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Present Shock: Wenn alles jetzt passiert
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eBook383 Seiten6 Stunden

Present Shock: Wenn alles jetzt passiert

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Über dieses E-Book

Maschinen, die für uns arbeiten, damit wir mehr Zeit für uns haben! Was einmal wie ein Traum vom Paradies klang, hat eher albtraumhafte Züge angenommen. Statt auf dem Rücken liegend den Vogelflug zu bewundern, sind wir Sklaven von Email, Twitter und Facebook geworden. Wir sehen von allem zu viel und doch nie das richtige, da zuviele Welten gleichzeitig um unsere Aufmerksamkeit konkurrieren. Diagnose: Present Shock.
Douglas Rushkoff fasst in Worte, was wir alle erleben, aber kaum einordnen können. Seine kritische Bestandsaufnahme als Medientheoretiker und als Betroffener erklärt, wodurch wir den Augenblick verloren haben. Er eröffnet eine Perspektive auf das Leben im digitalen Zeitalter, die uns das gewaltige Ausmaß des Umbruchs vor Augen führt - und uns auf geradezu kathartische Art und Weise damit versöhnt.

»Wir wissen zwar nicht mehr, wo es langgeht, aber wir kommen viel schneller voran.«
SpracheDeutsch
Herausgeberorange-press
Erscheinungsdatum14. Apr. 2014
ISBN9783936086751
Present Shock: Wenn alles jetzt passiert

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Bewertung: 3.8 von 5 Sternen
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  • Bewertung: 3 von 5 Sternen
    3/5
    Rushkoff understands how our tools are changing us and is able to pause long enough to reflect on what this means. Recommended.
  • Bewertung: 4 von 5 Sternen
    4/5
    This book is a little old now, probably belonging more to the 2005-2015 era when we were still defining the "Web 2.0" trend. Still, I thought it had some lessons for 2020, primarily to slow down and breathe where you can, because humans aren't being blessed with more resources to handle the increasing glut of information and events happening to us. The author's jargon was original, if a little too precious.
  • Bewertung: 3 von 5 Sternen
    3/5
    With a nod to Alvin Toffler, Rushkoff speaks to our relationship with time, one that has been shaped by both culture and technology. He denotes a marked shift in our focus from futurism to presentism, and while upon first blush this sounds like a vast improvement - evoking the ideas of Eckhart Tolle and The Power of Now - Rushkoff points out that the now we are chasing in our Facebook updates and Twitter feeds is a moment that has just passed somewhere else.
  • Bewertung: 4 von 5 Sternen
    4/5
    Very useful to understand some trends of the modern era, some of them related to social media

Buchvorschau

Present Shock - Douglas Rushkoff

Zeit.

1 | Narrativer Kollaps

Ich hatte mich auf das 21. Jahrhundert gefreut. In den 1990ern ging das den meisten so: Unser Blick ging nach vorn. Alles schien sich zu beschleunigen, die Rechengeschwindigkeit der Computer genauso wie das Wachstum der Märkte. Auf allen PowerPoint-Folien sah man die gleiche steile Aufwärtskurve, ob es nun um die Höhe des zu erwartenden Profits, die Anzahl der Computernutzer oder den CO2-Ausstoß ging – das Wachstum war exponentiell.

1965 hatte Intel-Mitgründer Gordon Moore das mooresche Gesetz formuliert, eine Faustregel für den technologischen Fortschritt, die besagte, dass sich die Rechnerleistung alle zwei Jahre verdoppeln würde. Aber nun schien sich auch alles andere im Handumdrehen zu verdoppeln: der Aktienindex, die Arztrechnung, die Internetgeschwindigkeit, die Anzahl der Kabelfernsehsender. Wir hatten uns nicht nur an einzelne Veränderungen zu gewöhnen, sondern an die wachsende Geschwindigkeit, mit der die Veränderungen auf uns zukamen. Wir erlitten, wie es der Zukunftsforscher Alvin Toffler nannte, einen Zukunftsschock.

Daraufhin traten wir die Flucht nach vorn an. Jeder und alles richtete sich auf die Zukunft aus. Nicht, weil wir uns auf etwas Bestimmtes freuten, sondern weil unser Blick ganz allgemein in die Zukunft ging. Trendforscher und »Cool Hunter«, die einen exklusiven Ausblick auf das nächste große Ding versprachen, gehörten zu den bestbezahlten Beratern überhaupt. Optimistische Bücher über Die Zukunft des … füllten die Regale der Buchläden und wurden später von Titeln à la Das Ende der … abgelöst. Worum es jeweils ging, spielte eigentlich keine Rolle; es zählte nur, dass sie eine Zukunft hatten oder – und das war fast noch beruhigender – dass sie eben keine hatten.

Wir alle waren Zukunftsforscher, angetrieben von neuen Technologien, neuen Theorien, neuen Geschäftsmodellen und Denkansätzen, die nicht einfach nur mehr versprachen, sondern etwas völlig anderes: eine Verschiebung mit unbekannter Stoßrichtung und von noch nie da gewesenem Ausmaß. Mit jedem Jahr, das verging, zog es uns stärker zu einer Art »chaotischem Attraktor« hin, und je näher wir kamen, desto schneller schien die Zeit abzulaufen. Schließlich befanden wir uns in den letzten Jahren des letzten Jahrzehnts des letzten Jahrhunderts vor der Jahrtausendwende. Der unaufhaltsame, vom Internet verstärkte Boom der 1990er-Jahre war von genau diesem Blick nach vorne geprägt, von der Sehnsucht nach dem erlösenden Abschluss, dem ultimativen Wechsel ins nächste Jahrtausend.

Pedanten zählten das Jahr 2000 noch zum 20. Jahrhundert, doch uns galt es als Beginn eines neuen Zeitalters. Wir fieberten der Veränderung entgegen wie gläubige Millenaristen der Wiederkunft Christi. Die meisten erwarteten den Umbruch allerdings eher in der säkularen Gestalt des millenium bug: Computersysteme, die das Jahr in zwei Ziffern codierten, drohten am Übergang zur doppelten Null zu scheitern. Aufzüge würden stecken bleiben, Flugzeuge vom Himmel fallen, Kernkraftwerke eine Kernschmelze erleben – es wäre das Ende der Welt, wie wir sie kannten.

Und falls uns der Y2K-Bug verschonte, würden uns die Terroristen kriegen. Der Elfte September lag noch in der Zukunft, aber schon am 31. Dezember 1999 war man bei den Feierlichkeiten auf dem Times Square auf einen terroristischen Anschlag gefasst. In Seattle hatte man die Festivitäten aus Angst vor einem Terrorangriff sogar abgesagt. Die Berichterstatter von CNN verfolgten das mitternächtliche Hinüberschreiten ins neue Jahrtausend Zeitzone um Zeitzone und verglichen das Feuerwerk über dem Eiffelturm mit dem über der Freiheitsstatue.

Aber das Spektakulärste, was es von den verschiedenen Zwischenstationen zu berichten gab, war, dass überhaupt nichts Spektakuläres geschah – weder in Auckland noch in Hong Kong und auch nicht in Kairo, im Vatikan, in London, Buenos Aires oder Los Angeles. Die Flugzeuge blieben in der Luft – KLM hatte sicherheitshalber nur 3 ihrer 125 Maschinen im Einsatz –, und kein einziger Terroranschlag wurde verübt. Die Jahrtausendwende war eine einzige Antiklimax.

Aber etwas veränderte sich doch in dieser Nacht. Das Gefühl der Erwartung ließ nach. Der Blick in die Zukunft wich einer Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Die Menschen fragten sich nicht mehr, was geschehen würde, sondern begannen, sich mit dem zu beschäftigen, was schon war.

Auf den Finanzmärkten etwa wurde der aktuelle Stand einer Geldanlage wichtiger als ihr zukünftiger Wert. Zehn Wochen nach der Jahrtausendwende erreichte der NASDAQ – der größte Markt für zukunftsorientierte Technologieunternehmen – mit 5.100 Punkten sein Allzeithoch, nur um kurz darauf abzustürzen. Er hat sich bis heute nicht erholt. Schuld gab man der Dotcom-Blase, dabei hatte der Absturz wenig damit zu tun, ob die digitalen Technologien hielten, was sie versprachen, oder eben nicht. Er markierte vielmehr einen umfassenden gesellschaftlichen Wandel: Was für die Menschen zählte, war nicht mehr der erwartete, sondern der aktuelle Wert einer Anlage. Die Perspektive eines Investments, auf die sich seine Gewinnaussichten gründeten, seine »Story«, verlor gegenüber der Jetztzeit an Bedeutung: Wie stehen meine Aktien im Moment? Wie viel Geld besitze ich tatsächlich? Was ist mein Portfolio jetzt wert?

Die bis dahin erfolgreich erzählte Geschichte vom unbegrenzten Wachstum der Aktienmärkte war nur eine von vielen in einer auf die Zukunft fixierten Gesellschaft. Alle großen »Ismen« des 20. Jahrhunderts – ob Kapitalismus, Kommunismus, Protestantismus, Republikanismus, Utopianismus oder Messianismus – beruhen auf einer großen, sinnstiftenden Erzählung. Nicht das, was sie in der Gegenwart leisten, macht sie aus, sondern das, was sie für die Zukunft versprechen. (Oder zumindest bieten sie im Heute etwas Besseres als die Schmerzen und Entbehrungen der Vergangenheit.) Der Zweck heiligt die Mittel. Der Krieg von heute ist die Freiheit von morgen. Das gegenwärtige Leid dient der zukünftigen Erlösung. Die Arbeit von heute wird morgen belohnt.

Eine Zeit lang funktionierten diese Geschichten wunderbar – besonders in den USA, wo Optimismus ein Grundbestandteil des Nationalcharakters zu sein schien. Immerhin ließ die Vision von einer besseren Zukunft einst Menschen ihr Leben riskieren für den Versuch, den Ozean zu überqueren und die Wildnis des amerikanischen Kontinents bewohnbar zu machen. Die neue Welt war aus ihrer Sicht ein unbeschriebenes Blatt, mit weiten Horizonten und scheinbar unendlichen Ressourcen, die erobert und mit einer eigenen Geschichte gefüllt werden wollten. Auch darum fiel in Nordamerika die protestantische Arbeitsethik, für die alles Streben einer besseren Zukunft zu gelten hatte, auf besonders fruchtbaren Boden. Und während sich die Europäer der Bewahrung ihrer Kultur widmeten, begriffen sich die Amerikaner als ein Volk, das sich einer gemeinsamen Herausforderung stellte, mit eigens dafür erschaffenen Mythen, die dazu beitragen sollten. Genau wie die Mormonen die Geschichte des Alten Testaments in die amerikanische Gegenwart hinein fortsetzten, sollten technologische Neuerungen vom Space Shuttle bis zum Computerchip Amerikas Manifest Destiny, seine »offensichtliche Bestimmung«, in die Zukunft überführen. Der amerikanische Traum war in all seinen Varianten an die gleiche narrative Struktur geknüpft. Ob ökonomisch, politisch oder spirituell: Wir stützten uns immer auf Geschichten.

In ihrer Gesamtheit gaben sie unserem Leben, unserer Nation, unserer Kultur und unserem Glauben eine erzählerische Ordnung. Die Art und Weise, in der wir unsere Erfahrungen strukturierten und über die Welt sprachen, war im Wesentlichen narrativ. So gesehen ist Amerika nicht nur ein Ort, an dem wir leben, sondern die Reise eines Volks durch die Zeit. Apple ist nicht nur ein Handyhersteller, sondern zwei Kerle in einer Garage, die ihren Traum von einer kreativeren Technologie verwirklicht haben; Demokratie nicht nur eine Regierungsform, sondern die Kraft, die die Menschheit befreien wird; Umweltverschmutzung nicht nur ein notorisches Problem der Industrie, sondern der drohende katastrophische Höhepunkt unserer Zivilisation.

Das Geschichtenerzählen wurde zum kulturellen Wert an sich. Vor Millionen hingerissenen Fernsehzuschauern erklärte der Mythenforscher Joseph Campbell dem Journalisten Bill Moyers in einer sechsteiligen Interviewreihe, wie Geschichten die Grundstruktur unserer Zivilisation bildeten. Joseph Campbell and The Power of Myth wiederum hat zahllose Regisseure, Werber und Management-Theoretiker dazu inspiriert, dem Geschichtenerzählen eine zentrale Rolle in ihren eigenen Entwürfen zuzuweisen. Sogar die Hirnforschung erkannte in der Narrativität eine wesentliche Komponente des Denkens. »Narrative Vorstellungen – Geschichten – sind ein fundamentales Werkzeug unseres Denkens, von dem unsere Fähigkeit zur rationalen Einsicht abhängt. Sie sind unser wichtigstes Instrument, um in die Zukunft sehen, Dinge vorhersagen, planen und erklären zu können«, schrieb Mark Turner von der Case Western Reserve University in Cleveland.¹ Oder in den Worten der Science-Fiction-Autorin Ursula K. Le Guin: »Die Geschichte – von Rumpelstilzchen bis Krieg und Frieden – ist ein grundlegendes Werkzeug des menschlichen Geistes, mit dem er die Welt erfasst. Es hat komplexe Gesellschaften gegeben, in denen das Rad keine Rolle gespielt hat, aber eine Gesellschaft ohne Geschichten gab es nie.«²

Wenn wir die Welt als Geschichte erfahren, entwickeln wir ein Gefühl für den Kontext. Das beruhigt und gibt uns Orientierung. Hürden und Hindernisse werden zu kleinen Unebenheiten auf dem Weg zu einem besseren Ort oder zumindest zum Ziel der Reise. Solange der Schwung, der Vorwärtsdrall, die dramatische Spannung groß genug ist, werden wir den Unglauben aussetzen, um der Geschichte zu folgen.

Am Ende des 20. Jahrhunderts waren der Schwung, der Drall und die Spannung enorm. Vielleicht zu groß. Noch wenige Jahrzehnte davor, im idyllischen Jahr 1965, gewann Mary Poppins fünf Oscars, gaben die Grateful Dead ihr erstes Konzert, wurde die erste Staffel von Bezaubernde Jeannie auf NBC ausgestrahlt. Aber es war auch das Jahr, in dem der erste Mensch ins All geschossen, der Hypertext erfunden, das erste Beatmungsgerät erfolgreich eingesetzt wurde. Diese und andere Ereignisse und Erfindungen waren so vielversprechend, dass sie Alvin Toffler dazu bewegten, seinen grundlegenden Essay »The Future as a Way of Life« zu schreiben, in dem er den Begriff »Zukunftsschock« prägte.

Wir sollten uns auf vulkanische Erschütterungen gefasst machen und überraschende Richtungswechsel und Umbrüche, nicht nur in unserer Sozialstruktur, sondern auch in der Wertehierarchie und der Art und Weise, wie die Individuen die Realität wahrnehmen und begreifen. Die gewaltigen Veränderungen, die mit steigender Geschwindigkeit über uns hereinbrechen, werden die Menschen desorientieren, verwirren und einige unter sich begraben. […] Selbst die gebildetsten Leute gehen heute davon aus, dass die Gesellschaft verhältnismäßig statisch ist. Bestenfalls extrapolieren sie bestehende Trends. Die Folge ist eine totale Unfähigkeit, sich der Zukunft zu stellen, wenn sie eintritt. Kurz: ein Zukunftsschock.³

Toffler glaubte, die Dinge würden sich so schnell verändern, dass wir nicht mehr in der Lage wären, uns daran anzupassen. Neue Medikamente würden unsere Lebensspanne verlängern; medizinische Techniken würden uns ermöglichen, unseren Körper und unsere genetische Ausstattung nach Belieben zu verändern und neue Technologien die körperliche Arbeit obsolet machen sowie Echtzeitkommunikation über gewaltige Entfernungen ermöglichen. So wie die Einwanderer in ein fremdes Land ein Kulturschock erwartet, würde uns die sich rasend schnell bis zur Unkenntlichkeit verändernde Welt einen Zukunftsschock verpassen. Unsere Desorientierung wäre dabei nicht die Folge einer bestimmten Veränderung, sondern der Geschwindigkeit, mit der sich die Veränderung vollzieht. Toffler machte einen praktischen Vorschlag: Wir sollten alle Zukunftsforscher werden. Warum die Kinder in der Schule nicht mehr Science-Fiction lesen und Grundkurse in Prognostik besuchen lassen? Das Fehlen grundlegender prognostischer Fähigkeiten käme in der zeitgenössischen Welt schließlich einer Art funktionalem Analphabetismus gleich.

Und so ähnlich geschah es auch. Zwar wurde Zukunftsforschung kein Schulfach, aber dafür erteilten uns die Populärkultur und die Geschäftswelt einige schmerzhafte Lektionen. Wir wurden Trendforscher und Hobbyfuturologen, die versuchten, das nächste große Ding auszumachen. Und das übernächste. Dann kamen wir tatsächlich an. Im Jetzt. Im Hier. In der Zukunft. Und als damit alle unsere Geschichten auseinanderfielen, stellten sich die ersten Symptome des Gegenwartsschocks ein.

Der Kollaps des Erzählens

Toffler hatte verstanden, dass die Kenntnis der Geschichte uns half, die Gegenwart in Perspektive zu setzen. Wir begreifen, wo wir uns befinden, weil wir wissen, wo wir herkommen. Was die Zukunft anging, so führte diese Fähigkeit zur narrativen Selbstverortung allerdings zu Problemen: Die neuen Erfindungen und Phänomene passten einfach nicht in die Geschichten, mit denen wir uns selbst unseren Platz in der Welt zuweisen wollten. Was geschieht mit unserer traditionellen Lebensplanung – vierzig Jahre arbeiten und mit 65 in Rente – in einer Zeit, in der die Lebenserwartung rasant gestiegen ist? Wie verändern Fruchtbarkeitsmedikamente die Familienplanung, die E-Mail unsere Wahrnehmung der Arbeitswoche und wie Roboter das Verhältnis von Arbeitern und Management? Oder, mit Blick auf den Nahen Osten: Wie verändern soziale Netzwerke die Ziele einer Revolution?

Kommende Veränderungen wären weniger traumatisierend für uns, wenn wir besser darin würden, verschiedene Szenarien zu entwickeln, zukünftige Realitäten vorherzusehen und neue Trends vorauszuahnen, meinte Toffler. Es würde uns nicht aus der nächsten Kurve tragen, wenn wir sie schon sehen würden und davon erzählen könnten.

Aber auch wenn Star Trek die Erfindung von Handy und iPad vorweggenommen hat, sind dem Versuch, mittels Science-Fiction-Geschichten eine Vorstellung von der Zukunft zu entwickeln, enge Grenzen gesetzt. Erstens bewegt sich die Realität manchmal schneller als die Fiktion. Während Geschichten bestimmten Plotkonventionen folgen müssen, um für ihre Zuschauer, Zuhörer oder Leser Sinn zu ergeben, ist die Realität oft chaotisch. Die Dinge passieren einfach, auch wenn man gerade nicht mit ihnen rechnet. Zweitens können Geschichten die Zukunft nicht nur voraussagen, sondern sie auch verändern. Sie haben sich als großartiges Medium erwiesen, um Informationen und Werte für die kommenden Generationen zu speichern. Wir erzählen unseren Kindern vor dem Zubettgehen eine Gutenachtgeschichte, in die wir Werte einflechten, die sie sie mit in ihre Träume (und ihr erwachsenes Leben) nehmen sollen. Unsere religiösen Mythen und unsere Nationalgeschichtsschreibung funktionieren ähnlich: Sie bewahren und vermitteln bestimmte Wertvorstellungen – das ist ein Grund, warum Zivilisationen über Jahrhunderte fortbestehen konnten.

Die hohe Kunst der Zukunftsforschung ist niemals wertneutral, egal, wie gewissenhaft sie betrieben wird. Als im Januar 1993 die erste Nummer von Wired erschien, war denen, die das Internet schon kannten, gleich klar, worauf diese Zeitschrift es anlegte: Sie wollte die Werte des Netzes mit denen des freien Marktes identifizieren. Die zahlreichen Zukunfts- und Trendforscher, die in den 1990ern unterwegs waren, sagten mit schöner Regelmäßigkeit eine Zukunft voraus, in der sie selbst die wichtigste Rolle spielten. Und die Geschichten, die sie den Konzernen zurechtschneiderten, erzählten immer auch vom Fortbestand der Unternehmensmacht. Im Grunde beschäftigten sie sich nicht mit der Zukunft, sondern pinselten jenen den Bauch, die eine überkommene Vergangenheit bewahren wollten.

All das Zukunftsgerede trug wenig dazu bei, uns mit der Gegenwart zu versöhnen. Wir hörten dadurch vielmehr auf, die Gegenwart als sinnvoll und bedeutsam wahrzunehmen. Anstatt in ihre Innovationskraft und ihre Kernkompetenzen zu investieren, gaben die Unternehmen jede Menge Geld dafür aus, Zukunftsszenarien an die Wand zu beamen. Sie bezahlten Berater (manchmal Medientheoretiker wie mich) dafür, ihnen eine Vogelperspektive auf ihr Unternehmensumfeld zu bieten – in dem festen Glauben, dass sie immer weiter voraussehen konnten, je höher sie flogen. Eine der Technologiefirmen, mit denen ich zu tun hatte, entschied anhand von Prognosen über die Entwicklung von Währungen, an welchen Standorten sie ihre Offshore-Fabriken errichten sollte. Der Finanzvorstand eines anderen Unternehmens spekulierte mit Warentermingeschäften – ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass die in seiner eigenen Firma entwickelten Technologien genau diese Waren überflüssig machen würden. Manche Unternehmen verloren aufgrund solcher Spekulationen Millionen. Manche gingen sogar bankrott.

Individuen, Unternehmen, Institutionen oder Nationen opferten also den Blick auf die Gegenwart für den in die Zukunft. Aus Geschäftsführung wurde Strategieplanung, aus dem Arbeitsleben die Lebensarbeitszeit für den Rentenanspruch und aus globaler Kooperation die Spekulation an den Börsen. Das funktionierte ganz wunderbar, solange die Kurven auf den Charts allesamt nach oben zeigten. Doch dann kam der Jahrtausendwechsel. Die Börsenkurse brachen ein, das World Trade Center fiel in sich zusammen, und unsere Geschichten kollabierten.

Die Auswirkungen des Elften September auf unser Verhältnis zur Geschichte sind nicht zu unterschätzen. Während ich an diesem Kapitel arbeitete, lernte ich eine College-Absolventin kennen, die gerade ein Mentorenprogramm auf die Beine stellte. Es sollte junge Leute wie sie mit älteren Semestern wie mir ins Gespräch bringen. Sie erklärte mir, dass ihre Generation durchaus idealistisch und bereit sei, die Welt zu einem besseren Ort zu machen; seit den traumatischen Ereignissen des Elften September sei ihnen aber der Bezug zu den großen Menschheitsprojekten abhanden gekommen. Seit der Tragödie sähen sie irgendwie keinen Sinn mehr darin. Über das Gespräch mit Leuten wie mir hofften sie und ihre Altersgenossen, ihn wiederzufinden.

Ihre Generation war es dann auch, die bei der ersten sich bietenden Gelegenheit Barack Obama wählte und die Kernzielgruppe für den von Alice Walker geborgten, postnarrativen Refrain seiner Kampagne darstellte: »Wir sind diejenigen, auf die wir gewartet haben. Wir sind die Veränderung, die wir suchen.« Was für eine Beschwörung des Präsentismus! Die Erstwähler nahmen Obama beim Wort und stellten sich der Herausforderung, die Veränderung zu werden, anstatt sie passiv zu erwarten. Natürlich entpuppte sich das Ganze dann doch eher als Wahlkampf-Slogan denn als ernst gemeintes Angebot zur Partizipation – ein rhetorischer Kniff, ein Mittel, um an die Macht zu kommen. Erst die Occupybewegung unternahm später einen genuin präsentistischen Versuch, politische und soziale Veränderungen durchzusetzen. Doch Obamas Redenschreiber hatten den sich anbahnenden kulturellen Wandel klar erkannt: Geschichten konnten in uns kein Gefühl der Kontinuität und Teilhabe mehr erzeugen – dafür erwachte das Bewusstsein dafür, dass etwas Unmittelbareres und Relevanteres ihren Platz einnehmen musste.

Große Geschichten

Traditionelle Geschichten mit einer traditionellen, linearen Dramaturgie gibt es schon sehr lang – weil sie funktionieren. Sie scheinen den Lebensweg selbst zu imitieren, von der Geburt zum Tod. Wie ein Atemzug oder ein Liebesakt steigern Geschichten ihre Intensität, bis sie langsam ausklingen; sie haben einen Anfang, einen Höhepunkt und einen Schluss. Obwohl uns das ganz natürlich vorkommt, war es doch nicht immer so. Genau genommen setzte sich diese Struktur erst recht spät durch, mit Schriftkulturen wie der im antiken Griechenland.

Die Geschichten der Bibel – zumindest die des Alten Testaments – funktionieren anders. Sie entstammen oralen Kulturen, in denen der Geschichtenerzähler sein Publikum permanent miteinbezog. Natürlich wurden auch Informationen und Moral damit transportiert, meistens indem zwei Kollektive oder Figuren miteinander kontrastiert wurden – die eine gesegnet, die andere dem Untergang geweiht. Epische Gedichte und Theaterstücke entsprechen mit ihrer linearen Struktur schon mehr unserem Verständnis einer Geschichte mit Anfang und Ende, wie wir sie aus Büchern gewohnt sind. Egal an welcher Stelle der Narration wir uns befinden, sind wir uns immer bewusst, dass wir schon ein paar Seiten hinter uns gebracht haben und dass weitere folgen. Die Stelle im Buch sagt etwas darüber aus, wie nah das Ende ist, und unsere emotionale Reaktion hängt ganz von der Zeiterfahrung ab.

Aristoteles war der Erste, der die Hauptbestandteile einer solchen Narration identifizierte, ganz ähnlich wie ein Hacker, der im Reverse-Engineering-Verfahren ein Computerprogramm analysiert. Die von Aristoteles entdeckte Mechanik der Geschichten zu verstehen, ist auch heute noch wichtig, schon weil sie weiterhin von Regierungen, Unternehmen, Religionsgemeinschaften und Pädagogen aller Art verwendet wird, um uns zu erziehen und zu beeinflussen. Noch wichtiger ist es allerdings zu erkennen, dass sie für viele von uns ihre Wirksamkeit verloren hat – was den Geschichtenerzählern einen Schock versetzt hat, einen Gegenwartsschock.

Die traditionelle Geschichte erschafft eine Figur, mit der wir uns identifizieren können, setzt sie einer Gefahr aus und lässt sie schließlich einen Ausweg finden. Nehmen wir Ödipus, Luke Skywalker und Dora the Explorer. Durch ein ursächliches Ereignis wird unser Held auf eine abenteuerliche Reise geschickt. Ödipus befragt das Orakel nach seiner Herkunft, Luke möchte Prinzessin Leia befreien und Dora den Babyfrosch zurück auf seinen Baum bringen. Dann trifft unser Held einige Entscheidungen, die ihn in immer gefährlichere Situationen bringen. Ödipus entscheidet sich dafür, den Mörder von König Laios zu suchen und zu töten, Luke wird ein Jedi-Ritter und schließt sich dem Kampf gegen das Imperium an, und Dora entschließt sich, den Babyfrosch mit ihrem Affen Boots durch den dunklen Wald nach Hause zu bringen. Mit jedem Schritt begibt sich unser Held in größere Gefahr und nimmt das Publikum mit auf seinen spannungsgeladenen Weg.

Gerade wenn die Spannung kaum noch auszuhalten ist – wenn es uns kaum noch auf den Sitzen hält oder wir das Buch schon fast in die Ecke werfen wollen – kommt die überraschende Wende. Ödipus erfährt, dass er selbst der Mörder ist, den er sucht; Luke, dass Darth Vader sein Vater ist; und Dora, dass sie das Rätsel des hässlichen alten Trolls selbst entschlüsseln kann. Auf die Erkenntnis folgt endlich die Auflösung: Ödipus nimmt sich das Augenlicht, Luke ermöglicht seinem Vater die Rückkehr zur hellen Seite der Macht, und Dora bringt den Frosch zurück zu seiner Familie. Die Zuschauer erleben eine Katharsis und empfinden Erleichterung. Das Abenteuer ist vorbei. Und je mehr Spannung vorher aufgebaut wurde, desto mehr genießen sie den Ausklang der Geschichte.

Diese Erzählstruktur – bei Joseph Campbell »Heldenreise« genannt⁵ – ist wesentlich für unser Verständnis der Welt. Es mag daran liegen, dass sie das Leben selbst nachahmt, oder vielleicht haben wir uns umgekehrt so an sie gewöhnt, dass sie unsere Wahrnehmung der Ereignisse und der daraus entspringenden Probleme nachhaltig geprägt hat. Sie ist jedenfalls hervorragend geeignet, um Werte zu vermitteln. Sind wir dem Helden auf seine schwierige Reise, auf den aufregenden und mühsamen Weg in die Gefahr gefolgt, akzeptieren wir jede Lösung, die sich ihm als Ausweg anbietet. Arnold Schwarzenegger findet eine Waffe, mit der er die bösen Aliens erledigen kann, der Ermittler in Law & Order schafft es mit einem Psychotrick, das Ego des Serienmörders gegen sich selbst zu kehren, und die Kids in Glee lernen, dass Freundschaft wichtiger ist als der Sieg in einem Gesangswettbewerb. Und je größer die Spannung ist, desto größer ist auch unsere Abhängigkeit vom Geschichtenerzähler, der jede beliebige Moral oder Idee in seiner Geschichte platzieren kann.

Oder jedes beliebige Produkt. In der Fernsehwerbung erreicht diese Erzähltechnik ihre höchste Vollendung – eine Figur befindet sich in Schwierigkeiten, trifft riskante Entscheidungen und findet schließlich einen Ausweg (dank eines bestimmten Produkts, versteht sich). Das Ganze spielt sich in gerade einmal dreißig Sekunden ab. Zum Beispiel: Ein Mädchen bemerkt ein paar Tage vor dem Abschlussball einen fiesen Pickel auf der Wange und versucht, ihn loszuwerden – mit heißen Kompressen, Ausdrücken und anderen Hausmitteln. Das alles macht es nur noch schlimmer (steigende Spannung). Als sie schon sicher ist, dass ihr eine peinliche und demütigende Erfahrung bevorsteht, bemerkt eine Freundin den Pickel – aber anstatt unsere Heldin zu verspotten, erzählt sie ihr von dieser tollen neuen Anti-Pickel-Creme mit Sofortwirkung (überraschende Wende). Unsere Heldin probiert die Creme aus (Erkenntnis) und geht völlig pickelfrei zum Abschlussball (Auflösung).

Während wir den Protagonisten begleiten, schlucken wir so ziemlich alles, was der Erzähler uns anbietet, solange es nur zu einer befriedigenden Auflösung führt. Damit dieser Mechanismus greift, muss der Geschichtenerzähler sein Publikum allerdings mit seiner Geschichte gefesselt haben – das Wort Entertainment lässt sich nicht umsonst auf »in, innerhalb« und »halten« zurückführen. Und bis vor Kurzem hat es auch noch funktioniert: Der Zuschauer blieb an seine Couch gefesselt und kaufte am Ende brav die Anti-Pickel-Creme. Selbst wenn ihm bewusst war, dass man ihn nur auf die Folter spannte, um ihm ein Produkt anzudrehen: Was hätte er tun sollen, um der Werbung zu entgehen? Vor der Erfindung der Fernbedienung musste er aufstehen, zum Fernseher gehen, umschalten und vielleicht sogar die Antenne neu ausrichten. Oder er konnte den Raum verlassen – auf die Gefahr hin, die Fortsetzung der Sendung zu verpassen. Auch wenn die Fernsehzuschauer nicht ganz so devot waren wie Kirchgänger, die gehorsam auf ihren Bänken darauf warteten, bis der Pfarrer seinen Sermon beendete, schluckten sie doch brav fast jede Pille, die der Erzähler ihnen am Wendepunkt der Geschichte unterjubelte.

Dann kam die Interaktivität. Die Fernbedienung veränderte unser Verhältnis zum Fernsehen tiefgreifender als irgendeine postmoderne Medienkritik. Zusammen mit dem Kabelfernsehen und seinen unzähligen Programmen hat sie das Fernsehen revolutioniert: Plötzlich reichte ein Knopfdruck, um dem nervigen Werbeblock zu entgehen. Das Kind mit der Fernbedienung in der Hand sieht sich nicht mehr länger eine bestimmte Sendung an – es sieht fern. Wenn eine Sendung unangenehm wird, schaltet es einfach um.

Denken Sie an ihr eigenes Fernsehverhalten. Meistens wechseln Sie nicht das Programm, weil Ihnen langweilig ist, sondern weil Sie sich ärgern: Jemand versucht Ihnen Angst einzujagen, um Ihnen sein Produkt anzudrehen (Leiden Sie unter Haarausfall? Gefallen Sie Ihrem Partner noch? Und gibt es nicht ein Antidepressivum mit weniger Nebenwirkungen?), also wechseln Sie den Kanal. Oder Sie verabschieden sich von einer Erzählung, weil der Protagonist zu viele schlechte Entscheidungen trifft. Ihre Toleranz für seine Eskapaden ist nämlich beträchtlich gesunken, seit Sie zahllose alternative Erzählungen zur Auswahl haben. Und so zappen heutige Fernsehkonsumenten von einem Programm zum nächsten, um die guten Momente abzugreifen, wo sie sich gerade finden. Sobald die Sci-Fi-Serie von einer Werbepause unterbrochen wird, schalten sie ins letzte Viertel des Basketballspiels und von dort weiter zu einem Krimi – und das alles, bevor in der Science-Fiction-Folge die Aliens auftauchen.

Derart von den Nutzern dekonstruiert, verliert das Fernsehen die Fähigkeit, kohärente Geschichten zu erzählen – als wäre die lineare Narration von inkompetenten und manipulativen Erzählern so lange missbraucht und kompromittiert worden, dass sie schließlich aufgehört hat zu funktionieren, besonders bei jungen Zuschauern, die mit den interaktiven Medien vertraut und entsprechend wehrhaft sind. Folgerichtig haben sich die Fernsehmacher und die Popkultur im Ganzen an die neue Situation angepasst.

Die neue Popkultur

Nachdem also für lineare Geschichten mit Anfang, Mitte und Schluss keine Zeit mehr war, mussten die Fernsehmacher mit dem arbeiten, was ihnen blieb: dem Moment. Für die Eltern, Pädagogen und Medienexperten stellte sich das Ergebnis dieser Bemühungen nicht gerade als Fortschritt dar. Wie Aristoteles sinngemäß bemerkte: »Wenn das Story-Erzählen verkommt, ist das Ergebnis Dekadenz.«⁶ Zumindest oberflächlich betrachtet schienen die neuen TV-Formate Aristoteles Recht zu geben.

Zeichentrickserien, die sich wie Beavis and Butt-Head (1993) oder Die Simpsons (1989) als Kinderfernsehen tarnten, gehörten zu den Ersten, die direkt an Zapper gerichtet waren.⁷ Dabei zeigte der MTV-Hit Beavis and Butt-Head eigentlich nur zwei Teenager, die auf der Couch sitzen und sich MTV-Musikvideos ansehen. Obwohl die Sendung in den Augen der Eltern geradezu gefährlich stumpfsinnig war, gelang es ihr in kunstvoller Weise, die Erfahrung der Kids beim MTV-Gucken wiederzugeben. Indem die beiden Dumpfbacken Musikvideos kommentierten, hielten sie den Zuschauern den Spiegel vor. In der Sendung war häufig ein Bildschirm im Bildschirm zu sehen, auf dem meistens das echte MTV lief. Während die Videos dort mit sexuell aufgeladenen Bildern

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