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Auf heimischen Wegen: Pilgern zwischen Rhein und Weser
Auf heimischen Wegen: Pilgern zwischen Rhein und Weser
Auf heimischen Wegen: Pilgern zwischen Rhein und Weser
eBook287 Seiten3 Stunden

Auf heimischen Wegen: Pilgern zwischen Rhein und Weser

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Über dieses E-Book

Pilgern auf heimischen Wegen – das klingt zunächst nicht nach Abenteuer und Freiheit, nicht nach bewusstseinserweiternder Spiritualität, exotischen Mitpilgern und Pilgermenüs in internationaler Runde.
Pilgern in der Mitte Deutschlands ist tatsächlich nicht zu vergleichen mit dem Erlaufen eines spanischen Caminos.

Und doch kann auch ein heimischer Pilgerweg jeden Meter wert sein, den man läuft, denn er bietet jede Menge neuer Entdeckungen und Überraschungen sowie eine Vielfalt an bereichernden Begegnungen, an erhellender Geschichte und spannenden Geschichten, die das eigene Heimatbild neu definieren können.

Das zumindest ist die Erkenntnis von Dagmar Höner, die einen Sommer lang die Pilgerwege ihrer Heimat Nordrhein-Westfalen erkundete und Ihre Leser zum Nachahmen ermuntern möchte.
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum13. Dez. 2021
ISBN9783986462093
Auf heimischen Wegen: Pilgern zwischen Rhein und Weser

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    Buchvorschau

    Auf heimischen Wegen - Dagmar Höner

    Jakobsweg NRW von Bad Driburg nach Dortmund

    Der Jakobsweg NRW ist der erste auf der Liste meines heimatlichen Pilgerprojekts. Ich werde eine Teilstrecke von Bad Driburg nach Dortmund gehen und mich dabei vom „Heilgarten Deutschlands" ins Ruhrgebiet bewegen. Das Ruhrgebiet als Pilgerdestination klingt wenig verlockend, aber wer weiß? Vielleicht hat Dortmund ja mehr zu bieten als die Westfalenhalle, und Unna stellt sich als unerwartetes Juwel am Hellweg heraus?! 

    Um nicht ganz ahnungslos in mein Heimatabenteuer zu stolpern, bereite ich mich vor. Das heißt, ich google Bad Driburg, den kleinen Kurort im Osten von Paderborn, wo es losgehen soll. Und stoße auf ein nettes Filmchen.

    Zuerst sieht man nur ein rotes Sofa, das in einem Baum hängt. Das Sofa steht für das Format „The Red Couch", bei dem interessante Persönlichkeiten aus NRW interviewt werden. In diesem Fall sind die Menschen, die in luftiger Höhe Platz genommen haben, Gräfin und Graf von Oeynhausen-Sierstorpff. Ihnen ist zu verdanken, dass die Bade- und Kuranlagen nebst Gräflichem Park das Aushängeschild der Stadt sind. Mehr noch: Durch die Dynastie der Sierstorpffs hat sich Bad Driburg von einem kleinen Gesundbrunnen am Fuß des Teutoburger Waldes zu einem exklusiven Spa Resort entwickelt. Das klingt spannend. Ich klicke das Video an. 

    Ich bin überrascht, wie viel Privates die beiden Adeligen preisgeben. Nach dem Filmchen weiß ich nicht nur, dass die Gräfin in Pakistan geboren wurde und Galeristin war, sondern zudem, dass es ihr als Stadtkind schwergefallen ist, in die Provinz zu ziehen. Auch der Graf fand es nicht einfach mit den Westfalen, ist er doch im Rheinland geboren. „Diesen Schlag Menschen hier, den musste ich mir erst mal erarbeiten", gibt er zu. Aber mittlerweile, da sind sich die beiden Adeligen einig, leben sie gerne hier und fühlen sich heimisch. Aus dieser Heimat haben sie etwas ganz Besonderes gemacht. Unter ihrer Regie ist nicht nur eines der schicksten Wellnesshotels Europas entstanden, auch der Park zählt zu den schönsten in Nordrhein-Westfalen und trägt die Handschrift berühmter Landschaftsarchitekten. 

    Das alles sind Superlative, die mich verblüffen. Zwar wusste ich, dass Bad Driburg ein bekannter Kurort ist und einen großen Kurpark hat, aber die glamourösen Details von Gartendesign und Spa sind mir bisher verborgen geblieben. Auch scheinen diese Dimensionen nicht zu dem passen, was ich jetzt vorhabe: Eigentlich will ich ja nur eine kleine Pilgertour durch das unspektakuläre Westfalen machen. Aber wer weiß – vielleicht ist dieser Landstrich ja gar nicht so unspektakulär, wie ich dachte?! 

    Die kleinen Heilbäder, die ich kenne, können mit einer Quelle aufwarten, in der man badet oder aus der man trinkt. Bad Driburg hat beides. Eine Thermalquelle zum Baden und eine Heilquelle zum Trinken. Und an beiden komme ich nun vorbei, denn ich beginne meine Pilgertour im Gräflichen Kurpark. Wo sonst? 

    Die fulminante Gartenanlage präsentiert sich mit riesigen Rasenflächen, adrett geharkten Kieswegen, hohen Bäumen, Teichen und Wäldchen, einem Wildgehege und diversen Themengärten. Darin eingebettet liegen die Bade- und Kuranlagen des Heilbads. 

    Der Park ist so groß, dass ich ihn unmöglich in Gänze beschreiten kann, aber ich schaue mir die Höhepunkte an: Riesige Beete mit Rosen, Tulpen und Lilien, mit Stauden und Gräsern. Und natürlich den Garten, den der berühmte niederländische Landschaftsdesigner Piet Oudolf gestaltet hat. 

    Die Kuranlagen von Bad Driburg sind nicht nur heute ein Highlight, sondern auch früher gab es berühmte Persönlichkeiten, die hierher kamen, um sich zu erholen. 

    Friedrich Hölderlin zum Beispiel, wie ich anhand einer Büste im Park lerne, und auch Annette von Droste-Hülshoff. So viel zur Historie des Kurparks.

    Aber Bad Driburg ist ja noch mehr als der Park; es gibt auch eine Stadt. Dorthin gelange ich über eine Lindenallee. 

    An einem sonnigen Junimorgen erwartet man, dass die Menschen vorm Café sitzen und frühstücken oder einen Cappucino trinken, falls die Eisdiele schon auf- hat. Aber wie überall zurzeit sind auch hier die Gaststätten wegen Corona geschlossen. In der Fußgängerzone begegnen mir lediglich Hausfrauen mit vollen Supermarkttaschen und Rentner mit Brötchentüten. 

    Die Einkaufslandschaft wirkt behäbig, die Läden präsentieren sich als Mix aus Banken und Büchern, Haushalts- und Hörgeräten, Schuhen und Schirmen. Daneben gibt es dezente Oberbekleidung, Lederwaren, einen Supermarkt, einen Bäcker… was die hiesige Kurklientel eben so braucht. Auch das Straßenbild beeindruckt mich nicht nachhaltig. Vereinzelt hat sich ein Fachwerkhaus dazwischen gemogelt, aber in der Mehrzahl stehen hier funktionale Gebäude mit dunklen Markisen und brauner Verkleidung. 

    Ich bin verblüfft. Nach dem exquisiten Kurpark hatte ich auch eine exquisite Kurstadt erwartet. Aber das einzig Ausgefallene am Weg scheint die Skulptur eines Glasbläsers zu sein, ein Symbol für die lange Glasbläsertradition der Stadt. Selbst die Kirche ist geschlossen, was mir meinen ersten Pilgerstempel verwehrt. 

    Der Weg auf den Iberg ist kein Spaziergang, doch als Belohnung endet der Aufstieg mit einem bombastischen Blick. Diesen genieße ich von der Terrasse der Sachsenklause, die wie eine Aussichtsplattform über das Tal ragt. 

    Eine noch bessere Sicht hätte man vom Kaiser-Karl-Turm nebenan, aber der ist geschlossen. Dafür hängt eine Bronzetafel über dem Eingang, die erahnen lässt, welche Dramen sich hier einst abgespielt haben. Ein Zitat veranschaulicht dies: „Alter Hain, aus dessen Wipfeln einst die Irmensäule ragte, die zum Schmerz und Schreck der Sachsen König Karl zu brennen wagte."

    Die Franken und die Sachsen also. In der Materie fühle ich mich zu Hause. Denn mit den Sachsen bin ich aufgewachsen, zumindest mit einem von ihnen. 

    In meiner Heimatstadt nämlich soll Widukind begraben liegen, einer der größten Widersacher des Frankenkönigs Karls des Großen. Ein Sachsenfürst, der fast zehn Jahre lang erbittert dagegen kämpfte, sich taufen zu lassen. Und hier, wenn ich den Vers auf der Tafel richtig interpretiere, hat Karl den Sachsen übel zugesetzt, indem er ihr größtes Heiligtum, die Irminsul, zerstörte. 

    Diese soll bei der Iburg gestanden haben, ein Stück weiter die Straße hoch. Der Plan der Burganlage zeigt, dass es hier ehemals eine sächsische Volks- und Fluchtburg gab; später eine mittelalterliche. Von der Sachsenzeit ist nicht mehr viel übrig, aber von der mittelalterlichen Burg noch eine ganze Menge:  

    Ich spaziere zwischen den Ruinen umher, die teilweise zerfallen sind, teilweise von Dickicht überwuchert. Doch zumindest der Bergfried ragt noch in Gänze empor sowie die Grundmauern eines ehemaligen Wohnhauses. Dann schlendere ich zur Peterskirche mit steinernem Kruzifix. Auch Teile der Burgmauer sind noch erhalten, und man kann in den tiefen Graben hinabblicken. Ein durchaus malerischer Platz hier.

    Friedrich Wilhelm Weber ließ sich von diesem Ort zu seinem Epos der Dreizehnlinden inspirieren. Einen Vers daraus, den mit der Irminsul, kenne ich ja schon von der Bronzetafel am Turm. Aber hier, am Originalschauplatz, führe ich mir noch weitere Teile zu Gemüte.

    Weber kreiert ergreifende Stimmungsbilder, in denen Heiden sich am Tag vor der Sonnenwende hier trafen, um ein Feuer versammelten und den Opferritualen der Druidin Swanahild beiwohnten. 

    Sich das vorzustellen fällt mir schwer an diesem sonnigen Junitag mit blauem Himmel und zwitschernden Vögeln. Aber je länger ich mir das verwunschene Burggelände ansehe mit den überwucherten Mauern, den dornigen Hecken, und den kleinen Trampelpfaden, die sich über die Ruinen ziehen, desto klarer sehe ich das Bild einer Burg, die in einer sternenklaren Nacht aus den Nebelschwaden des Tals herausragt. Auf der sich die Heiden um ein Feuer versammeln, um Opfer zu bringen. Ein wenig gruselig, aber in der Dunkelheit eignet sich dieser Ort sicher hervorragend für solch eine archaische Szene. 

    Nach dem Eintauchen in frühmittelalterliche Heidenwelten laufe ich in der realen, modernen Pilgerwelt weiter durch den Wald und bald darauf zu einer Schutzhütte. Nicht umsonst heißt sie „Schöne Aussicht", denn von hier hat man einen fantastischen Blick ins Tal. 

    Ich bewege mich jetzt auf dem Gebirgskamm, der ja bekanntlich den höchsten Punkt eines Berges darstellt. Von dort geht es natürlich auch wieder runter. Nach Schwaney. Ein kleiner Ort, in dem sich mehrere Wasserläufe zum Ellerbach vereinigen. Ansonsten gibt es hier einen Supermarkt, einen Bäcker, und eine Kirche mit Bank davor, wo ich mir den Ort nochmal ergoogle. Zum 1.050. Jubiläum hat die Gemeinde einen Imagefilm erstellt, der die Vorzüge und Trümpfe des Dorfes richtig zur Geltung bringt. 

    Protagonisten sind zum einen Josef Potthast, ein munterer, älterer Herr mit brauner Joppe und Filzhut, der auf einem roten Trecker daherkommt. Typ: hilfsbereiter Landmann. Des Weiteren Linda Hagemann, ihres Zeichens Studentin in Paderborn, nett und adrett in Jeans und T-Shirt. Sie sucht hier in Schwaney – nur eine Viertelstunde von der Paderborner Hochschule entfernt – bezahlbaren Wohnraum. Wie praktisch, dass gerade Josef auf seinem Trecker daherkommt, der ihr nur allzu bereitwillig seinen Heimatort zeigt. Auf einer Spritztour kreuz und quer durchs Dorf zieht er alle Register. Zuerst wird in der lokalen Bäckerei mit Kaffee und Kuchen kulinarische Überzeugungsarbeit geleistet, dann geht’s vorbei an Kinderspielplatz und Altenheim, beim Reiterverein und durchs Gewerbegebiet. Wie durch Zufall steht sogar eine junge Frau am Straßenrand, die ein Zimmer für Linda bereithält. Ein voller Erfolg also, diese Erkundungsfahrt. 

    Ich frage mich, ob es tatsächlich Studenten gibt, die hier am Ellerbach wohnen? Die ihre berufliche Perspektive im örtlichen Gewerbegebiet sehen? 

    Über derlei Fragen sinnierend stoße ich auf das nächste Kuriosum im Ort. An einer Bushaltestelle entdecke ich einen Infozettel über das preußisch optische Telegrafensystem. Es wurde Mitte des 19. Jahrhunderts installiert und führte dazu, dass man innerhalb von Minuten Nachrichten zwischen Berlin und Koblenz übermitteln konnte. Eine bahnbrechende Innovation, denn bis dato wurden Depeschen per Reiter verschickt, und das konnte schon mal ein paar Tage dauern. Die neue, schnelle Nachrichtenübertragung gelang mithilfe von Telegrafenstationen, die man auf Bergen oder Anhöhen installierte. Eine davon, die Nummer 34, lag in Schwaney auf dem Brocksberg. Als ich den passiere, sehe ich keinerlei Anzeichen alter Bauwerke, geschweige denn einer Telegrafenstation. Verständlich, denn diese wurden abgerissen, nachdem man sie nicht mehr brauchte. Darum hatte ich die optische Telegrafie bisher auch noch nie wahrgenommen. Dennoch finde ich die Vorstellung witzig, dass man sich damals von einer Station zur anderen, von einem Hügel zum nächsten, durch die unterschiedliche Stellung von Telegrafenarmen verständigte. Das hört sich für mich an wie eine moderne Variante von Rauchzeichen. 

    Nach dem Brocksberg tut sich ein völlig neues Landschaftsbild auf, denn in Schwaney habe ich das Eggegebirge verlassen und betrete die Paderborner Hochfläche. Ich laufe durch eine liebliche, sanfte Hügellandschaft mit umwerfenden Rundblicken auf Felder, grüne Wiesen und kleine Dörfer. Ich weiß gar nicht, wo ich zuerst hinschauen soll, die Panoramen drängen sich mir förmlich auf. 

    Doch die eigentliche Besonderheit des Landstrichs liegt darin, dass es eine Karstlandschaft ist, eine der größten Westfalens, übrigens. Will heißen: Der Untergrund besteht vorwiegend aus Kalkgestein, das von Löss bedeckt ist. Erahnen, wie es darunter aussieht, lässt sich aber anhand der vielen kleinen Kalkbröckchen auf dem Acker, die der Pflug an die Oberfläche geholt hat. Die braunen Erdfurchen sind weiß gesprenkelt, so, als hätte jemand überall Steine verstreut. 

    Ich befinde mich jetzt auf dem sogenannten Landdrostenweg in Richtung Paderborn. Diesen Weg nahmen die bischöflichen Beamten, wenn sie schnell eine Nachricht von der Sommerresidenz der Bischöfe zum Regierungssitz überbringen mussten. 

    Auch ich müsste mich jetzt beeilen, wenn ich in Paderborn noch den Dom besichtigen will, denn mittlerweile ist es schon später Nachmittag. Darum spare ich mir die Kirche im nächsten Ort und laufe stattdessen schnurstracks wieder zum Ellerbach, der mich jetzt bis Paderborn begleitet. Idyllisch ist’s im Tal und auch im angrenzenden Waldstück. 

    Ich mache einen letzten Zwischenstopp, bevor ich die Bischofsstadt erreiche: Die Haxter Warte lockt, ein ehemaliger Wach- jetzt Aussichtsturm. Doch der Blick von dort enttäuscht, da Bäume die Sichtschneisen versperren. Nur Kirchtürme und der Dom lassen sich erahnen.

    Leider komme ich auf dem letzten Wegstück in die Stadt nicht so zügig voran wie geplant. Zwar führt die Strecke durch Grünzüge auf netten Wegen ins Zentrum, aber die ziehen sich. Nach einem Blick auf die Uhr versuche ich nochmal, das Tempo anzuziehen. Gar nicht so einfach, wenn man schon den größten Teil des Tages mit 25 Kilometern hinter sich hat.

    Trotz aller Mühen ist es nach sechs Uhr, als ich auf dem Domplatz ankomme. Natürlich hat die Kirche schon geschlossen, genauso wie das Museum und die Touristeninformation. Bleibt nur, sich auf eine Bank vis-à-vis des Doms zu setzen, das letzte Brot auszupacken und über das zu lesen, was man hätte sehen können, wäre man früher angekommen. 

    Was weiß ich über Paderborn? Nicht viel, muss ich zugeben. Das Liborifest kenne ich natürlich, eines der größten Volksfeste der Region. Aber warum und wieso man das feiert, darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Das hole ich jetzt nach. 

    Ursprung des Liborifests ist der heilige Liborius, dessen Gebeine in einem Schrein im Dom aufbewahrt werden. Man hatte sie aus Frankreich geholt in der Hoffnung, dass sich die Sachsen durch Wunder eher bekehren ließen als mit Predigten. Ob’s was genützt hat, weiß ich nicht. Aber zumindest feiert man auch heute noch das Liborifest zur Erinnerung an das Eintreffen der Libori-Gebeine.

    Doch die kann ich mir ja nun nicht mehr anschauen. Genauso wenig wie das berühmte Drei-Hasen-Fenster im Kreuzgang, auf dem drei laufende Hasen so angeordnet sind, dass sie sich drei einzelne Löffel teilen. Was dann im Endeffekt aber trotzdem so aussieht, als habe jeder Hase seine eigenen beiden. Der launige Vers dazu: „Der Hasen und der Löffel drei, und doch hat jeder Hase zwei."

    Doch Wasser anschauen geht, denn das fließt ja im Freien. Gleich hinter dem Dom entspringt nämlich die Pader, ihres Zeichens kürzester Fluss Deutschlands, da er nach nur vier Kilometern in die Lippe mündet. Es gibt noch einen weiteren Superlativ: Mit über 200 Quellen gehört das Paderquellgebiet zum größten seiner Art in Europa. Und dieses einzigartige Wasserschauspiel bestaune ich jetzt im Quellteich: Sprudelndes, blubberndes, glucksendes Wasser tritt mit tausenden von Litern pro Sekunde an die Oberfläche und vereinigt sich im weiteren Verlauf zu einem kräftigen Strom. 

    Dann schlendere ich an der Kaiserpfalz vorbei sowie am Rathaus mit seinen einzigartigen Giebeln der Weserrenaissance. Somit habe ich doch noch ein kleines Touristenprogramm absolviert, bevor ich mit dem Zug wieder gen Heimat fahre. 

    Pilgerwege sind nicht nur schön. Was ich längst weiß, bestätigt sich einmal mehr, als ich aus Paderborn herauslaufe. Ich durchquere ein Industriegebiet und gehe an einer großen Ausfallstraße entlang. Und das morgens um viertel vor acht Uhr, zu einer Zeit, wo der Berufsverkehr voll im Gange ist. Eigentlich sollte es egal sein, ob man morgens pilgert oder abends, auf einsamen Landstraßen oder eben wie hier auf dem Radweg an einer lauten, verstopften Hauptstraße. Leider kann ich nicht von mir behaupten, dass mich das kalt lässt. Es ist, als würden sich die Hektik und der Stress des Berufsverkehrs auf mich übertragen. Auch ich ziehe mein Tempo an, ohne dass ich es will, und laufe in schnellem Stakkato mit meinen Stöcken neben der Autolawine her. 

    Doch zum Glück hat auch der nervigste Weg irgendwann ein Ende. In diesem Fall nach ein paar Kilometern, als ich die Autobahn unter- beziehungsweise den Fluss Alme überquere. Der Alme werde ich später wieder begegnen, aber hier bedeutet sie erst mal die Grenze zu den Hellwegbörden, die ich nun betrete.

    Börde, das steht für fruchtbares Land mit reichlich Ackerbau, vor allem Zuckerrüben. Land gibt es hier reichlich, stelle ich nach einem ersten Rundumblick fest, Zuckerrüben weniger, dafür mehr Getreide. Die Felder werden gesäumt von rotem Mohn – immer wieder eine Augenweide. 

    Doch außer Feldern gibt es hier nicht viel. Darum nehme ich auch jede Sehenswürdigkeit, auf die der Führer hinweist, gerne mit. Dennoch hätte ich sie beinahe nicht gesehen. Hätte ich nicht zufällig auf einer Bank Rast gemacht und ein wenig im Führer geblättert, wäre mir die Erbsloheiche am Weg nicht aufgefallen, obwohl sie ganz allein auf weiter Flur steht. Und das macht sie wohl zum Naturdenkmal.

    Was gibt’s sonst noch? Ein altes Rittergut, die Dreckburg. Sie fungiert zwar als Veranstaltungsort, ist aber nicht zu besichtigen. Ich kann nur von außen einen Blick auf das von zwei Wassergräben umgebenen Herrenhaus mit barocken Seitenflügeln werfen und von der Hofeinfahrt aus die ehemaligen Landarbeiterhäuser anschauen. 

    Das waren sie, die Besonderheiten am Weg durch die Börde. Doch zum Glück komme ich jetzt in eine Stadt, nach Salzkotten. Ihre Geschichte hat mit Salz zu tun, wie der Name unschwer erraten lässt. Bis ins 19. Jahrhundert wurde hier aus einer sprudelnden Solequelle Salz gewonnen, treibender Wirtschaftsmotor der Stadt. Doch die Einfuhr des billigeren Steinsalzes bedeutete den Garaus für das Solesalz; stattdessen entwickelte sich ein Kurbetrieb gegen Atemwegserkrankungen und Allergien. 

    So weit – so unspektakulär. Das ist die normale Entwicklungsgeschichte der hiesigen Kurorte. Doch es gibt noch etwas ganz Besonderes in Salzkotten. 

    Am Rathaus nämlich liegt der sogenannte Kütfelsen, ein Plateau, das im Laufe von tausenden von Jahren durch abgesinterte Mineralien der einstigen Solequelle entstanden ist. Die Quelle sprudelt heute nicht mehr; nur das alte Brunnenhaus auf dem laut Infoschild „uhrglasähnlichen Hügel" erinnert noch daran.

    Das Uhrglas kann ich nicht erkennen, denn auf der bizarren Felslandschaft wurde eine besondere Vegetation salzliebender Pflanzen angelegt. Hier wachsen jetzt ‘Echter Sellerie‘ und ’Strandaster‘, ‘Salzbinse‘, ‘Gemeiner Salzschwaden‘, ‘Salzschuppenmiere‘ und ‘Erdbeerklee‘.

    Das sind keine Pflanzen, die mir jeden Tag begegnen. Darum streune ich ein bisschen auf dem Gelände umher auf der Suche nach all diesen seltenen Gewächsen. Doch wenn man nicht weiß, wie sie aussehen, kann man sie auch nicht finden. Trotzdem schieße ich vorsichtshalber ein paar Fotos. 

    Es warten noch mehr Kuriositäten auf mich. Vor der Pfarrkirche steht eine der wenigen erhaltenen und sogleich ältesten Totenleuchten Westfalens. Sie besteht aus einem Pfeiler mit laternenartigem Gehäuse und steinernem Dachhelm oben drauf. Beleuchten lässt sich die Leuchte mit einer Öllampe.

    Als der Friedhof noch neben der Kirche lag, war die Totenleuchte immer in Betrieb, um Geister und Dämonen zu vertreiben. Heute wird das Licht nur noch entzündet, wenn ein Gemeindemitglied verstorben ist. Beeindruckend, diese Leuchte, misst sie doch an die vier Meter.

    Als ich stadtauswärts gehe, holt mich das Salz schnell wieder ein. Ich laufe an dem kleinen Flüsschen Heder entlang und passiere ein Gradierwerk. Heute dienen Gradierwerke Kurzwecken. Man spaziert daran vorbei und atmet die salzhaltige Luft ein. Ein bisschen Meeresbrise im Binnenland. 

    Aber das war nicht immer so: Die ersten Gradierwerke wurden konstruiert, um den hohen Brennstoffbedarf beim Salzsieden zu reduzieren. Denn die Sole musste so lange gekocht werden, bis nur noch das Salz übrig blieb – was natürlich einiges an Holz kostete.

    Leitete man die Sole hingegen erst über das Reisig eines Gradierwerks, verdunstete dort das Wasser ganz natürlich durch Wind und Sonne und erhöhte so die Salzkonzentration der Sole. Das Verkochen dieser konzentrierten Lösung ging in Folge viel schneller und verbrauchte weniger Brennstoff. Das Gradierwerk fungierte somit als natürlicher Soleverdunster. 

    Einmal noch tief geschnuppert – dann lasse ich das Gradierwerk hinter mir. Aber das Thema Salz begleitet mich weiter. Der Weg führt nämlich durch ein Naturschutzgebiet, in dem es von Salzgewächsen nur so wimmelt. Sie tragen merkwürdige Namen wie ‘Salz-Dreizack‘, ’Teichfaden‘, ‘Frosch-Binse‘, ‘Gewöhnliche Strandsimse‘ oder ’Natternzunge‘. Das alles sind Pflanzen, die sonst an der Küste wachsen; nur den solehaltigen Quellen ist es zu verdanken, dass ich jetzt durch eines der wenigen noch vorhandenen Binnensalzgebiete Mitteleuropas laufe. 

    Auch mit dem Thema Quelle habe ich noch nicht abgeschlossen, wie sich bald herausstellt. Denn der nächste Ort auf meinem Weg ist Ursprunge. Das frühere „Up ’m Springe" steht für ‘Siedlung auf den Quellen‘, und letztere gibt es reichlich. Insgesamt 20, lese ich. Ein kleiner Fußweg führt hindurch. Ich staune, denn das Wasser scheint tatsächlich unter Häusern hindurchzufließen. Es kommt unter dem Mauerwerk alter, verwitterter Bauernhöfe hervor, sucht sich seinen Weg

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