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Jenseits von Corona: Unsere Welt nach der Pandemie - Perspektiven aus der Wissenschaft
Jenseits von Corona: Unsere Welt nach der Pandemie - Perspektiven aus der Wissenschaft
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eBook405 Seiten4 Stunden

Jenseits von Corona: Unsere Welt nach der Pandemie - Perspektiven aus der Wissenschaft

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Über dieses E-Book

Die Corona-Pandemie hat unser aller Leben einschneidend verändert. Wir sind Zeugen eines multiplen Systemschocks - Schwächen und Verwundbarkeiten wurden auf vielen Ebenen bloßgelegt.
Was bleibt von der Krise und ihren tief greifenden Veränderungen? Stellt sie eine Zeitenwende dar oder ist sie nur eine Delle in langfristigen Trendlinien? Wie wird Corona unsere Lebenswelten in Familie, Arbeit, Schule, Wirtschaft, Politik, Kultur und Wissenschaft dauerhaft verändern?
Auf diese Fragen geben 32 renommierte Wissenschaftler*innen aus allen Bereichen Antworten, pointiert und kenntnisreich. Diese schlaglichtartigen Kurzanalysen fügen sich zu einem Kaleidoskop und geben den Blick frei auf die Welt nach Corona.

Mit Beiträgen von Nadia Al-Bagdadi, Michael Butter, Eva von Contzen und Julika Griem, Lars P. Feld, Bernd Fitzenberger, Gerd Folkers, Ute Frevert, Bärbel Friedrich, Markus Gabriel, Lisa Herzog, Bert Hofman, Vera King, Kai von Klitzing, Sybille Krämer, Wilhelm Krull, Jörn Leonhard, Karl-Heinz Leven, Birgit Meyer, Herfried und Marina Münkler, Jürgen Osterhammel, Bettina Pfleiderer, Shalini Randeria, Jürgen Rüland, Carl-Eduard Scheidt, Günther G. Schulze, Gert Scobel, Magnus Striet, Dieter Thomä, Andreas Voßkuhle sowie Dorothea Wagner.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum30. Sept. 2020
ISBN9783732855179
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    Buchvorschau

    Jenseits von Corona - Bernd Kortmann

    Alltag mit und nach Corona

    Corona-Gefühle

    Ute Frevert

    Zu Beginn: Angst, Solidarität, Vertrauen

    Wer an die ersten Wochen der Corona-Krise im März und April 2020 zurückdenkt, erinnert vor allem drei Gefühle: Angst und, als deren Antipoden, Solidarität und Vertrauen. Angst war das allgegenwärtige Grundgefühl, das die anderen Gefühle besänftigen und in Schach zu halten suchten. Diese tauchten, als Appell an die Bevölkerung, in fast jeder politischen Rede, jedem Medienbeitrag auf. Aber es blieb nicht bei Appellen und Wörtern: Solidarität und Vertrauen waren auch als soziale Praxis präsent, oft lange bevor sie politisch eingefordert oder medial beschworen wurden. Man konnte sie in Echtzeit beobachten, tagtäglich und in ganz verschiedenen Kontexten.

    Solidarität, das aktive Füreinander-Einstehen, übten Menschen zunächst mit denen, die das Virus am stärksten und tödlichsten bedrohte: ältere Personen und solche mit Grunderkrankungen. Kinder und Enkelkinder gingen auf Abstand zu Eltern und Großeltern, um diese nicht zu gefährden. Die Älteren mochten das zwar nicht immer verstehen oder gutheißen. Doch die Jüngeren fanden Wege, ihre solidarische Sorge nicht bloß durch physische Abwesenheit auszudrücken. Sie telefonierten häufiger, schickten Blumen, organisierten gemeinsame Abendessen via Zoom und feierten sogar Feste auf diese Weise. Wer die Mutter nicht mehr im Seniorenheim besuchen durfte, stellte sich ans Fenster oder an den Zaun davor und sandte ein Zeichen der Verbundenheit.

    Solidarität war aber mitnichten auf Familienmitglieder oder enge Freunde beschränkt. Sie umschloss auch Nachbarn, vor allem wenn sie alt oder krank waren. Jüngere und Gesündere kauften für sie ein, stellten ihnen Essen vor die Tür, erkundigten sich nach ihrem Wohlergehen. Selbst mit Personen, die man gar nicht kannte, fühlte man sich solidarisch. Dem italienischen Beispiel folgend, bedankte man sich bei jenen, die während des Lockdown weiterarbeiteten: beim medizinischen und Pflegepersonal, das in Krankenhäusern und Altenheimen seinen schweren und gefährlichen Dienst verrichtete, bei Busfahrern und Müllwerkern, bei den Kassiererinnen der Supermärkte, die sich, anfangs ohne Schutzmaßnahmen, einem erhöhten Ansteckungsrisiko ausgesetzt sahen. Gemeinsames Singen und Applaus galten denen, ohne die die vielen anderen ihren wenn auch eingeschränkten Alltag nicht hätten bewältigen können. Genau genommen aber war dies weniger Solidarität als Empathie. Denn Solidarität geht über das in den letzten Jahren so beliebte Mit-Fühlen weit hinaus, verlangt nach einer aktiven Handlung, die sich nicht im Beifallklatschen erschöpft.

    Ungeachtet dieser Differenz und trotz mannigfacher Abstufungen, machte sich in großen Teilen der Bevölkerung eine solidarische Gestimmtheit breit. Man hatte den Eindruck, im gleichen Boot zu sitzen und die Pandemie gemeinsam bewältigen zu müssen. Alle teilten das Interesse, gesund zu bleiben und andere vor Ansteckung zu schützen. Es gab ein übergreifendes Gefühl des Zusammenhalts. Der Begriff, der im Koalitionsvertrag von 2018 19-mal vorkam, nahm plötzlich konkrete Gestalt an – und fühlte sich gut an. Die Nation rückte zusammen, jenseits aller politischen Zerwürfnisse und Polarisierungen, die zuvor den öffentlichen Raum beherrscht hatten. Gezwungenermaßen machte sie sogar beim Klimaschutz gemeinsame Sache. Da der Flugverkehr zum Erliegen kam, blieben auch jene am Boden, die sich sonst um ihren ökologischen Fußabdruck keinen Deut scherten.

    Obwohl die Grenzen über Nacht und oft ohne Absprache geschlossen wurden, konnte man sogar grenzübergreifend Hilfe leisten für Länder und Regionen, die von der Pandemie besonders hart getroffen wurden. Krankenhäuser in der Bundesrepublik nahmen Schwerstinfizierte aus dem Elsass und der Lombardei auf und bewiesen damit aktive Solidarität. Die gewohnten Schuldzuweisungen blieben ebenso aus wie das selbstgerechte Schulterklopfen, dass man alles richtiggemacht habe und andere alles falsch. Allenfalls ertönte ein Lob des deutschen Föderalismus, der es lokalen oder regionalen Akteuren erlaubte, selbstständig zu handeln, anstatt, wie in Frankreich, von den oft unzureichenden und fehlgeleiteten Maßnahmen der Zentralregierung abhängig zu sein.

    Aber auch die Berliner Regierung erhielt Lob aus der Bevölkerung. Die eindringliche Rede der Kanzlerin am 18. März 2020 zeitigte Wirkung. Man traute Angela Merkel und ihren Minister*innen zu, das Land gut zu regieren und durch die Krise zu bringen. Man vertraute ihnen, dass sie nach bestem Wissen und Gewissen handelten, dass sie kompetenten wissenschaftlichen Rat einholten und widerstreitende Interessen sorgfältig abwogen. Während einzelne Ministerpräsidenten allzu offensichtlich um persönliche Profilierung bemüht waren und sich durch ihr jeweiliges Krisenmanagement für höhere Aufgaben zu qualifizieren suchten, vermittelte die Hauptstadtregierung den Eindruck, dass ihr an nichts mehr gelegen sei als an der Gesundheit der Bürger*innen. Eben das verschaffte ihr allgemeines Vertrauen. Es war, glaubt man Meinungsumfragen und Trust-Barometern, im April 2020 deutlich größer als vor der Krise.

    Vertrauen ist, anders als Treue, weder bedingungslos noch ewig. Es kann jederzeit entzogen werden. Solange es da ist oder gar zunimmt, stattet es die Vertrauensnehmer mit einem unschätzbaren Kapital aus. Auf dieser Vertrauenswelle surft das Kabinett bis heute (August 2020). Sie hat es sogar über die merkwürdigen Hygiene-Proteste und Demonstrationen derjenigen getragen, die sich aus sehr unterschiedlichen Gründen gegen die amtlichen Einschränkungen zu Wort meldeten. Die Mehrheit der Bevölkerung ist nach wie vor der Meinung, dass die Regierung Vertrauen verdient und es sich durch eine responsive, transparente Politik erarbeitet hat.

    Vertrauen richtet sich aber nicht nur vertikal auf die Regierung. Es gilt auch, horizontal, den Mitmenschen. Erhebungen für das Sozioökonomische Panel aus den Monaten April und Mai 2020 haben ergeben, dass der Index für zwischenmenschliches oder bürgerschaftliches Vertrauen gegenüber 2018 deutlich gestiegen ist. Der soziale Zusammenhalt bekommt entsprechend bessere Noten.

    Zwischendrin: Gefühlsrisse

    Das alles klingt nach einer Erfolgsgeschichte, getreu dem vielfach wiederholten Motto, die Krise konstruktiv zu wenden und dafür zu nutzen, gesellschaftliche, ökonomische, politische Schwachstellen zu reparieren. Aber es gab auch gegenläufige Erscheinungen.

    Dazu gehörte und gehört der neue Volkssport der Abstandsbeschämung, im Englischen heißt er social distancing shaming. In Deutschland weckte er besonders negative Erinnerungen. Manche dachten dabei an die im Nationalsozialismus geförderte Blockwartmentalität, andere an die Überwachungsgesellschaft der DDR mit ihrem engmaschigen Netz von Informanten, Zuträgern und Denunzianten. Im Frühjahr 2020 dagegen bedurfte es weder einer Verpflichtungserklärung noch ideologischer Indoktrination. Bürger*innnen beteiligten sich freiwillig und ohne jede Gratifikation daran, andere bloßzustellen und öffentlich vorzuführen, wenn sie die Abstandsregeln nicht einhielten. Sie schimpften und keiften, nahmen das Messband heraus und fanden andere ausdrucksstarke Wege, das zu rügen, was sie als Gefährdungsverhalten wahrnahmen. Viele nutzten das Internet und die sozialen Medien, um ihre Beobachtungen über das Fehlverhalten anderer weiträumig mitzuteilen.

    Die Bereitschaft, alle zu verdächtigen und mit dem Finger auf sie zu zeigen, war weit verbreitet. Wer die Regeln missachtete, ob bewusst, aus Nachlässigkeit oder Vergesslichkeit, sah sich rasch als Volksschädling gebrandmarkt. Besonders hässlich ging es in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern zu, als die Landesregierungen Personen, die dort nicht ihren ersten Wohnsitz hatten, nach Hause schickten und die Grenzen schlossen. Viele Nord- und Ostseeurlauber berichteten von Einheimischen, die ihnen offen feindlich begegneten und sie unwirsch aufforderten, das Land umgehend zu verlassen.

    Was sich als berechtigte Sorge um die eigene Gesundheit ausgab, verband sich allzu oft mit einem aggressiv fremdenfeindlichen Reflex. Hier brachen ältere Konfliktlinien auf. In Schleswig-Holstein war es der Gegensatz von Stadt (Hamburg) und Land, in Mecklenburg-Vorpommern traten Ost-West-Spannungen hinzu. Viele (aber längst nicht alle) Besitzer von Ferienwohnungen und Häusern stammen aus den alten Bundesländern. Die Einheimischen verkauften ihnen zwar die Grundstücke, nutzten die Zweitwohnungssteuern und profitierten ökonomisch von dem saisonalen Urlauberzustrom. Aber sie pflegten nicht selten auch ein Ressentiment gegen diejenigen, die sich das alles leisten konnten. Im April 2020 trat es offen zutage.

    Konnten die abgewiesenen Urlauber immerhin zu ihren Erstwohnsitzen zurückkehren, traf es andere, die als fremd angesehen wurden, sehr viel schlimmer. Schon bald berichteten Deutsche asiatischer Herkunft darüber, dass ihnen Abwehr, Misstrauen, manchmal sogar blanker Hass entgegenschlugen. Man beschuldigte sie, die Krise verursacht zu haben; schließlich kam das Virus ja aus China. Jede Person mit asiatischen Gesichtszügen konnte demgemäß in Sippenhaft genommen werden. So absurd solche Zuschreibungen anmuten, so bedrohlich wirkten sie auf die Stigmatisierten.

    Das Muster, Fremde oder die, die man nicht als zugehörig betrachtet, für alles Unglück verantwortlich und haftbar zu machen, ist altbekannt. Gern hielt man sich an den eigenen sozialen, konfessionellen oder nationalen Minderheiten schadlos. Vor allem Juden bekamen die Ausgrenzungsenergien ihrer Mitbürger*innen immer wieder heftig und leibhaftig zu spüren. Sie blieben auch in der Corona-Krise nicht davon verschont. Auf den Hygienedemos konnte man so manches Plakat oder Schild entdecken, auf dem »Juden« wie Bill Gates – der nicht jüdisch ist – verdächtigt und beschuldigt wurden, das Virus in die Welt gesetzt zu haben und davon zu profitieren. Auch im Internet kursieren antisemitisch getönte Verschwörungstheorien. Man mag das als Irrsinn abtun. Aber angesichts der nach wie vor virulenten antisemitischen Grundstimmung, die laut Umfragen etwa ein Viertel der deutschen Bevölkerung – im Osten mehr als im Westen – teilt, birgt dieser Irrsinn reale Gefahren.

    Gefährlich wird die Situation auch für die, die als Migranten unter emsiger Beobachtung stehen. Wenn sich russlanddeutsche Freikirchler*innen in Bremerhaven oder rumänische Großfamilien in Göttingen und Magdeburg infizieren, fühlen sich viele in ihren Vorurteilen gegen »Ausländer« bestätigt. Informationen über Hotspots, die nicht-migrantische Deutsche betreffen, rufen in der Regel weit weniger Empörung und Emphase hervor. Ein interessanter Sonderfall ist der Skandal um die hohe Infektionsrate unter Arbeitern, die in der Fleischindustrie beschäftigt sind. Auch bei ihnen handelt es sich überwiegend um Nicht-Deutsche. Aber sie gelten diesmal nicht als Täter, sondern als Opfer. Verantwortlich zeichnen hier, darüber herrscht allgemeine Übereinstimmung, die Fabrikbesitzer und Betreiber, die ihren Arbeitnehmern infektionssteigernde Arbeits- und Lebensbedingungen zumuten und den eigenen Profit mehren.

    All diese Beispiele zeigen, wie brüchig der anfangs so freudig begrüßte gesellschaftliche Zusammenhalt im Verlauf der letzten Monate geworden ist. Die im Mai 2020 eingeführten Lockerungen haben die Bruchlinien weiter verstärkt. Auf die neuen Verhaltensoptionen greifen Menschen in unterschiedlicher Weise zurück. Manche setzen sich ostentativ oder gleichgültig über die nach wie vor bestehenden Abstands- und Hygieneregeln hinweg und ärgern damit andere, die sich davon gefährdet fühlen. Jüngere sind generell unbekümmerter als Ältere, auch der Bildungsabschluss scheint eine Rolle zu spielen. Unter Handwerkern konnte man schon vor der Lockerung beobachten, dass viele die Schutzmaßnahmen offenkundig überflüssig und entbehrlich fanden. Das akademische Milieu hingegen lässt gemeinhin größere Vor- und Rücksicht walten – vielleicht deshalb, weil man mehr über die mit einer Infektion verbundenen Risiken weiß, oder weil man den wissenschaftlichen Kolleg*innen (Virolog*innen) vertraut, oder weil man sich schlicht als zuverlässige Mitbürgerin benehmen möchte.

    Auch politische Differenzen gewinnen an Bedeutung. Sie sind hierzulande zwar noch nicht so ausgeprägt wie in den USA, wo sich Republikaner und Demokraten danach unterscheiden, wie sie es mit der Maske halten. Während der republikanische Präsident auf Mund-Nasen-Schutz (MNS) und Abstandsregeln pfeift, gibt sein demokratischer Herausforderer Interviews nur noch mit Maske – weswegen ihn das republikanische Fußvolk lächerlich macht und ihm Mangel an Männlichkeit vorwirft. In Deutschland halten sich die meisten Politiker*innen an die Maskenpflicht und reagieren beschämt, wenn sie ohne MNS ertappt werden. Lediglich Abgeordnete der AfD – zu fast 90 Prozent männlichen Geschlechts – widersetzen sich den offiziellen Vorschriften und fühlen sich cool dabei.

    In Zukunft: Corona-Blues

    Wie lassen sich solche Erscheinungen und Entwicklungen gewichten? Welche Schlüsse kann man aus den emotionalen und verhaltenspraktischen Rissen der letzten Wochen und Monate ziehen – nachdem der Beginn der Krise von einer großen Einmütigkeit und, mehr noch, von einem starken Bedürfnis der Gesellschaft nach Zusammenhalt, Vertrauen und Solidarität gekennzeichnet war?

    Zunächst ist festzuhalten, dass dieses Bedürfnis ebenso konventionell ist wie seine Realisierung unwahrscheinlich. Moderne Gesellschaften zeichnen sich seit dem 19. Jahrhundert durch einen hohen Grad sozialer, politischer, ökonomischer und kultureller Differenzierung und Pluralisierung aus. Manche Menschen leiden darunter mehr als andere. Aber sogar bekennende Individualisten genießen ab und zu das Bad in der Menge und das Gefühl, sich im Gleichklang mit vielen anderen zu bewegen. So war das berühmte Augusterlebnis von 1914 zu verstehen, als im kriegerischen Aufbruch angeblich alle politischen, regionalen, konfessionellen Trennlinien aufgehoben waren und selbst der Kaiser nur noch Deutsche kennen wollte. Viele dankten es ihm von Herzen. Auch der Nationalsozialismus dockte an diese Volksgemeinschaftsträume an und versprach den »rassisch« genehmen Volksgenossen, Einzel- und Partikularinteressen würden fortan hinter denen der Gesamtheit zurückstehen. Die DDR punktete mit der Abschaffung der Klassengesellschaft und band die Werktätigen in millionenstarke »Massenorganisationen« wie FDGB, DSF, FDJ etc. ein. Bis heute schwärmen ihre Bürger*innnen davon, wie groß der soziale Zusammenhalt im Staat hinter der Mauer gewesen sei – und wie sehr sie ihn im neuen Deutschland vermissen. Vor Corona hat allenfalls das »Sommermärchen« von 2006 einen solchen Gleichklang vermittelt, als nicht nur Deutsche und nicht nur Fußballfans die Welt zu Gast luden und sich von ihrer freundlichsten Seite zeigten.

    Die Corona-Krise mit der Fußballweltmeisterschaft, dem Kriegsausbruch 1914 und der NS-Ideologie auf eine Stufe zu stellen, mag gewagt klingen. Aber was das Bedürfnis nach Zusammenhalt und die Sehnsucht nach sozialem Kitt betrifft, fallen tatsächlich Ähnlichkeiten ins Auge. Dass eine Demokratie vielstimmig ist und leidenschaftlichen Streit ebenso braucht wie konstruktive Kompromisse, ist das eine. Dass Menschen nicht immer nur streiten mögen und positive Zeichen gemeinsamer Zugehörigkeit schätzen, das andere. Die Solidarität und das wechselseitige Vertrauen, das die Krise in den Anfangsmonaten begleiteten, waren solche Zeichen, und man denkt gern daran zurück.

    Allerdings musste es niemanden verwundern, wenn sie nicht von Dauer waren und der Streit schon bald wieder von vorne begann. In dem Maße, wie partikulare Interessen sich zu Wort meldeten und ihr Recht einklagten, kehrte die Gesellschaft zum Normalmodus zurück. Und stellt die Politik vor die übliche Aufgabe, diese widerstreitenden Interessen zu moderieren, abzuwägen und über sie zu entscheiden. Dabei hilft ihr das in der Krise akkumulierte Vertrauenskapital. Aber auch dieses Kapital wird über kurz oder lang aufgezehrt sein und muss dann neu erarbeitet werden. Das bringen die zeitlichen Rhythmen, nach denen demokratische Systeme funktionieren, zwangsläufig mit sich. Nur totalitäre Regime versuchen, Gesellschaften auf Dauer zu befrieden und stillzustellen.

    Auf einen solchen Stillstand legen es die wenigsten Bürger*innen dieses Landes an. Zwei einschlägige Experimente im letzten Jahrhundert haben sie erfolgreich gegen die Sirenenklänge zwangsharmonisierter Gemeinschaften immunisiert. Dennoch senden die Erfahrungen aus dem Frühjahr 2020 ein starkes Signal, das in der Erinnerung nachwirken wird. Solidarität ist möglich, und sie bereitet, bei allen gebotenen Einschränkungen, Freude und Wohlgefühl. Und auch Vertrauen ist herstellbar, sowohl horizontal als auch vertikal. Die Regierung hat sich dieses Vertrauen nicht durch autoritär-überhebliches Gebaren, sondern durch kluge, vorsichtige, transparente Entscheidungen verdient. Ihrerseits hat sie den Bürger*innen Vertrauen geschenkt, indem sie, anders als in Frankreich, Spanien oder Italien, auf dramatische Eingriffe in deren Freiheitsrechte verzichtete.

    Wie sich das horizontale Vertrauen der Gesellschaftsmitglieder untereinander in Zukunft entwickeln wird, ist eine offene Frage. Dass die Risse so rasch wieder aufbrachen, spricht gegen voreiligen Optimismus. Vermutlich werden sie sich eher vertiefen als verringern. Denn die Corona-Krise erfasst die Gesellschaft existenzieller als die Wirtschafts- und Finanzkrisen der jüngsten Vergangenheit. So einschneidend und folgenreich letztere auch waren, so wenig bedrohten sie Leib und Leben jedes und jeder Einzelnen. Leib und Leben aber haben in den spätmodernen Gesellschaften einen beinahe sakralen Status erlangt. Je saturierter diese Gesellschaften ungeachtet ihrer gravierenden sozioökonomischen Unterschiede sind, desto mehr verlangen die Mitglieder nach Sicherheit und Bestandsschutz. Und desto heftiger wird die Aversion gegen jene, die diese Sicherheit bedrohen, indem sie andere durch ihr als unsolidarisch wahrgenommenes Verhalten gefährden. Das ist der Nährboden für Misstrauen, wenn nicht gar für polarisierende Feindschaft. Bis das nächste Virus anklopft…

    Kindheit in Zeiten von Corona

    Kai von Klitzing

    Szene 1

    Die Eltern der 7-jährigen Anna suchen ärztlichen Rat. Sie machen sich Sorgen, weil ihre Tochter sozial überall aneckt und unglücklich wirkt. Anna geht in die erste Klasse und kann schon ganz gut lesen und schreiben. Aber der Rektor der Grundschule hat mehrfach mit den Eltern Kontakt aufgenommen, weil Anna so gar nicht bereit ist, sich an die Regeln des Schulbetriebs zu halten. Beide Eltern sind Juristen in hochrangigen Positionen; die Familie mit noch zwei älteren Geschwistern lebt in einer Villa mit parkähnlichem Garten. Der seit zwei Monaten bestehende Lockdown kommt jetzt langsam zu seinem Ende. Anna war schon einmal wieder in der Schule. Alle haben die Zeit als belastend empfunden: die berufliche Unsicherheit, die Arbeit im Home Office und die Betreuung der Kinder. Die Mutter sagt: »Aber es hat auch etwas Gutes, ich konnte mich endlich mal um die Rechtschreibung meiner Tochter kümmern. Sie lernen doch heute mit anderen Methoden als wir früher und Anna hatte so gar keine Ahnung, wie man die Worte richtig schreibt.« Dann zeigt sie einen selbst erstellten Videoclip auf ihrem Handy. Anna spielt Volleyball im Garten der Familie, übt Saltos auf dem Trampolin, klettert ins eigens konstruierte Baumhaus und spielt mit dem Vater Schach sowie mit der Mutter Federball. Sie zeigt Kunststücke, reitet auf dem eigenen Pferd und rast mit dem Skateboard über den Hof. Und doch ist sie unglücklich. Trotz allen Luxus hat Anna die Abgeschiedenheit im von den Eltern bereitgestellten Familienluxus als ein Gefängnis erlebt.

    Szene 2

    Die Betreuerin aus einem Schulkinderprojekt klingelt an der Tür von Selims Familie in einem Mietshaus. Selim ist 7 Jahre alt und besucht als Integrationskind eine erste Grundschulklasse. Er hat einen Sprachfehler, und es fällt ihm schwer, sich auf Deutsch zu verständigen. In der Schule wird Deutsch gesprochen, in seiner Familie die Sprache des Herkunftslandes seiner Eltern, er kann dem Schulunterricht nur schwer folgen. Trotzdem konnte er in seine Klasse integriert werden und auch schon Fortschritte in der Schule machen. Nun macht die Betreuerin sich Sorgen. Seit sechs Wochen sind die Schule und die Schulkinderbetreuung geschlossen. Die Kinder haben »Hausaufgaben« mitbekommen, und der Lehrer versucht, ihnen Lernmaterial zuzusenden. Von Selim hat man aber sechs Wochen nichts mehr gehört. Es ist nun gelungen, über eine Smartphone-Verbindung mit dem älteren Bruder einen Besuchstermin zu vereinbaren. Pünktlich erscheint Selim an der Haustür. Seine Eltern haben ihn gut vorbereitet, er trägt Mundschutz und Handschuhe. Es ist das erste Mal nach sechs Wochen, dass er die elterliche Wohnung verlässt. Keiner weiß, wie er sich in der zurückliegenden Zeit beschäftigt hat. Der Vater geht tagsüber arbeiten, die Mutter hat eine Teilzeitstelle zum Putzen und kümmert sich ansonsten um die vier Kinder. Selim freut sich, seine Betreuerin wiederzusehen, ist aber auch unsicher und schüchtern, weil er nicht wirklich weiß, was der Anlass des Besuches ist. Beide gehen in einen nahegelegenen Park, damit Selim sich mal wieder richtig bewegen kann. Seine Sprache hat sich verschlechtert, und er ist schwer zu verstehen. Von den in der ersten Schulklasse erworbenen lexikalischen Fähigkeiten ist nichts mehr übriggeblieben.

    Auswirkungen des Lockdowns auf Kinder

    Kinder sind weltweit von der Corona-Krise stark betroffen. Schon die Geburt lief in den meisten Kliniken in völlig veränderter Form ab. Mehrere Wochen hatten die Väter keinen Zugang zum Kreißsaal, und die Mütter waren allein beim Gebären. Gerade sehr junge Kinder, die auf den emotionalen Austausch mit ihren Eltern oder anderen Betreuungspersonen angewiesen sind, litten unter der Einschränkung ihrer Kontaktmöglichkeiten. Viele Gesichter sehen sie nur noch hinter Masken verschleiert, sie können sich kein Bild über die emotionalen Regungen des Gegenübers machen. Der Kontakt zu Gleichaltrigen war lange Zeit praktisch komplett unterbunden, die Kita und die Schule waren geschlossen. Ist das Kindeswohl im Rahmen von prekären Familienverhältnissen gefährdet, gibt es kaum noch Kontrolle von außen: Kein Lehrer sieht die Kinder, die Besuche durch Sozialarbeiter der Jugendschutzbehörden waren auf ein Minimum reduziert. Je nach Wohnungssetting war die Bewegungsfreiheit massiv eingeschränkt. Der Kontakt zur weiteren Familie, z.B. zu den geliebten Großeltern, ist unterbrochen. Alle Kinder sind dadurch belastet, aber die Last ist umso höher, je beschränkter die finanzielle und soziale Situation der Familien ist. Erstklässler aus armen und unterprivilegierten Familien haben fast keine Chance, das Klassenziel nach Wiederaufnahme der Schule zu erreichen. Man denkt daran, sie das erste Schuljahr wiederholen zu lassen. Der Unterschied von Bildungschancen zwischen bildungsnahen und bildungsfernen Familien, welcher in unserer wohlhabenden Gesellschaft sowieso schon sehr groß ist, hat sich in der Krise massiv verschärft.

    Das Robert Koch-Institut als Taktgeber für alle gesellschaftlichen Anti-Corona-Maßnahmen in Deutschland empfahl bereits im Februar, dass Kinder wie Erwachsene zu anderen einen Abstand von 1,5 m halten sollten. Außerdem sollten Kinder nicht mehr als zwei Personen gleichzeitig treffen. Kinder, die von ihrem Alter her nicht in der Lage seien, konstant die Distanz zu wahren, sollten zu Hause bleiben. Welche Auswirkungen diese Maßnahmen je nach sozialer Herkunft für die Kinder haben, ist in den beiden Eingangsszenen beschrieben. Insbesondere junge Kinder trugen und tragen die höchste Last im Rahmen der gesellschaftlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie. Kinder in den ersten Lebensjahren brauchen dringend den engen körperlichen Kontakt zu ihren Elternfiguren, aber auch zu ihren Geschwistern und Gleichaltrigen und anderen wichtigen Erwachsenen. Die Einsamkeit, der viele Menschen unterworfen sind, stellt ein wesentliches Risiko für frühe Eltern-Kind-Beziehungen dar. Insbesondere junge Eltern brauchen viel Unterstützung, z.B. durch ihre Eltern oder durch die Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung. Die Situation von Kindern in westlichen industrialisierten Ländern mag noch erträglich sein im Vergleich zur Situation von Kleinkindern und Eltern aus Regionen der Welt, in welchen Armut, Hunger, Krieg und Migration vorherrschen.

    Kinder als Trojanische Pferde?

    Müssen nun Kinder und ihre Eltern die Last auf sich nehmen, weil wir sie vor der Infektion schützen müssen? Nein, ihr eigener Schutz begründet alle die Maßnahmen nicht! Die epidemiologischen Studien aus den Hotspots der Pandemie zeigen ein klares Bild: Kinder sind deutlich seltener von einer Sars-CoV-2-Infektion betroffen als Erwachsene (Cao et al. 2020). Dabei ist die Datenlage nicht vollständig, weil viele Infektionen asymptomatisch verlaufen und deswegen in den Studien nicht erfasst werden. Hieraus ergibt sich aber auch eine weitere Erkenntnis: Die meisten infizierten Kinder erkranken nicht oder nur mit sehr milden Symptomen, für sie bedeutet der Virus keine wirkliche Bedrohung (Götzinger et al. 2020). Nur in sehr wenigen berichteten Fällen ist es zu schweren Erkrankungen bei kleinen Kindern gekommen (z.B. Bassareo et al. 2020), keinesfalls häufiger als bei anderen Krankheiten im Kindesalter. Man muss klar sagen: Covid-19 ist für Kinder keine bedrohliche Krankheit. Wenn Kinder also im Rahmen der Pandemie eingeschränkt werden, so nicht um sie zu schützen, sondern zum Schutz von Erwachsenen in der Umgebung der Kinder. Auch in diesem Zusammenhang sind allerdings die Befunde bisher nicht eindeutig. Die Befürchtung vieler Epidemiologen ist, dass Kinder, die sich bei ihren Eltern angesteckt haben, den Infekt in die Schule oder die Kita tragen, dort andere Kinder anstecken und dass diese wiederum ihre Familien anstecken. Demnach würden Kinder zu »Superspreadern«. Mediziner, die gerne zu einer blumigen Sprache neigen, sprachen in diesem Zusammenhang auch von Kindern als »Trojanische Pferde«, d.h. sie wirken harmlos, aber richten einen explosiven Schaden an. An sich gesund wirkende Kinder werden gemäß dieser Annahme zu einer großen Gefahr für die Welt der Erwachsenen und vor allem für alte Menschen. Hierzu ist die Befundlage aber auch noch unklar. In Deutschland brach ein weit in die Boulevardpresse hinein getragener Streit darüber aus, ob Kinder überhaupt so wie Erwachsene den Virus aufnehmen, also angesteckt werden können, und ob sie dann andere Menschen wiederum anstecken. Analysen, die die Viruslast messen, zeigten, dass die oberen Luftwege von Kindern ebenso hoch besiedelt waren wie bei Erwachsenen, wobei die Anzahl der Kinder in den Untersuchungen gering war (Jones et al. 2020). Auf der anderen Seite zeigte eine Studie in den Niederlanden, in welcher man 700 Ansteckungspfade identifiziert und analysiert hat, dass die Übertragung von Kindern auf Erwachsene praktisch keine Rolle bei den Ansteckungen gespielt hat, wogegen die wenigen infizierten Kinder von Erwachsenen angesteckt wurden (van der Hoek et al. 2020).

    Die sozialen Auswirkungen der Pandemiesituation auf die Entwicklung der kindlichen Psyche ist bisher kaum wissenschaftlich untersucht. Was wir wissen ist, dass das Ausmaß an psychischen Symptomen unter Erwachsenen in Verbindung mit der Pandemie erschreckend hoch ist (Fangyuan et al. 2020) und dass viele erwachsene Menschen vermehrt unter Ängsten leiden (Balkhi et al. 2020). Wir können also davon ausgehen, dass Kinder vermehrt mit Ängsten ihrer wichtigsten Bezugspersonen konfrontiert sind, was auf Grund ihrer Abhängigkeit für sie wohl auch eine erhebliche psychische Belastung bedeutet. Neben der Last der sozialen Isolation bringt also auch die Belastung ihrer nahen Bezugspersonen einen schwer zu verkraftenden Druck mit sich.

    Was kann Kindern aus der Sackgasse helfen?

    Kinder sind verwundbar in Bezug auf schädigende Umwelteinflüsse, Vernachlässigung, Misshandlung und sozial-ökonomische Instabilität, aber sie werden im Rahmen der Pandemie in der Regel nicht körperlich krank. Wissenschaftler und Mediziner vermuten, dass diese geringere biologische Vulnerabilität mit ihrem flexibleren Immunsystem zusammenhängt. Bis zu einem gewissen Grad gibt es auch eine Flexibilität der Psyche im jungen Alter. Ein 13-jähriges Mädchen beschreibt ihre Einstellung zu den Corona-bedingten

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