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TOTENGRUND - Eine Heidereise
TOTENGRUND - Eine Heidereise
TOTENGRUND - Eine Heidereise
eBook550 Seiten7 Stunden

TOTENGRUND - Eine Heidereise

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Über dieses E-Book

Die dunkelste Stunde ist die vor der Morgendämmerung ...Ausgebrannt nach einer toxischen Beziehung schmeißt die 35-jährige Rose auch ihren ungeliebten Job hin und flüchtet in die verschlafene Idylle eines kleinen Heidedorfes, um dort ganz von vorn zu beginnen.Noch einmal alles auf Anfang und zumindest in Sachen Liebe stehen ihre Chancen gut. Wären da nicht ihr Ex, der sie plötzlich unbedingt zurückhaben will, und die Dorfbewohner, die ihr geradezu feindselig begegnen. Rose kann sich auf all das keinen Reim machen bis sie auf dem Dachboden ihrer kleinen Kate einige Hefte findet, auf denen in kaum lesbarer altdeutscher Schreibschrift »Erlebnisse einer Heidereise« steht ...
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum22. Nov. 2021
ISBN9783986779597
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    Buchvorschau

    TOTENGRUND - Eine Heidereise - Julia Sypke

    Kapitel 1

    »Es ist aus!«

    Rose schwieg, das Handy am Ohr. Was sollte sie auch sagen? Draußen schien die Sonne, die Blumen aus der Gärtnerei warteten darauf, eingepflanzt zu werden und die Vögel in den alten Eichen zwitscherten so laut, dass sie es durch die angelehnte Küchentür bis ins Wohnzimmer hören konnte. Ein herrlicher Frühsommertag im Juni, ein Traum, wie sie ihn sich schon vor ihrem Umzug immer ausgemalt hatte – bis zu dem Augenblick, als das Telefon klingelte.

    Die Nummer sagte ihr nichts, aber die Stimme hatte sie gleich erkannt: René.

    Vermutlich hätte sie gleich wieder auflegen sollen. Das wäre sicher das Beste gewesen. Aber er hatte sofort angefangen zu reden. Von seiner Arbeit und den Kumpels. Von seiner neuen Wohnung mit Blick auf die Außenalster. Und davon, wie mies es ihm gerade ging und wie oft er an die Zeit mit ihr, Rose, denken musste.

    Rose hatte ihm zugehört, sprachlos, während alles, was sie in den letzten Monaten glaubte überwunden zu haben, wieder auf sie einprasselte.

    Sprachlos – bis zu dem Moment, als er seinen Monolog mit einer bedeutungsvollen Pause unterbrach und damit signalisierte, dass er auf eine Reaktion von ihr wartete. Natürlich hatte sie sich aus Höflichkeit dazu verpflichtet gefühlt, nach dem Grund seiner schlechten Verfassung zu fragen.

    Und nun das.

    Die unterschiedlichsten Gedanken rasten durch ihren Kopf. War sie erleichtert? Empfand sie Genugtuung? Triumph?

    Sie wusste es nicht, und noch weniger wusste sie, was sie auf diese Eröffnung entgegnen sollte. Also flüchtete sie sich in eine Phrase, für die sie sich schon im nächsten Moment hasste.

    »Das tut mir leid.«

    »Echt, die Alte ist voll gestört. Kannst du dir das vorstellen? Sie hat sich absichtlich in unsere Beziehung gedrängt. Genauso wie sie auch gerade versucht, mir im Job alles kaputtzumachen.«

    Rose schwieg.

    »Ich bin total runter mit den Nerven, seit Tagen habe ich nicht mehr richtig geschlafen. Ich muss unbedingt auf andere Gedanken kommen. Wie sieht’s aus, hast du Lust, irgendwo einen Kaffee trinken zu gehen?«

    War das sein Ernst? Er wollte einen Kaffee mit ihr trinken – nach allem, was passiert war?

    »René, ich …«

    »Ach stimmt, du wohnst ja jetzt draußen in der Pampa. Mal ehrlich, Rose: Glaubst du nicht, dass du da etwas übertrieben hast? Einfach alles hinzuschmeißen – deinen Job, unsere schöne Wohnung am Stadtpark?«

    »René …«

    »Ich meine, wir wissen ja beide, dass du öfter mal ein wenig überreagierst. Deine Mutter ist schließlich genauso. Aber man wirft doch nicht gleich alles weg, nur weil man sich von seinem Partner getrennt hat. Oder findest du das wirklich normal?«

    Da war es wieder, dieses Gefühl. Eine Mischung aus Hilflosigkeit und quälenden Zweifeln. Ob sie nicht souveräner mit der Situation damals hätte umgehen müssen. Erwachsener. Und vor allem: Weniger hysterisch, wie ihr René immer wieder vorgeworfen hatte.

    »Komm schon, Rose. Die letzte Zeit war für uns beide hart. Aber jede Beziehung erlebt ihre Höhen und Tiefen. Und ja, ich gebe zu, es war nicht richtig, was ich gemacht habe. Es tut mir leid, okay?«

    Leid? Rose schüttelte ungläubig den Kopf, was René durch das Handy natürlich nicht sehen konnte. Es tat ihm leid? Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte.

    »Rose, bist du noch dran?«

    »Ja, ich …« Sie schluckte. Nie hätte sie gedacht, dass es immer noch so verdammt weh tun würde, selbst jetzt, nach über einem halben Jahr.

    »Rose?«

    »René, ich …«

    »Komm, gib deinem Herzen einen Ruck. Wir waren doch immer ein gutes Team, oder?«

    »Ja, aber … verdammt René, du hast mich wegen dieser Frau verlassen!«

    Einen Moment lang war Schweigen am anderen Ende der Leitung. Dann räusperte er sich. »Ja, ich habe einen Fehler gemacht, Rose. Einen blöden Fehler. Ich habe dich verletzt. Aber … na ja, wenn wir jetzt schon so ehrlich zueinander sind, möchte ich auch mal die andere Seite der Medaille ansprechen. Hast du jemals darüber nachgedacht, dass du an der Sache nicht ganz unschuldig warst?«

    »Ich?«

    »Ja, genau du, Rose. Das willst du natürlich nicht sehen, klar. Aber ich hatte schon vor unserer Trennung mit etlichen Leuten gesprochen, und alle waren erschüttert, als sie erfuhren, wie es in unserer Beziehung inzwischen aussah. Die meisten hatten uns immer für das Traumpaar schlechthin gehalten.«

    »Das hatte ich auch gedacht«, meinte Rose tonlos.

    »Ja, kann ich mir vorstellen. Aber weißt du eigentlich, wie egoistisch es ist, immer nur deine Sicht der Dinge wahrhaben zu wollen? Sicher nicht – oder hast du dich jemals gefragt, wie es mir in unserer Beziehung ging?«

    »Aber …«

    »Nicht gut, Rose, das kann ich dir sagen. Nur konnten wir darüber ja nie reden, weil ich jedes Mal Angst haben musste, dass du überreagierst. Kannst du dir vorstellen, wie es ist, wenn man sich mit seinen Problemen nicht vertrauensvoll an seine Partnerin wenden kann, aus Sorge, dass sie einem dann wieder eine völlig überzogene Szene macht?«

    »Ich soll dir …?«, fragte Rose fassungslos.

    »Ja, Rose. Du fängst übrigens schon wieder an, fällt dir das auf?«

    »Aber ich …«

    »Und dann war da mit einem Mal Anett. Rose, verdammt! Ich hatte mich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder verstanden gefühlt. Und auch alles andere, was in unserer Beziehung nicht mehr möglich war, weil du dich nur noch um deine Sachen gekümmert hast. Deinen Job, deine Karriere! Und abends warst du ständig bei Stefanie …«

    »Steffi hatte sich gerade erst von Robert getrennt. Sie brauchte mich!«, begehrte Rose auf.

    »Na klar brauchte sie dich. Aber ich brauchte dich auch, hattest du daran auch nur mal einen einzigen Gedanken verschwendet? Nein, natürlich nicht, du warst ja die ganze Zeit nur mit deinem Kram beschäftigt. Und wofür das Ganze? Deinen Job hast du inzwischen geschmissen, und deine beste Freundin ist nach Australien ausgewandert.«

    »Wie bitte? René, das ist Blödsinn, und das weißt du auch. Sie macht nur ein Sabbatical für ein Jahr.«

    »Ja klar, sagt sie. Aber hey, lass uns doch nicht wieder streiten.« Renés Stimme wurde plötzlich versöhnlich. »Ich habe doch gesagt, dass es mir leidtut. Was soll ich denn noch tun, auf Knien zu dir in die Heide rutschen? Würde dir das gefallen? Komm schon Rose, gib deinem Herzen einen Ruck. Du fehlst mir. Ist es denn so schwierig, über deinen Schatten zu springen und mir zu verzeihen? Jeder von uns macht schließlich mal Fehler. Also versuch doch einfach auch mal Verständnis für meine Situation aufzubringen, anstatt immer nur selbstsüchtig deinen eigenen Standpunkt zu sehen, ja?«

    »Selbstsüchtig?«, echote Rose. »Du nennst mich selbstsüchtig? Mich? Du hattest doch was mit deiner … Kollegin angefangen und bist aus unserer Wohnung ausgezogen. Unsere Beziehung wäre schon lange am Ende, das waren doch deine Worte!«

    »Das habe ich so nie gesagt, da verwechselst du was. Ich war am Ende, ja, und den Grund dafür habe ich dir eben erklärt. Aber du steigerst dich da gerade wieder rein. Vielleicht solltest du dich wirklich erst mal beruhigen.«

    »René, ich …«

    »Nein, so emotional, wie du reagierst, kommen wir im Moment nicht weiter. Ich liebe dich immer noch, und ich mache mir echt Sorgen um dich, weißt du das, Rose? Bitte pass auf dich auf – ich melde mich die Tage noch mal. Okay? Bis dann!«

    Nachdem René aufgelegt hatte, behielt Rose das Handy noch eine Weile in der Hand und starrte blicklos durch das Fenster nach draußen.

    Alles war wieder da: der Schmerz, die Erinnerung. Renés Gesicht, als er Anfang Dezember nach Hause gekommen war, übermüdet und aufgedreht, und ihr eröffnet hatte, er müsse mit ihr reden. Die Vorahnung, die plötzlich zur Gewissheit wurde.

    Nicht nur eine Kollegin.

    Nicht nur ein Arbeitsessen.

    Und vor allem: Nicht erst seit ein paar Tagen.

    René, der sich zerknirscht gab. Vordergründig reumütig und voller Entschuldigungen. Er könne sie verstehen, natürlich. Überhaupt wäre sie, Rose, für einen Typen wie ihn viel zu schade, aber er käme nicht dagegen an, was solle er machen?

    Was hätte Rose dazu sagen sollen? Das ihm das nach fast zehn Jahren Beziehung reichlich spät einfiel? Das sich seine Ansprache komplett auswendig gelernt und wie aus einer drittklassigen Nachmittagsserie anhörte, seine Erklärungen halbherzig und schal, während ihr die Galle bitter in der Kehle brannte?

    Später hatte sich Rose oft gewünscht, sie hätte souveräner reagiert. Ihn mit irgendeiner toughen Antwort in die Schranken gewiesen und ihm damit gezeigt, was für ein erbärmlicher Feigling er doch war, sich hinter diesen abgedroschenen Phrasen zu verstecken. Dass er wenigstens jetzt den Anstand haben sollte, ehrlich zu sein und ihr kein Theater vorzuspielen. Und dass es ihm bei seinem Geständnis nicht mal ansatzweise um sie ging, sondern nur um sich selbst und das Gefühl, ›sauber‹ aus der ganzen Sache herauszukommen. Denn genau das hatte er von seinem Auftritt offenbar geglaubt. Dass er sie vorher schon wochenlang belogen und betrogen hatte, war für ihn damit gleich mit abgegolten – schließlich hatte er sich bei ihr entschuldigt. Wie einfach die Welt doch sein konnte, wenn man sie sich so zurechtlegte.

    Vor lauter Wut, Enttäuschung und dem Gefühl der Demütigung hatten ihr die Worte gefehlt. Vielleicht hätte sie stattdessen irgendwas zerschlagen sollen. Die kleine antike Vase beispielsweise, die er ihr vier Wochen zuvor noch geschenkt und über die sie sich so gefreut hatte, weil es sie an ihre verstorbene Großmutter erinnerte. Jugendstil. Und sicher nicht günstig – ein Unterpfand der Schuld, nur dass sie das damals noch nicht geahnt hatte. Natürlich nicht.

    Vielleicht hätte sie die Vase auch nicht nur zerschlagen, sondern gleich in seinen 85-Zoll LCD Monitor ballern sollen, den er sich erst kürzlich gegönnt hatte und auf den so stolz war. Unreif und kindisch wäre das gewesen, natürlich, aber auch absolut befreiend. Zumindest wäre es ihr danach besser gegangen.

    Doch Rose hatte nichts davon gemacht. Sie hatte ihn nur reden lassen und am Ende genickt. Nicht einmal laut war sie geworden, selbst nicht, als er längst die Wohnung verlassen hatte. Stattdessen war sie still und leise ins Badezimmer gegangen. Dort hatte sie sich ausgezogen und unter die Dusche gestellt, bis das Wasser aus der Therme nur noch kalt aus dem Brausekopf strömte, und sich dann ins Bett gelegt. Nackt, ohne sich abzutrocknen oder sich zuzudecken, es hatte keine Rolle mehr gespielt. Nichts hatte noch irgendeine Rolle gespielt.

    Inzwischen war das Ganze mehr als ein halbes Jahr her, und seit sie hierher in die Heide gezogen war, hatte sie es endlich auch geschafft, die Erinnerungen an ihre gescheiterte Beziehung zu verdrängen. So viel war passiert, seit Steffi ihr kurz nach der Trennung abends beim Rotwein mehr aus Spaß vorgeschlagen hatte, sie mit nach Australien zu begleiten. Alles hinschmeißen, ein Jahr lang auf Selbstfindungstrip gehen und immer nur dahin ziehen, wohin die Nase zeigt …

    Rose hatte ihre Freundin überrascht angesehen.

    Nein, nicht Australien, und hinschmeißen konnte sie ihren Job auch nicht so einfach. Dafür stand dort gerade viel zu viel auf dem Spiel. Aber plötzlich hatte sie wieder ein Bild vor ihren Augen, von blühendem Heidekraut, summenden Bienen, Sandwegen und reetgedeckten Häusern. Kindheitserinnerungen an unbeschwerte Ausflüge und glückliche Zeiten in der Lüneburger Heide, lange bevor ihre Großmutter starb und ihre Eltern sich trennten – Erinnerungen, die sie wie einen Schatz in ihrem Herzen trug.

    Als sie Steffi davon erzählte, sah diese sie verblüfft an.

    »Die Heide? Echt jetzt? Und warum höre ich das gerade zum ersten Mal?«

    Rose zuckte die Schultern. »René reagierte immer ziemlich genervt, wenn ich damit anfing. Er meinte, ich hätte das alles nachträglich verklärt, um Oma Gretes Tod und die Scheidung meiner Eltern zu kompensieren.«

    »Das hat er allen Ernstes gesagt?«

    Rose hob erneut die Schultern. »Er ist halt Realist.«

    »Er ist ein selbstgerechter, herzloser Arsch.«

    »Das auch.« Rose lächelte traurig. »Jedenfalls hatte ich in den letzten Jahren nicht mehr viel daran gedacht. Aber jetzt, wo du mir von Perth und Sydney vorgeschwärmt hast …«

    »Na klar, wenn ich an Sydney denke, fällt mir auch immer sofort die Lüneburger Heide ein. Die Assoziation ist ja geradezu klassisch«, gluckste Steffi. »Okay, dann muss ich in Down Under wohl notgedrungen auf dich verzichten. Aber nur unter der Bedingung, dass du mich zum Ende meines Sabbaticals höchstpersönlich vom Flughafen abholst. Und mich dann direkt zu deinem alten Heidehof bringst, um mich dort der Liebe deines Lebens vorzustellen. Und ich will Brautjungfer und Trauzeugin werden. Und natürlich auch Blumenkind!«

    Rose hatte ihr einen Vogel gezeigt und demonstrativ die Rotweinflasche gehoben, die Steffi inzwischen fast allein geleert hatte. Aber Steffi hatte nur gelacht.

    Am nächsten Morgen hatte Rose trotzdem einen dicken Schädel, aber immer noch die Bilder vor ihrem inneren Auge. Die weite Natur, mystische Moore, Bauernhöfe unter alten Eichen und im August die Heideblüte, deren gigantisches Blütenmeer den kargen Sandboden überdeckte und die Luft mit Honigduft tränkte.

    Auch in den nächsten Wochen hatte sie diese Bilder weiter mit sich herumgetragen, unschlüssig, wie sie mit der Sehnsucht umgehen sollte, die ihre Erinnerungen in ihr geweckt hatten. Steffi hatte ihr vorgeschlagen, dass sie vor ihrer Abreise noch mal zusammen in die Heide fahren sollten, doch das hatte Rose abgelehnt. Jetzt im Spätwinter war die Heide nur braun, kahl und trostlos – und damit kaum der richtige Zeitpunkt, um Pläne für einen verheißungsvollen Neuanfang zu schmieden. Und ihre Arbeit hatte sie hier in Hamburg ja auch noch.

    Ende März hatte sie Steffi schließlich nach Fuhlsbüttel zum Flughafen gebracht.

    Obwohl keine Ferien waren und die Woche gerade erst angefangen hatte, war es im Terminal voll und die Schlange vor dem Check-in von British Airways ziemlich lang.

    Steffi war, nachdem sie am Abend zuvor schon den Online-Check-in vergessen hatte, komplett überdreht und hüpfte während des Wartens aufgekratzt zwischen allen möglichen Themen hin und her. Zwischen ihren Witzeleien, dass der Winter in Perth vermutlich wärmer als der Sommer in Hamburg werden würde, nahm sie Rose aber noch das Versprechen ab, demnächst endlich in die Lüneburger Heide zu fahren.

    »Ich sehe das schon kommen. Ich bin in einem Jahr zurück, und du hockst immer noch in Winterhude in deiner sündteuren Wohnung. Erlaube dir doch endlich mal zu träumen, Rose! Warum suchst du dir nicht ein Häuschen in der Heide und fängst noch mal ganz von vorne an? Aussteigen ist doch voll im Trend, gerade jetzt, wo du frei und ungebunden bist!« Sie schob ihren Gepäckwagen mit den beiden Koffern ein winziges Stück weiter. Die Schlange vor dem Schalter bewegte sich nur langsam voran.

    Rose lachte auf. »Hey, ich arbeite immerhin hier in Hamburg. Träume hin oder her, das werde ich sicher nicht einfach so hinschmeißen.«

    Steffi wurde plötzlich ernst und sah sie skeptisch an. »Du glaubst immer noch, dass Tom dir die Stelle als stellvertretende Geschäftsleitung gibt, oder? Schätzchen, ich will dir ja nicht die Hoffnung rauben, aber er hält dich jetzt seit Monaten hin.«

    Rose lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich hatte vor dem Wochenende noch mal mit ihm gesprochen. Er meinte, spätestens Mitte dieser Woche würde die Entscheidung fallen. Das Designbüro Meckelbach hat inzwischen über zwanzig Mitarbeiter, da kann das schon seine Zeit dauern.«

    Steffi seufzte. »Gut, musst du wissen. Wobei ich immer noch nicht verstehe, warum du ausgerechnet in einem Job, den du eigentlich nie machen wolltest, die Karriereleiter hochklettern willst.«

    »Was soll ich denn sonst machen? Ich kann doch nichts anderes«, witzelte Rose. »Außerdem arbeite ich seit über einem Jahr auf diese Stelle hin, von meinen Überstunden ganz zu schweigen. Tom wäre ein echter Schuft, wenn er mir den Job jetzt nicht geben würde.« Und für irgendwas musste es doch auch gut gewesen sein, dachte Rose, als sie an die Vorwürfe dachte, die ihr René deswegen gemacht hatte. Aber das sprach sie nicht laut aus.

    Ihre beste Freundin schien trotzdem nicht überzeugt zu sein. »Bilanzen und die ganze Betriebswirtschaft liegen dir doch gar nicht. Warum machst du nicht lieber wieder was im zeichnerischen Bereich? Du kannst so wunderbare Illustrationen erstellen!«

    Rose zuckte die Achseln. »Da gibt’s aber so gut wie keine offenen Stellen, das weißt du. Was im Umkehrschluss bedeutet, dass ich mich selbstständig machen müsste, mit allen Risiken und Unwägbarkeiten, die so eine Entscheidung mit sich bringt. Mal ehrlich, welchen Grund sollte ich haben, dafür meinen gut bezahlten Job aufzugeben?«

    Steffi sah sie mit gerunzelter Stirn an. »Interessante Frage. Zufriedenheit? Berufliche Erfüllung? So unwichtige Dinge halt.«

    Rose hatte daraufhin nur gelacht und gesagt, dass ihr das kaum den Kühlschrank füllen würde. Anschließend hatten sie das Thema gewechselt und über die Rundreise gesprochen, die Steffi gleich zu Anfang unternehmen wollte. Die letzten Minuten verstrichen viel zu schnell, und Rose musste ihre Tränen zurückhalten, als sie ihre beste Freundin ein letztes Mal in den Arm nahm, bevor Steffi durch die Sicherheitskontrolle in Richtung der Gates verschwand.

    Zwei Tage später hatte sich Rose vor der Arbeit sorgfältig frisiert und geschminkt. Dazu das anthrazitfarbene Kostüm, eins ihrer Lieblingsstücke. Sonst reichten ihr im Büro Jeans und Bluse – doch dies würde ein besonderer Tag werden, das hatte sie im Gefühl. Nicht nur, dass der Deal mit VegChocolate Dreams kurz vor dem Abschluss stand, auf den sie seit Monaten hingearbeitet hatte, heute war auch Mittwoch und damit Mitarbeiterkonferenz.

    Beschwingt ging Rose ihren täglichen Weg in Richtung Goldbekkanal, wo das Designbüro Meckelbach in einem Neubau mit spiegelnden Fensterfronten untergebracht war. Als sie das Büro betrat, sah sie Tom hinter seinem Schreibtisch eifrig gestikulierend telefonieren. Er war Mitte Dreißig, also in ihrem Alter, und Mediendesigner mit ganzem Herzen. Aus dem ehemaligen Grafikbüro seines Vaters, einer in die Jahre gekommenen Klitsche in Eppendorf, hatte er nach dem Umzug nach Winterhude ein florierendes Unternehmen aufgebaut, das inzwischen auch internationale Aufträge an Land zog. So wie der von VegChocolate Dreams, die sich auf vegane Pralinen und andere Süßwaren spezialisiert hatten und das komplette Marketing plus Corporate Design gestaltet haben wollten. Das Unternehmen selbst war in Hamburg ansässig, doch hinter dem Ganzen stand ein großer internationaler Süßwarenhersteller – und so war von Anfang an klar gewesen, dass hier keine halben Sachen gemacht werden durften.

    Rose lächelte stolz. Ein verdammt großer Fisch, so hatte es Tom genannt. Das traf es genau – und sie, Rose, war maßgeblich daran beteiligt gewesen, diesen Auftrag an Land zu ziehen. Im Vorbeigehen winkte sie Tom zu. Er erwiderte den Gruß abwesend, ganz auf sein Telefonat konzentriert. Es schien wirklich wichtig zu sein – aber okay, Tom würde bestimmt noch Zeit finden, um vor der Konferenz mit ihr zu reden. Davon abgesehen war es auch noch früh; außer ihr und Tom waren bisher nur Toms Assistentin Magret, Frank und die neue Kollegin Bella im Büro. Bis zur Konferenz um elf waren es immerhin noch drei Stunden. Und es war ja nicht so, dass es bis dahin nicht noch einiges zu tun gab, wie sie sich selbst zur Ordnung rief, während ihr Rechner hochfuhr.

    Als sie sich jedoch kurz vor elf auf den Weg in den ersten Stock machte, hatte ihre Vorfreude schon einen Dämpfer erhalten. Tom war bis eben am Telefonieren gewesen, es hatte sich keine freie Minute gefunden, um mit ihm noch vor der Konferenz zu sprechen. Aber gut, vermutlich waren es neue Auftraggeber, sagte sich Rose. Das ging natürlich vor.

    Oben im Konferenzraum hatte Magret bereits alles vorbereitet. Getränke und Gebäck standen auf dem langen Tisch aus hellem Ahornholz, der Beamer war warmgelaufen und projizierte das Meckelbach-Logo auf die Leinwand. Nach und nach trudelten jetzt auch die anderen Kollegen ein und setzten sich auf ihre Plätze. Der Einzige, der immer noch fehlte, war Tom. Rose spürte, wie ihre Nervosität weiter anstieg.

    Als Tom schließlich mit zehnminütiger Verspätung in den Raum trat, wurde er von einem jungen, sympathisch aussehenden Mann in Jeans und Cashmere-Pulli begleitet.

    Jemand von VegChocolate? Doch bevor Rose noch weiter darüber nachdenken konnte, ergriff Tom das Wort.

    »Liebe Kollegen, liebe Freunde, ich freue mich, euch heute gleich zwei großartige Mitteilungen machen zu können. Zum einen habe ich eben erfahren, dass wir den Auftrag von VegChocolate Dreams jetzt definitiv bekommen werden.« Er wartete kurz ab, bis der Beifall und die zustimmenden Rufe wieder abgeklungen waren. »Und zum anderen habe ich die große Freude, euch heute unseren neuen stellvertretenden Geschäftsleiter Michael Neuhaus vorzustellen.«

    Rose erstarrte. Auch die anderen sahen überrascht aus. Keiner sagte ein Wort, bis Tom wieder das Wort ergriff.

    »Allen von Euch ist die Werbeagentur Wertlieb mit Sicherheit ein Begriff, die von Michaels Vater schon in dritter Generation geführt wird. Michael hat sein Handwerk also sozusagen von der Pike auf gelernt«, Tom lachte kurz über seine Anspielung auf das Logo der Wertliebschen Agentur, »und hatte bereits herausragende Erfolge im Bereich Marketing sowie mehrere Werbepreise gewonnen. Ich bin mir sicher, dass er unser Team hervorragend ergänzen wird, genauso wie ich weiß, dass er mit offenen Armen in unsere kleine Familie aufgenommen wird. Michael, du möchtest doch sicher auch ein paar Worte sagen?«

    »Gern, Tom. Zuerst einmal möchte ich mich natürlich dafür bedanken …«

    Während Michael weitersprach, wurde Rose mit voller Wucht bewusst, was ihnen gerade mitgeteilt worden war. Das Designbüro Meckelbach hatte einen neuen stellvertretenden Geschäftsleiter.

    Und das war nicht sie.

    Die ganze Arbeit, die unzähligen Überstunden der letzten Monate. Dazu die Vorwürfe von René, sein Betrug und die Trennung. Alles für nichts.

    »… jede Unterstützung, die du brauchst«, hatte Tom das Wort inzwischen wieder übernommen. »Gerade der Deal mit VegChocolate Dreams ist ziemlich umfangreich, aber Rose Hermanns wird dir da zu Anfang sicher gern Schützenhilfe leisten. Nicht wahr, Rose?«

    Während die Gedanken noch in ihrem Kopf durcheinanderwirbelten, hatten plötzlich alle zu ihr herübergesehen. Rose war nicht in der Lage gewesen zu antworten. Stattdessen hatte sie Toms Blick nur kurz erwidert, war dann aufgestanden und hatte den Konferenzraum und das Büro ohne ein weiteres Wort verlassen.

    Auch zurück in ihrer Wohnung konnte sie immer noch keinen klaren Gedanken fassen. Also hatte sie nur das Nötigste zusammengepackt, alles in ihren kleinen blauen VW Up geladen und war dann in Richtung Undeloh losgefahren, um sich dort ein Hotel zu suchen, in dem sie in Ruhe nachdenken konnte.

    Als sie abends nach einem langen Spaziergang durch die spätwinterlich-triste Landschaft der Lüneburger Heide wieder im Hotel auf ihrem Bett saß, klingelte das Handy. Auch vorher hatte sie schon mehrere Anrufe gehabt, alles Nummern aus dem Büro, die sie jedes Mal weggedrückt hatte. Dieses Mal war es allerdings die private Nummer eines Kollegen.

    »Hermanns?«

    »Mensch Rose, endlich erreiche ich dich. Weißt du eigentlich, was hier los war? Ich hatte mir schon Sorgen um dich gemacht!«

    »Das ist lieb, Hannes, aber bei mir ist alles okay. Ich war vorher nur nicht drangegangen, weil ich nicht wusste, ob sich Tom nicht den nächstbesten Apparat geschnappt hat. Und mit dem wollte ich heute ganz bestimmt nicht mehr sprechen.«

    »Tom hatte es tatsächlich auch mehrmals bei dir probiert. Er ist immer noch verdammt sauer nach deinem Auftritt heute Vormittag.«

    »Nicht halb so sauer wie ich, Hannes, da wette ich mit dir.«

    Ein Seufzen erklang am anderen Ende der Leitung. »Ach min Deern, ich kann dich ja verstehen. Aber glaubst du wirklich, dass das klug war? So wie heute habe ich Tom noch nie erlebt. Kurz vor Feierabend hat er Magret vor versammelter Mannschaft angewiesen, deine Kündigung aufzusetzen. Fristlos. Du solltest dir bis morgen gut überlegen, was du ihm sagen willst.«

    »Das weiß ich jetzt schon, Hannes. Nämlich gar nichts. Ich werde nicht zurückkommen, weder morgen noch sonst irgendwann.«

    »Toms Entscheidung hat dich echt hart getroffen, oder?«

    »Tja. Schwer nachvollziehbar, oder?«, erwiderte Rose sarkastisch. »Gut sechshundert Überstunden, und noch fast alle Urlaubstage vom letzten Jahr offen. Für meinen Exfreund war das übrigens der Trennungsgrund. Und wofür das alles? Damit ich unserem neuen stellvertretenden Geschäftsleiter Schützenhilfe leisten darf – und wenn ich ganz artig bin, darf ich ihm bestimmt auch Kaffee an den Schreibtisch bringen!«

    Am anderen Ende der Leitung war ein verhaltenes Räuspern zu hören. »Ich kann dich ja verstehen, Rose. Und unter uns: Toms Entscheidung ist bei den meisten Kollegen nicht auf Wohlwollen gestoßen.«

    »Oh, Wohlwollen! Heißt das, dass jetzt alle Kollegen die Arbeit niederlegen, um sich mit mir zu solidarisieren?«

    »Nein, das natürlich nicht.«

    »Natürlich nicht«, echote Rose. »Schließlich will sich’s keiner mit dem Boss verscherzen. Ist ja jeder von uns ersetzbar, wie wir heute erfahren durften. Aber weißt du was, Hannes? Ich habe trotzdem keinen Bock mehr, verarscht zu werden. Und genau das ist passiert: Ich bin verarscht worden, und das seit Monaten. Und zwar nach Strich und Faden.«

    Hannes seufzte wieder.

    »Dem kann ich kaum widersprechen. Aber wie soll’s jetzt weitergehen?«

    »Im Büro? Keine Ahnung, das ist nicht mehr mein Problem. Soll sich doch der neue stellvertretende Geschäftsführer um den Deal mit VegChocolate Dreams kümmern. Das Einzige, was ich vom Designbüro Meckelbach noch erwarte, ist die Auszahlung meiner Urlaubstage und der Überstunden. Und zwar bis auf den letzten Cent, das kannst du Tom gern von mir ausrichten.«

    »Ach, min Deern …« Hannes Stimme klang jetzt resigniert. »Das werde ich Tom natürlich weitergeben, kein Thema. Aber was ist mir dir? Hast du schon einen neuen Job? Dein Abgang heute wird sich ziemlich schnell rumsprechen, das wird dir die Suche nicht gerade erleichtern.«

    »Nein, einen neuen Job habe ich noch nicht. Aber einen Plan.«

    »Und der wäre?«

    »Alles auf Anfang«, hatte Rose geantwortet, und zum ersten Mal seit dem Vormittag wieder gelächelt. »Und den ersten Schritt habe ich bereits gemacht.«

    Gleich am nächsten Morgen hatte sie ihren Aufenthalt im Hotel Zur Dorfeiche von zwei Übernachtungen auf eine Woche verlängert. Glücklicherweise war das problemlos möglich gewesen – Ostern war erst in zwei Wochen, und bislang gab es nur eine Handvoll Gäste im Hotel, sodass sie sogar ihr Zimmer behalten konnte.

    In den kommenden Tagen nutzte sie die Ruhe und Einsamkeit, um stundenlange Spaziergänge durch die Heide zu machen. Das sanft gewellte Radenbachtal bei Undeloh, der Wilseder Berg, das winzige Heidedorf Wilsede, das mit seinen reetgedeckten Fachwerkhöfen und den wenigen Einwohnern im Grunde ein halbes Museumsdorf war – über allem schien noch die Stille des Winters zu liegen.

    Sobald aber die Sonne mal hinter den dichten Wolken hervorlugte, war hoffnungsvolle Erwartung zu spüren: Das Versprechen auf wärmere Tage, auf frisches Grün an Sträuchern und Bäumen und auf neues Leben, das längst unter dem kargen, braunen Heidekraut darauf wartete, wieder ans Licht zu kommen.

    Bei einem ihrer Spaziergänge kam sie einmal mehr an einem der reetgedeckten Schafställe vorbei, die für diese Landschaft typisch waren. Doch während die anderen Ställe alle leer und verlassen gewirkt hatten, klang aus diesem lautes Mähen und Blöken, das schon von Weitem zu hören war.

    Der Schäfer stand gerade draußen, als sie den Stall erreichte, und spülte vor dem großen, halbgeöffneten Tor Bottiche aus. Ein freundlich aussehender Mann Mitte fünfzig, mit wettergegerbtem Gesicht, grauem Rauschebart und dem typischen Lodenmantel der Schäfer, der ihr lächelnd zunickte, als sie ihn grüßte.

    Rose war entzückt. Die Schäfer, die mit ihren Schnuckenherden über die weiten Heideflächen zogen, waren untrennbar mit den Erinnerungen ihrer Kindheit verbunden, doch damals hatte sie die Tiere immer nur aus einiger Entfernung beobachten dürfen. Daran, dass Heidschnucken so laut waren, konnte sie sich allerdings nicht mehr erinnern. Als sie den Schäfer danach fragte, musste sie fast schreien, um sich verständlich zu machen.

    Während der Schäfer sich mit einem zerschlissenen Stück Stoff die Hände abtrocknete, erklärte er ihr, dass Heidschnucken entgegen der Erwartung der meisten Menschen tatsächlich keine leisen Tiere seien. Eine Schnuckenherde konnte man üblicherweise schon aus mehreren hundert Metern hören. Und jetzt zur Lämmerzeit ginge es natürlich besonders lebhaft zu.

    Lämmer!

    Als der Schäfer Roses sehnsuchtsvollen Blick bemerkte, stahl sich ein Schmunzeln in sein Gesicht. Dann drehte er sich zum Stall um und bedeutete ihr, ihm zu folgen.

    Drinnen war es sogar noch lauter als draußen, denn zwischen dem dunklen Blöken der erwachsenen Tiere mischten sich jetzt unzählige helle Stimmchen. Es dauerte einen Moment, bis sich Roses Augen an das dämmerige Licht, das durch das halboffene Tor und die kleinen Seitenfenster ins Innere des Stalls fiel, gewöhnt hatten. Doch dann sah sie sie: Dutzende – nein, bestimmt mehr als hundert kleine, wollige Pompons mit großen, schwarzen Knopfaugen, die zwischen den größeren Tieren herumwuselten, kläglich blökend, sobald sie ihre Mütter aus den Augen verloren, dann plötzlich wieder ganz still und mit eifrig wackelndem Schwänzchen, sobald sie sich erneut zwischen die Hinterbeine ihrer Mama werfen konnten, um auf den Schreck die nächste Portion Milch zu trinken.

    Rose war wie verzaubert. So viele Lämmer! Einige von ihnen waren schon älter und größer, andere dagegen noch ganz zart und wackelig auf den Beinen. Und zwei waren offenbar gerade erst auf die Welt gekommen; ihre Mütter kümmerten sich bereits liebevoll um die nassen Fellbündel, obwohl die Nachgeburt noch nicht ganz abgegangen war. Die Geburt neuen Lebens, ein Wunder – und gleichzeitig doch die natürlichste Sache der Welt.

    Während Rose ganz verzückt die wuselnden, felligen Leiber um sich herum bestaunte, war der Schäfer wieder neben ihr aufgetaucht, in den Händen zwei Milchflaschen mit Sauger. Nicht alle Mütter hätten genug Milch, erklärte er. Ob sie vielleicht helfen mochte, wenn sie schon mal hier war?

    Rose hatte ihn angestrahlt und genickt. Und als sie einem der Wollknäuel, das ihr der Schäfer gezeigt hatte, die Flasche hinhielt und auf das eifrig wackelnde Schwänzchen sah, fühlte sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder vollkommen glücklich.

    Der Frühling hatte begonnen.

    Kapitel 2

    Während Rose mit dem Auto ins drei Orte weiter gelegene Handeloh zum Supermarkt fuhr, war sie in Gedanken noch immer bei dem Telefonat, dass sie vorhin mit René geführt hatte.

    Das Gespräch hatte sie mehr aufgewühlt, als sie sich eingestehen mochte, und je länger sie darüber nachdachte, umso schlimmer wurde es. Inzwischen war sie völlig verunsichert. Hatte sie damals wirklich überreagiert, als sie ihr altes Leben komplett hingeschmissen hatte? Sie dachte an ihre kleine Kate, die sie noch während ihres Aufenthalts im Hotel durch eine Anzeige im Wochenblatt entdeckt hatte, und das heimelige Gefühl von Geborgenheit bei ihrem Einzug.

    Sicher, es war damals alles sehr schnell gegangen. Auch für ihre Wohnung in Hamburg hatte sich innerhalb kürzester Zeit eine Nachmieterin gefunden, eine Frau mittleren Alters, die sich selbst erst von ihrem Mann getrennt hatte und am liebsten sofort eingezogen wäre. Nachdem sie sich mit dem Vermieter geeinigt hatten, blieben Rose gerade noch drei Wochen, um alles für ihren Umzug in die Heide zu organisieren. Sie hatte mehr als neun Jahre in dieser Wohnung gelebt, doch als sie schließlich die Schlüssel übergab, spürte sie keinerlei Wehmut, sondern nur Erleichterung. Alles hatte sich auf wunderbare Weise gefügt und absolut richtig angefühlt – bis zu dem Moment, als vorhin das Telefon klingelte.

    Rose seufzte, während sie auf der Landstraße durch den Wald und die Heideflächen fuhr, die zwischen Wesel und Inzmühlen lagen. Jetzt im Frühsommer war die Landschaft längst in ihr grünes Gewand gekleidet, doch zum ersten Mal seit ihrem Einzug hatte Rose keinen Blick für die Schönheit der Natur um sie herum.

    Hatte René womöglich recht? Bis eben war Roses Welt einfach gewesen: Er hatte sie betrogen und verlassen, Punkt. Das einzusehen war zwar schmerzhaft gewesen, aber irgendwann hatte sie es akzeptiert. Er war halt ein mieser Dreckskerl, ein Bastard, eine eierlose Kröte, wie Steffi ihn genannt hatte. Aber zumindest war die Schuldfrage eindeutig geklärt.

    Doch jetzt nach ihrem Gespräch … Rose spürte, wie sich das altbekannte Gefühl der Unsicherheit wieder in ihr breitmachte. So wie René es darstellte, trug sie einen mindestens ebenso großen Anteil an der Trennung. Ob sie, Rose, sich jemals gefragt hätte, wie verzweifelt er damals gewesen sein musste?

    Nein, das hatte sie sich tatsächlich nicht gefragt. Sicher, sie hatten sich mehr als früher gestritten. Wegen ihres Jobs, vor allem aber wegen irgendwelcher Belanglosigkeiten. Ihrer neuen Lieblingsbluse, die er geschmacklos fand. Oder einer neuen Bekannten, die er nicht mochte. Sinnlose Streitigkeiten, die meist in persönliche Kränkungen ausarteten und damit endeten, dass Rose mit erstickter Stimme und verheulten Augen das Zimmer verließ, weil sie sich nicht mehr anders zu helfen wusste. Natürlich hatte sie da verletzt und emotional reagiert – aber nicht hysterisch, wie René es ihr vorwarf. Oder doch?

    Inzwischen hatte Rose Handeloh erreicht. Der Ort war nicht übermäßig groß, vielleicht zwei- bis dreitausend Einwohner, aber es war alles vorhanden, was man zum täglichen Leben brauchte. Für alles andere gab es die Heidebahn, den Erixx, mit dem man innerhalb einer knappen Stunde in Hamburg sein konnte, ohne sich mit dem Stadtverkehr oder den teuren Parkhäusern herumschlagen zu müssen.

    Wenn man es denn wollte. Rose wollte es nicht, zumindest nicht in der nächsten Zeit, und schon gar nicht, nachdem ihre Erinnerungen gerade erst wieder so schmerzhaft aufgewühlt worden waren.

    Als sie auf den Parkplatz des kleinen Supermarktes einbog, wanderten ihre Gedanken zurück zu René. Es war schon wieder aus zwischen ihm und seiner Kollegin, und es ging ihm, wie er behauptet hatte, dreckiger als je zuvor.

    Rose hörte in sich hinein. Freute sie sich darüber?

    Nein.

    Das Einzige, was sie spürte, war Traurigkeit. Renés neue Beziehung war schon wieder zerbrochen, gerade mal sechs Monate nach ihrer eigenen Trennung. Ein Strohfeuer, mehr nicht – und dafür hatte er alles zerstört, was ihm und Rose wichtig und wertvoll gewesen war. Alles, was sie sich in beinahe zehn Jahren zusammen aufgebaut hatten.

    Alles für nichts.

    Genauso wie ihr monatelanger Einsatz für ihren Job. Dort hatte Tom allerdings noch allen Ernstes versucht, sie im Nachhinein zu erpressen. Falls sie auf die Auszahlung ihrer Überstunden bestehen sollte, würde sich dies nicht nur in ihrem Arbeitszeugnis niederschlagen … Rose hatte ihm nur geantwortet, dass er das gern mit ihrem Anwalt klären könne, wenn das Geld nicht vollständig bis zum Ende des Monats auf ihrem Konto wäre. Dann hatte sie aufgelegt und seine Nummer gesperrt. Das Spielchen konnten auch zwei Leute spielen – und tatsächlich war das Geld, eine recht stattliche Summe, zwei Wochen später auf ihrem Konto eingegangen. Das Zeugnis war allerdings wirklich nur mäßig ausgefallen, gerade noch gut genug, dass sie nicht rechtlich dagegen vorgehen konnte. Aber geschenkt – inzwischen wusste sowieso jeder in der Branche, dass Tom und sie sich nicht gütlich getrennt hatten.

    Ein Mistkerl mieser als der andere!

    Aber okay, ohne das unschöne Vorspiel in den letzten Monaten wäre sie jetzt weder hier in der Heide, noch hätte sie ihre gemütliche Kate am Wald gefunden. So betrachtet hatte die Sache also eindeutig was Gutes gehabt. Rose lächelte, als sie an ihren Garten dachte, in dem der Lavendel und die anderen Kräuter noch darauf warteten, eingepflanzt zu werden. Die hatte sie nach dem Telefonat vorhin völlig vergessen. Genauso wie die Vorhänge aus ungebleichtem Leinen, die heute früh mit der Post gekommen waren. Der Karton stand immer noch ungeöffnet auf dem Wohnzimmertisch. Die würde sie bei ihrer Rückkehr gleich aufhängen, noch bevor sie wieder in den Garten ging. Obwohl – vielleicht sollte sie die weißen Wände ihres Schlafzimmers vorher in einem hellen Cremeton streichen? Das würde zusammen mit den dunklen Dielenbrettern und ihren Möbeln bestimmt wunderbar aussehen, gemütlich und gleichzeitig zeitlos …

    Zufrieden mit ihrem Plan stellte Rose den Motor aus. Inzwischen wohnte sie schon seit zwei Monaten in der Kate – ihrer Kate, wie sie sie längst nannte – aber es gab immer noch genug zu tun. Außerdem musste sie sich auch langsam mal Gedanken darüber machen, wie sie zukünftig ihren Lebensunterhalt bestreiten wollte, denn weder ihr Erspartes, noch das Geld, das Tom ihr überwiesen hatte, würden ewig reichen.

    Was sie zu einem weiteren Problem brachte, denn auf dem Land waren die Jobs für Mediendesigner noch deutlich spärlicher gesät als in Hamburg. Soweit sie wusste, arbeiteten die meisten von ihnen hier selbstständig – doch dafür brauchte man wiederum Zeit, um sich einen eigenen Kundenstamm aufzubauen. Ob sie dafür vielleicht ihre alten Kontakte aus dem Designbüro nutzen konnte?

    Während sie ihren Weidenkorb in einen der bereitstehenden Einkaufswagen stellte und zum Eingang ging, prüfte sie in Gedanken die Liste der Kunden durch, mit denen sie persönlich zusammengearbeitet hatte. Viele kamen dafür nicht infrage; gerade größere Firmen nahmen für ihre Aufträge eher eine Agentur in Anspruch, bei der sie alles aus einer Hand bis hin zum fertigen Marketing bekommen konnten. Und um ehrlich zu sein war das auch nicht das Klientel, mit dem sie zukünftig zusammenarbeiten wollte. Eher mit regionalen Firmen, Buchverlagen oder anderen Medienunternehmen. Kunden, bei denen sie auch ihr Talent für Zeichnungen und Illustrationen mit einbringen konnte, das hatte sie in den letzten Jahren leider wirklich vernachlässigt.

    Doch dazu musste sie erst mal an neue Kontakte kommen. Und sie bräuchte vorab ein entsprechendes Portfolio, überlegte sie, während sie ihren Einkaufswagen zwischen den Gängen entlangschob und nach und nach alles zusammensuchte, was sie benötigte.

    Nicht zum ersten Mal fiel ihr dabei auf, dass der kleine Laden erstaunlich gut sortiert war – es gab kaum etwas, was sich nicht finden ließ, zumindest was den täglichen Bedarf betraf. Selbst ihren Kokosnuss-Joghurt gab es im Kühlregal.

    Rose musterte ihren Einkaufswagen: Obst und frisches Brot, Eisbergsalat, Tomaten und Ziegenkäse für heute Abend, dazu der Joghurt für ihr Müsli morgen früh und zwei Flaschen Milch. Doch, damit hatte sie alles. Trotzdem hielt sie noch einmal an einem kleinen Tisch an, auf dem regionale Produkte liebevoll zwischen Töpfen mit Heidekraut arrangiert lagen. Heidehonig, Honigbonbons und sogar eine Backmischung für Buchweizentorte waren dort ausgelegt, dazu drei Sorten Schnaps, falls die Dosenwurst von der Heidschnucke zu schwer im Magen liegen sollte. Außerdem Wacholderbeeren zum Kochen, Gewürzmischungen aus einer ›Kräuterey‹ und Früchtetees mit Heideblüten. Geschäftstüchtig waren die Heidjer ja, das musste man ihnen lassen, dachte Rose schmunzelnd. Ihr Blick blieb schließlich an einer der handgesiedeten Seifen hängen. Haarseife mit Avocado- und Mandelöl, dazu pürierte Kapuzinerkresse – das klang im Gegensatz zu den anderen Produkten richtig exotisch. Aber warum nicht? Seit ihrem Umzug ließ Rose ihre dunkelblonden, ehemals schulterlangen Haare wachsen. Warum also statt der Shampoos und Pflegemittelchen ihres Hamburger Figaros nicht mal was Neues ausprobieren? Die Buchweizentorte nahm sie sich zu einem späteren Zeitpunkt vor, aber zwei der Teemischungen wanderten ebenfalls in ihren Einkaufswagen.

    Auf dem Weg zur Kasse ließ sie sich dann noch von einer der dort ausliegenden Gartenzeitschriften verführen, in der etliche schöne Dekoideen abgebildet waren. Vielleicht die ersten Inspirationen für ihre Illustrationen? Die Rosenblüten und Hortensienzweige, ja, aber ein anderer Ausschnitt, und statt der Schleifendeko einige Schmetterlinge, die es hier in der Heide gab. Doch, das wäre schon mal ein guter Anfang: typische Szenen aus ihrer neuen Heimat …

    Beschwingt von ihrer ersten konkreten Idee stellte sie sich an die Kasse und begann, ihren Einkauf auf das Band zu packen. Jetzt, zur Mittagszeit, war es ziemlich ruhig im Laden. Ein weiterer Vorteil auf dem Dorf, ging es Rose nebenbei durch den Kopf. Es gab nicht nur genügend Parkplätze direkt vor jeder Tür, auch die Schlangen an den Supermarktkassen waren überschaubar. Genaugenommen bestand diese hier nur aus zwei Leuten, nämlich ihr selbst und dem Mann vor ihr, der gerade sein Brot, abgepackten Käse und eine Flasche Cola aufs Band gelegt hatte.

    Rose musterte ihn beiläufig. Helle Haare, Ende Dreißig, Typ unauffällig. Feste Schuhe, schwarze Arbeitshose und ein dunkelblaues T-Shirt ohne Aufdruck. Die verwuschelten Haare gaben ihm etwas jungenhaftes, doch er schien sich darüber keine Gedanken zu machen, genauso wenig wie über die beige-grauen Halmstückchen, die überall an seinen Klamotten hingen.

    Stroh? Rose wusste es nicht, und es war im Grunde auch egal. Während er bei der jungen Frau an der Kasse bezahlte, war sie in Gedanken längst wieder bei den Zeichnungen, mit denen sie gleich heute Abend beginnen wollte.

    »Das macht dann dreißig Euro und neun Cent.« Die Kassiererin lächelte Rose

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