In sich gehen - zu sich kommen: Unterwegserfahrungen und Pilgergedanken
Von Ludwig Schönbein
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Buchvorschau
In sich gehen - zu sich kommen - Ludwig Schönbein
derselbe!
Der lange Weg zum ersten Schritt
Er redete und redete und redete über Gott und die Welt oder ein Drittes. Vermutlich über unaufgebbare Prinzipien einer konzeptionellen Familienpolitik. Er bemerkte wohl selbst wie ihm das Interesse und die Aufmerksamkeit der zur Bildung »aus erster Hand« zusammengetrommelten jugendlichen Zuhörer immer mehr entglitt. Bis er schließlich etwas abrupt seine sicher gut gemeinten und sachlich fundierten, aber dieses Publikum überfordernden Ausführungen beendete mit der eigentlich abschließend gedachten Floskel: »Haben Sie noch irgendwelche Fragen?«
Als dann jemand nach langer Pause gleich zwei Fragen stellte, die noch dazu mit dem Vortragsthema rein gar nichts zu tun hatten, spitzten sich plötzlich die Ohren und hellwach war die mit starren offenen Augen vor sich hin dösende Herde:
»Was machen Sie, wenn Sie mal im Ruhestand sind« – der ihn dann schneller einholte als ihm lieb war – »und haben Sie noch so etwas wie unerfüllte Träume?«
Der etwas trocken dozierende Bundesfamilienminister Bruno Heck blühte plötzlich auf, weil er merkte, jetzt tatsächlich gefragt zu sein.
Ob das aufgeworfene Thema ein typisches Beispiel für spätpubertären Bildungsverdruss war oder gar noch Teil einer subtil anklopfenden religiösen Rest-Sehnsucht, sei dahingestellt.
Der Minister reckte den Rücken hinter dem für ihn etwas zu groß geratenen Rednerpult und parlierte jetzt ganz locker drauflos. Offensichtlich begeistert darüber, auch einmal über seine Träume berichten zu dürfen. Und das Publikum hörte jetzt gespannt zu, als er zum großen Erstaunen aller von einem fast in Vergessenheit geratenen mittelalterlichen Pilgerpfad zum nordspanischen Santiago de Compostela erzählte. Diesen Weg zum Grab der Gebeine des heiligen Apostels Jakobus d. Älteren würde er gerne ausfindig machen. Ja, diesen Traum habe er noch. Die Lunte war gelegt.
Das noch kleine Feuer der Begeisterung kokelte jahrelang vor sich hin. Neu entfacht wurde das Interesse dann durch einen in Bietigheim entdeckten Holzschnitt von Detlef Willand, der einen Pilger zeigt, wie er einen imaginären Grenzstrich überschreitet.
»Im ersten Schritt liegt der ganze Weg«, schrieb der Künstler dazu. Ein Besuch der von Sieger Köder ausgestalteten St. Jakobuskirche in Hohenberg bei Ellwangen gab dann den entscheidenden Kick. Die Glasfenster beeindrucken durch ihre Farbigkeit und ihre unverkennbare Originalität. Sie wecken im Betrachter das Interesse an vielleicht noch nicht entdeckten oder inzwischen wieder vergessenen biblischen Geschichten. Als »biblia pauperum« sind sie heute wieder aktuell. Früher waren die »Armen« angesprochen, die nicht lesen konnten, heute sind es die, die Bibel nicht gelesen haben.
Die Pilgergemälde am Pfarrhaus nebenan sprachen mich so an, dass es mich vehement zum Aufbruch drängte. Ein paar Wochen später war es dann so weit. Ich machte mich auf zu einem in dieser Art mir bislang unbekannten und zugleich sehr vielschichtigen kleinen Abenteuer. Der Funke war übergesprungen.
Was Pilgern ist, war mir aber noch nicht ganz klar. Von einkalkulierter, aber dennoch häufig unterschätzter Entbehrung war die Rede. Auch von streckenweise großer Einsamkeit, viel Zeit zu innerer Einkehr und von gelegentlichen Selbstgesprächen. Von manchem Mysteriösen und von »Perlen am Weg«. Aber nie von spröder Ereignislosigkeit oder häufigen Scheinangriffen verwilderter Hunde. Auch von profanem Sockenwaschen im Bach war, soweit erinnerlich, nicht die Rede. Von abstrakt bis »andefiniert« reichte die Bandbreite des Ungefähren. Vielleicht reizte gerade das Ungriffige, dass ich hinter diesen Nebelvorhang schauen wollte.
Ohne die früher übliche Verabschiedung mit Requiem zog ich schließlich los. Auf den Spuren der Pfadfinder Bruno Heck und Sieger Köder. Im Mittelalter hätte ich mir mit Sicherheit noch überlebenswichtige kirchliche Geleitpapiere für die Pilgerlizenz mit Übernachtungsund Verpflegungsanspruch in Klöstern besorgt – zu allererst die Erlaubnis des Leibherrn. Und die hätte ich dann immer eng am Leib getragen. Denn ohne Papiere galt man als rechtlos. In diesen armen Zeiten genügte der bloße Verdacht, ein auf Gelegenheitsdiebstähle angewiesener und spezialisierter Landstreicher zu sein, um »zum Strick am Galgen« verurteilt zu werden.
In Santo Domingo de la Calcada ist man wegen einer aus solch einem Hintergrund untergeschobenen Untat mit einem armen Pilger aus Deutschland verfahren. Die Hühnerlegende, die in der Winnender Schlosskirche St. Jakob so schön dargestellt ist, hat darin ihren Kern.
Ich konnte nichts mehr hören und wollte nichts mehr lesen. Wollte nur noch weit weg. Blockiert war die Arbeitsfreude, platt die Fantasie und leer der Akku. Etwas anderes musste ich sehen, etwas Neues erleben und ich sehnte mich nach starken Bildern und frischen Gedanken.
Solcherart disponiert auf unbedingten Aufbruch in eine andere Welt interessieren mich weder Paris, noch Bayonne, nur St. Jean Pied de Port. Dort am Fuß der Pyrenäen bündeln sich die Wege der Santiagopilger aus aller Welt. Und dort beginnt im Aufstieg für viele schon am ersten Tag eine unerwartet harte Korrektur der Erwartungen.
Ultreia!
Die kleine Rotwein-Degustation beim abendlichen Rundgang schmeckt nicht so recht. Sind mir die Sinne schon voraus? Ahnen sie, dass sich die so ersehnte hochsommerliche Wandertour schon am ersten Tag als knochenharte Fastentortur entwickeln wird?
Zum wiederholten Male verfolge ich auf der Karte die Wegstrecke der nächsten Tage. Ich bin neugierig und gespannt, was sich hinter Ortsnamen verbirgt, wo und wie ich nächtigen werde. Im Gebüsch, im Wald, in Ruinen oder unter Brücken, in Arro oder Erro oder im Nirgendwo.
Um sechs Uhr breche ich auf ins nasskalte Dunkel. Stehe unter Dampf. In drei Wochen fährt der Zug! Da heißt es dann Kilometerfressen als Zeitpuffer. Ich weiß ja nicht, was einen Pilger so alles erwartet. Ich suche den Einstieg zum Aufstieg. Da nirgends Zeichen zu sehen sind, steuere ich gleich einmal in eine Sackgasse.
Typisches Pyrenäenwetter kommt auf mit Nieselregen und Nebel. Weiter oben dann Schneegestöber. Ich stapfe durch Dreckwege, jongliere durch verschlammt-glitschige Hohlwege und verliere im Nebel mehrmals den Weg, gerate auf Irrwege und reiße mich durchs Dornengestrüpp. Schwer schnaufend stemme ich mich steile und enge Pfade hinauf und empfinde mit wachsendem Verdruss den Vormittag als Parabel für die Realitäten des Lebens. Den Einstieg in die Pilgerei hatte ich mir etwas anders vorgestellt!
Plötzlich taucht im Nebel ein Schild mit gelben und roten Pfeilen auf und puscht mich weiter mit dem Aufruf »Ultreia!« – Dieser Ansporn findet sich in der ersten Woche immer einmal wieder auf Steinen oder an Hütten. Für so manchen Pilgeraspiranten ist das wichtig, wenn er wegen erster ungewohnter Beschwerden schwächelt oder gar aufgeben will. Dass da jemand ganz offensichtlich mitfühlt, mitdenkt und Mut macht, tut gut. Nur nicht aufgeben! »Ultreia!«, »Vorwärts!« Irgendwie geht es immer weiter. Irgendwie und irgendwann findet sich immer wieder ein Pfad, auch aus scheinbar weglosem Terrain. Für manchen armen Pilger war oben am Ibanetapass schon Endstation. Manche gaben entkräftet auf. Einige gingen bei dichtem Schneefall im Kreis und erfroren jämmerlich. Lautlose Einsamkeit umgibt mich. Irgendwoher riecht es nach Schaf. Und einmal drängt tatsächlich so ein neugieriges Rundhorn durch die Nebelwand und ist im selben Moment wieder verschwunden.
Der Weg führt mich mittags am Rolandsdenkmal vorbei zur Wallfahrtskirche in Roncesvalles. Ein mystischer Ort. Nicht nur hinsichtlich des Schicksals der hier gefallenen Gefährten Karls des Großen, sondern auch hinsichtlich der Mühen und Gebrechen, Sorgen und Ängste, Gebete und Gesänge von Millionen Pilgern, die sich seit über tausend Jahren hierher auf diesen Pass hoch mühen, um dann hier im Kloster in doppeltem Sinn ein Refugio zu finden. Ich lege meine nassen und durchschwitzten Klamotten auf das Pflaster hinter dem Kloster und hänge sie dann beim Weitermarsch über den Rucksack.
Die große Stille hier oben tut gut. In der ersten Euphorie fühle ich mich fast schon als Pilger. Sollte ich einen Ort nennen, an dem sich das Beten von allein einstellt es wäre der hier.
Ich warte auf den Pilgerstempel des Priors. Wie auch Antoine und Sabine aus Basel. Sie sind per velo unterwegs. Auf