Baudelaire et Marcel Proust" vor (TC 519). Von ihrer Rettung „par les livres berichtet auch die Laienleserschaft (Kronlund 2020b). Zwischen „Your Quarantine Reader (The New York Times), „Coronavirus: de Sophocle à Stephen King […]" (France Info) und „The 20 Best Pandemic Movies, Books, Docs And Games […]" (Esquire) ist für jede*n etwas dabei; nicht nur in der Literatur manifestiert sich die krisenbedingt gesteigerte „Fiktionsbedürftigkeit" des Menschen (Iser 1993: 16).

    Eifrig wiederentdeckt wird die Epidemieklassik, allen voran „Boccaccio, Defoe, García Márquez, the usual suspects" (Carlos Fonseca, Stars 378). „Camus versus Garcia Marquez", ruft L’Express zum „match littéraire" (Payot 2020) – als Sieger geht der Autor der Pest (1947) hervor. Albert Camus’ Parabel wird zum internationalen Corona-Bestseller; Hype, der ikonoklastische Konterpositionen provoziert: „Ich mag Camus nicht", proklamiert Emmanuel de Waresquiel (Dupont 2020), während Mario Vargas Llosa La Peste zum „mediocre book" erklärt (Stars 33). Insgesamt wird ein traditioneller Kanon reaffirmiert, aber auch um Epi-/Pandemietexte aus nationalen Corpora erweitert. Dazu kommt die einschlägige Populärliteratur: Der Vergleich mit Stephen Kings The Stand (1978) macht immerhin sicher, dass Corona „no Captain Trips" ist (Yoss, Stars 421); schon am 8. März 2020 stellt der Erfinder des fiktiven Influenza-Supervirus via Twitter klar: „No, coronavirus is NOT like THE STAND. […] Keep calm and take all reasonable precautions."

    Gegen die neue ‚Pest‘ wird nicht nur gelesen, sondern auch geschrieben: Auf der Laienebene schlägt die Stunde der „écriture thérapie (Mourgues 2021); nach freilich schwer verifizierbaren Angaben greift während des Lockdowns „[u]n Français sur dix zur Feder bzw. Tastatur (Gary 2020). Einen „big spike in submissions bestätigt Literaturagentin Juliet Mushens (zit. Vincent 2020); in Indien kommen in kurzer Zeit Hunderte von Corona-Werken, oft von „first-time writers, auf den Markt (Sharma 2020). Sogar Selbstverlagsanbieter wie Kobo schreiten notgedrungen zur ‚Triage‘ (Gariépy 2020). Abseits editorialer Zwänge favorisieren niedrigschwellige digitale Formate eine Explosion von „user-created media content (Foss 2020): „En attendant, écrivons, lädt Matthieu Corpataux auf Facebook ein; der Corona-Boom von Online-Fanfiction bringt Portale an ihre technischen Grenzen (Stemberger 2021: 30f.). Zwischen Lady-Macbeth-Handwasch-Meme, #amoreaitempidelcoronavirus oder auch Twitter-„coronamerone" sind es die sozialen Medien, über die Klassik in die Breitenkultur diffundiert.

    Als erste weltweite „catastrophe that is experienced online" (Fonseca, Stars 378) aktualisiert die „Skype Pandemic" (Zoglin 2020) Potential wie Paradoxa digitaler Demokratizität. Zwar wird auch so manches professionelle Corona-Opus – von Fang Fangs Wuhan Diary bis zu Marlene Streeruwitz’ „Covid-19-Roman" So ist die Welt geworden – zunächst online publiziert; zugleich werden die Exzesse einer „geschwätzigen Pandemie (Le Goff 2021: 11f.) beklagt: „Das ist der Nachteil der digitalen Technologie, […] dass jeder zu allem seine Meinung äußern kann, und bevorzugt zu dem, was er nicht kennt, ironisiert Régis Debray (TC 320). Vor dem Hintergrund einer für Krisenzeiten charakteristischen Expansion des literarischen Feldes (Ribeiro 2020: 388) stellt sich zwischen Verteidigung künstlerischer Autonomie und Revendikation gesellschaftlicher Relevanz die Frage nach Status und Funktion der Literatur mit neuer Virulenz.

    „… delight and consolation"? Vom Unbehagen in der Corona-Literatur

    Quer durch die Genres frappiert ein gewisses Unbehagen in der Corona-Literatur, samt Kritik einer Instant-Diskursproduktion, die an ebendieser partizipiert. Vorwurfsvoll wird daran erinnert, dass Daniel Defoes die Londoner Pest 1665 dokumentierendes Journal of the Plague Year erst 1722 erscheint; auch Orhan Pamuk hatte bei der Redaktion seines Romans Veba Geceleri („Pestnächte, 2021) „the good sense to let time do its work (Morris 2020). „So gut hätte dieses Buch sein können, wenn der Autor sich Zeit gelassen hätte", bemerkt Truijens (2020) zu Daan Heerma van Voss’ Coronakronieken; freilich sei deren Aktualität „auch etwas wert". Mitten aus dem Geschehen heraus erzählt Kike Mateu seine Geschichte als Paciente cero (2020); aus der Position eines auch physisch involvierten „spectateur engagé analysiert Le Goff die „grands discours einer Société malade (2021: 11). Doch insgesamt dominiert die Skepsis gegenüber einem wohlfeilen „Trend, so Inga Kuznecova (Tolstov 2020), selbst Autorin eines Corona-Romans. In Naturkatastrophen-Metaphorik wird vor der drohenden „surproduction gewarnt, bevor die große „vague" richtig startet (Gariépy 2020).

    Jenes Unbehagen kompensieren Strategien präventiver Selbstlegitimation: Die engagierte Widmung – so bei Sizemore (2020): „for the first responders, the high risk, and the whistle blowers" – gehört ebenso zum Corona-Paratext wie der Hinweis auf den karitativen Zweck; in Zeiten der crise veröffentlicht auch Gallimard seine dazugehörigen Tracts digital kostenlos. V. a. in der populären Domäne sind Gesundheitswünsche Usus: „Bleiben oder werden Sie gesund!, richten der Leserschaft Sund/Biel (2020: 264) aus, die mit ihrem „ANTI-MIKROBIELL präparierten Cover ein kurioses Exempel pandemischer Paratextualität bieten. Über derlei Gesten hinaus stellt sich die komplexere Frage, was diese Echtzeit-Krisenliteratur leisten kann, will und soll. „Hoffnung verbreiten, „unterhalten und […] Mut machen möchte das zitierte Corona-Ende (ibid.: 6); auf delectare et prodesse – „delight and consolation, aber auch Reflexion der „true […] story – setzt das Decameron Project der New York Times (DP IX, XV). Jenem „Mangel an Vorstellungskraft, der sich hinter „fehlende[r] Solidarität verbirgt (Giordano 2020: 40), gilt es auf dem Weg der Literatur beizukommen, spielerische Schule anti-egozentrischer Imagination.

    Von Contagion bis Corona World: Corona-Literatur im medialen Kontext

    „We ‚imagine‘ this kind of disaster all the time […]", gibt Yu (2020) zu bedenken. Aus pandemischem Anlass wird die Relation zwischen Realität und Fiktion neu verhandelt: Signifikant der Fall von Peter Mays Thriller Lockdown, 2005 als „extremely unrealistic abgelehnt, im Frühjahr 2020 eilig nachgereicht (zit. Elassar 2020). „Für mich ist die Science-Fiction am Ende, alles, was man sich nach dieser Pandemie vorstellt, wird zu wenig sein, befürchtet Rafael Gumucio (zit. Espinoza 2020). Und doch sind es entsprechende Fiktionen, die einen „frame of reference (Ma 2018: 29), nur scheinbar paradoxen „comfort stiften (Vincent 2020); in der Tat verbessert filmische „Pandemic practice" individuelle Krisenresilienz (Scrivner/Johnson et al. 2021). Der Literatur ist diese Einsicht nicht neu: Seine „disaster preparedness verdankt Emily St. John Mandels Protagonist allerlei „action movies (2015: 21). Ein Film wie Wolfgang Petersens Outbreak (1995) wird als Medium populärer Bewusstseinsbildung valorisiert, ob drohender „apocalypse fatigue kontroverse Strategie (Spinney 2018: 282). Trotz SARS und Ebola habe man sämtliche „serious preparations vernachlässigt, so Žižek: „the only place we dealt with them was in apocalyptic movies like Contagion" (2020: 64). Eben Steven Soderberghs u. a. von SARS und der Influenzapandemie 2009 inspirierter Film

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